Streifzug
Was bedeutet Feminismus in Russland?

Was bedeutet Feminismus in Russland?
Foto-Credits: Anna Narinskaja, svoboda.org

Die Journalistin und Literaturkritikerin Anna Narinskaja gibt einen kurzen Überblick über die Geschichte der feministischen Bewegung, um im Anschluss darzulegen, warum es diese so in Russland nicht gegeben hat – und bis heute nicht gibt.

Der Begriff feminist entstand in der englischen Sprache in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts und bezeichnete Frauen und Männer, die eine juristische und politische Gleichstellung der Geschlechter unterstützten. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Gedanke, den wir heute als „feministisch“ klassifizieren würden, in diesen Zeiten nicht bereits existierte oder langsam entwickelt worden wäre. Nehmen wir zum Beispiel meine – wenn man das so ausdrücken darf – „Lieblingsfeministin“ Aphra Ben: eine englische Schriftstellerin, Dramaturgin und Abenteurerin der Restaurationsepoche. Im Essay „Ein Zimmer für sich allein“, diesem hochbedeutenden Text über die Frau und die Literatur, oder genauer: die Frau und das Wort, beschreibt Virginia Woolf sie als eine der ersten Schriftstellerinnen, deren Stimme als etwas dezidiert Weibliches wahrgenommen und verstanden wurde.

Als Blütezeit des feministischen Gedankens werden das Ende der 60er, die 70er und der Beginn der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts gesehen. Eben zu diesem Zeitpunkt lösten sich die feministischen Diskussionen im Westen aus der ihnen aufgezwungenen marginalen Sackgasse und wurden als Debatten über den Zustand der Gesellschaft und der Gedanken im Allgemeinen wahrgenommen. Die Arbeiten aus dieser Zeit sind übrigens die ersten feministischen Theorietexte (und dabei spreche ich jetzt nicht über Auszüge von Kollontaj oder Krupskaja), die in unserem Land unter den, sagen wir, bildungsnahen Schichten populär wurden. Das hängt damit zusammen, dass mit einer Welle des Interesses für neue französische Philosophie, die in den 90ern viele erfasst hatte, mit Foucault und Baudrillard auch die Arbeiten von Julia Kristeva und ihre Überlegungen zur „männlichen Kontrolle über die Sprache“ zu uns gelangten.

Dieser Boom an feministischen Debatten Ende der sechziger Jahre führte dazu, dass sich eine Theorie des radikalen Feminismus herausbildete (oder eher: eine Mischung aus verschiedenen Theorien). Der radikale Feminismus betrachtet (und mäßigt) die Stellung der Frau nicht nur im gesellschaftlichen und politischen Leben, sondern auch in allen anderen Bereichen, einschließlich dem Intimleben. Eine der am weitesten verbreiteten Losungen des radikalen Feminismus, „Das Private ist politisch“, bringt die Konsequenzen hieraus ziemlich pragmatisch auf den Punkt. Die ganze Geschichte des in den USA so bedeutenden Phänomens sexual harassment (also die Überzeugung, dass sexuelle Belästigung existiert, und die Entscheidung, dass sie bestraft werden muss) ist eine Folge dessen, dass die Gesellschaft den Wert dieser Gedanken anerkannt hat.

„Radikal“ erscheint uns diese Ausformung des Feminismus besonders in der Wechselbeziehung zu zwei anderen feministischen Tendenzen, die sich bereits lange zuvor herausgebildet hatten: der liberalen und der marxistischen.

Der liberale Feminismus stützt sich auf die Forderung jedweder Gleichstellung innerhalb des gesellschaftlichen Lebens. Für mich ist der wichtigste Name dieses liberalen Ansatzes der eines Mannes: John Stuart Mill, eines bedeutenden Philosophen des 19. Jahrhunderts und Mitbegründers der Philosophie des Liberalismus. Für ihn ist die Freiheit der Frau ein Bestandteil des von ihm erarbeiteten Konzepts individueller Freiheit.

Karikatur von John Stuart Mill in der Zeitschrift Punch, 1867

1869 publizierte Mill die Arbeit „Die Hörigkeit der Frau“, in welcher er unterstrich, dass die hörige Grundeinstellung der Frau ein Relikt der Vergangenheit sei, und keine Folge des Fortschritts. Vielmehr: dass sie durch ihre „Einfrierung“ über Jahrhunderte hinweg diesen Fortschritt im Gegenteil ausbremse. Diese Arbeit schlug ein wie ein Sprengsatz und wurde zum Gegenstand bizarrer Diskussionen und Anfeindungen. Praktisch auf der Stelle übersetzte man sie in eine Vielzahl von Sprachen, darunter auch ins Russische. Die unangenehmen „Beschneidungen der Frau“ in der russischen Literatur dieser Zeit (und darunter fallen auch die Protagonisten aus Dostojewskis „Dämonen“, die 1871 publiziert wurden) lassen sich auf den Einfluss von Mill zurückführen.

Heute kann man die Forderungen des liberalen Feminismus innerhalb der Grenzen der sogenannten zivilisierten Gesellschaft – also in Europa und Nordamerika – als erfüllt ansehen. Ich habe diese offizielle Einschätzung hier in den Worten der bedeutendsten Denkerin der Bewegung wiedergegeben. Vor einigen Jahren erst kam diese – nämlich Julia Kristeva – im Bereich Nonfiction auf den Buchmarkt. Heute interessiert sich diese wunderbare gesetzte Dame, was den Kampf für Frauenrechte angeht, aber nur noch für die Dritte Welt – denn sie ist der festen Überzeugung, dass eine absolute Gleichstellung von Männern und Frauen in Europa bereits erreicht ist.

Marxistische Feministinnen würden zwar darauf antworten, dass uneingeschränkte Gleichstellung in einer Klassengesellschaft de facto nur für die Repräsentanten der mittleren Klasse bestehen kann – doch das ist heute schon kein besonders angesagtes Diskussionsthema mehr.

Alles bisher Dargestellte ist natürlich nur eine grobe Skizze, die wir als Grundlage für den Übergang zu uns selbst und zu unserem Lieblingsthema brauchen. Was ist eine Feministin in den Augen unserer, sagen wir, durchschnittlichen Mitbürger (und Mitbürgerinnen)? Eine Psychopathin, die jedem eine auf´s Maul haut, der ihr in den Mantel helfen oder die Tür für sie aufhalten will. Nach dem Motto: Das ist so´n Spleen von ihr. Na ja, und dann gibt es auch noch die Meinung – die selten laut ausgesprochen wird – dass solche Frauen entweder lesbisch sind oder in irgendeiner anderen Form im Bett rumzicken.

Die letzte Vermutung ist übrigens ein typisches Beispiel aus der Reihe „Ich hab´s zwar mal irgendwo läuten gehört, habe aber eigentlich keine Ahnung, worum es geht.“ Das erste Läuten erklang durch das unvorstellbar erfolgreiche Buch „Der weibliche Eunuch“ von Germaine Greer, das 1970 herauskam. Greers Argumentation lautete, dass die Sexualität der Frau in einer traditionellen Familie massiv unterdrückt wird, weil das Familienleben – einschließlich seiner intimen Seite – von Männern konstruiert wird. Infolgedessen wird die Rolle der Frau auf das Niveau eines Eunuchen reduziert. Dieses Buch, ein wahrer Bestseller, lag in Supermärkten zum Verkauf aus und wurde zum Teil der Popkultur. In dem großartigen Roman „Das Intimleben des Adrian Mole, 13 3/4 Jahre alt“ von Sue Townsend, der Anfang der 80er in Großbritannien auf den Markt kam (geschrieben ist es aus der Perspektive eines 14-jährigen Jungen, der in einem armen englischen Örtchen aufwächst), wird dargestellt, wie die Mutter des Helden das genannte Buch von Germaine Greer liest und dann völlig durchdreht: sie hört auf, sich die Nägel zu lackieren und sich die Beine zu rasieren und trägt keinen BH mehr. Und dann geht sie mit ihren unrasierten Beinen einkaufen, und das ganze Örtchen starrt sie entsetzt an.

Was aber bricht einem das Herz, wenn man dieses Werk aus unserer Perspektive liest? Dass es in der Sowjetunion einfach nichts Vergleichbares gegeben hat. Bei uns haben es die Frauen noch nicht einmal geschafft, wirklich („voll“, wie meine Kinder sagen würden) für ihre Rechte zu kämpfen. Nur die Frauen „mit Selbstbewusstsein“ haben es geschafft, sich weiter zu entwickeln, als es zur Revolution kam und ihnen in Form von Direktiven alles von höheren Stellen vorgeschrieben wurde. Im Prinzip passierte dann das, was immer mit Direktiven passiert. Sie wurden: а) nur formal erfüllt und b) ablehnend, oder noch im besten Fall ironisch betrachtet. Alexandra Kollontaj, die Verkörperung des sowjetischen Feminismus, wird übrigens bei uns und im Westen völlig unterschiedlich wahrgenommen. Im Westen ist sie eine wichtige Figur und die erste Frau, die Ministerin wurde und gesellschaftliche Gleichberechtigung durchsetzte – und das, wie eine große Zahl westlicher Experten meint, mit großem Erfolg. Und wir selbst? Was wissen wir schon über Kollontaj, außer, dass sie die „Theorie des Wasserglases“ entwickelt hat, die sexuelle Beziehungen jedem anderem physiologischen Akt gleichsetzte?

Eine andere beliebte (und allseits bekannte) sowjetische „feministische“ Losung ist der Lenin-Spruch „Jede Köchin sollte lernen, die Regierung zu lenken“. Der Statistik nach war die Sowjetunion in den 60er Jahren das Gebiet mit dem weltweit höchsten Anteil an Frauen in mittleren Verwaltungsstrukturen. Gemeint sind all diese Tanten mit ihren um den Kopf geschlungenen Zöpfen, die der Lyriker Alexander Galitsch als „Genossin Paramonowa“ beschrieb, und die in den Gebiets- und ausführenden Komitees der KPdSU saßen. Ihre Anwesenheit an diesen Stellen änderte natürlich in keinster Weise – jedenfalls nicht auf menschlichem Niveau – die Einschätzungen à la „dumme Pute“ oder die vollständige Ungleichheit innerhalb der Familie, sondern verstärkte sie vielleicht sogar noch.

Und wenn wir schon über die denkenden oder gar die Dissidenten-Schichten der Gesellschaft sprechen: dort gab es zwar die Idee eines Widerstands gegen den staatlichen Druck im Allgemeinen, doch über die Diskriminierung der Frau im Besonderen machte sich niemand großartige Gedanken.

Hier gibt es allerdings eine sehr interessante Nuance. Der Feminismus in all seinen Ausformungen impliziert auch eine Auflehnung gegen die konventionelle Religion. Jede Religion sieht es vor, dass die Frau den ihr zugewiesenen Platz kennt. Dieser muss nicht zwangsläufig untergeordnet sein, aber er ist zumindest speziell, und nicht gleichberechtigt. Doch in den 70ern und Anfang der 80er Jahre wandte sich die Mehrheit der Vertreter der Intelligenz – auch die Dissidenten, und darunter auch die jüdische Intelligenz – dennoch der Religion zu, die sie für ein Gegengift gegen alles Sowjetische hielten.

Eine geschlossene Haltung der Sowjetbürger zu diesem Thema zeigt sich in der Umsetzung des Films „Moskau glaubt den Tränen nicht“. Denn dort wird uns eine sehr einfache Tatsache vermittelt: Die Alte kann noch so viel Kohle verdienen – die Entscheidungen trifft aber bitte immer noch der Mann. Irgendwie witzig ist der Umstand, dass der Film 1980 herauskam, als in den USA der feministische Kampf gerade erst ausgebrochen war. Und dann bekam er auch noch einen Oskar – denn nach Ansicht vieler enthüllte er das Wesen des „Anderen“, oder einfacher gesagt: erzählte uns von der geheimnisvollen russischen Seele. Reagan zeigte man vor seinem Treffen mit Gorbatschow genau diesen Streifen, um ihm damit zu helfen, seinen Gesprächspartner auf der anderen Seite des Ozeans besser zu verstehen.

Die sowjetische Macht wurde abgelöst – das klingt jetzt abgedroschen, ist aber nicht ganz falsch – durch den Kapitalismus und den Kult des Reichtums. Und – was in unserem Fall viel wichtiger ist – durch einen Kult des Erfolgs. Und dieser Erfolg entwickelte sehr schnell Gender-Vorzeichen. Für den Mann nämlich bedeutete Erfolg, reich zu sein – und für die Frau, die Freundin von einem reichen Mann zu sein. Diese Konfiguration hat sich bis heute erhalten. Man könnte ein Experiment durchführen und das Publikum befragen, wer Dascha Schukowa ist. Ich versichere Ihnen: die Antwort wäre nicht „eine bedeutende Galeristin und Publizistin“, sondern „die Freundin von Abramowitsch“.

Im Westen sind die Zeiten eines offenen Kampfes für Frauenrechte praktisch vorbei.

Eine solche Meinung fühlt sich vertraut und angenehm an. Dementsprechend – um jemanden zufriedenzustellen oder um einen Vorteil daraus zu schlagen – funktioniert die gesamte Maschinerie der Pop-Propaganda. Und das mit einer aufrichtigen Offenheit: jeder Buchladen ist vollgestopft mit Titel à la „Wie man es schafft, einen Millionär zu heiraten“, „Der Weg in das Herz eines Mannes führt durch den Magen“; „Leg dir ein Image zu, das den Männern gefällt“. Und das alles mit einem kleinen postmodernen Touch, so wie es in der Serie „Schnellkurs für ein glückliches Leben“ umgesetzt wurde. In diesem Sinne ist es interessant, einen Vergleich mit dem amerikanischen Vorbild anzustellen: der Serie „Sex in the City“. Dort werden zwar auch vier Damen portraitiert, die nichts als Männer und Sex im Kopf haben, aber gleichzeitig sind sie eben sehr erfolgreiche Karrierefrauen und haben etwas vorzuzeigen: in ihrem Leben gibt es durchaus auch andere Schwerpunkte. Die Filmemacherin Gai Germanika verpflanzt ihre Protagonistinnen dagegen in ein ranziges Büro. Sie kaufen sich irgendetwas in der Fußgängerunterführung und führen im Allgemeinen ein furchtbares Leben, wobei sie sich über nichts anderes Gedanken machen als über ihre Beziehungen mit Männern.

Heute, müsste man meinen, könnten viele feministische Werte aus den westlichen Fernsehproduktionen zu uns hinüberschwappen, zum Beispiel aus den Serien, die gerade alle so sehr in den Bann ziehen. Aber! Wie ich schon sagte, ist im Westen die Zeit eines direkten Kampfes der Frauen für ihre Rechte grundsätzlich abgeschlossen – was sich in Form von Ausnahmeerfolgen auch in diesem Feld zeigt. Und die Mehrzahl der Serien spiegelt diese Situation wieder. Wenn wir uns die fortschrittlicheren Filme vornehmen – zum Beispiel die dänische Serie „Das Verbrechen“ (und ihr amerikanisches Remake „The Killing“) oder die dänisch-schwedische Produktion „Die Brücke – Transit in den Tod“, so werden diese als ein ausschließlich feministisches Fabrikat gesehen, weil sie uns weibliche Detektive als Superheldinnen präsentieren. Wenn früher die Frauen in allen möglichen Filmen ihren männlichen Kollegen beweisen mussten, dass sie nicht schlechter sind – und das machte eines der Spannungsfelder der Handlung aus – dann gibt es so etwas hier schon nicht mehr, und wird es das auch nicht mehr geben. Die Überlegenheit der Frauen wird auch durch ihren Titel ausgedrückt – doch dem muss man gar nicht weiter nachgehen, da gibt es wichtigere Baustellen. Bei „The Killing“ – in der ersten Staffel, die ich persönlich für eine der größten Leistungen des Films überhaupt halte – findet sogar eine gewisse Rückkehr zum Weiblichen statt. Die Fehler, die sich die Heldin erlaubt, und die Eingebungen, die sie hat, hängen oft gerade mit der Tatsache zusammen, dass sie eine Frau ist. Es handelt sich gewissermaßen um eine unmittelbare Rehabilitierung der Wortverbindung „weibliche Logik“, die im Westen noch bis vor kurzem als sexistisch gegolten hätte.

Das heißt, wir haben also die Zeiten „fremder“ feministischer Aussagen übersprungen – solche wie zum Beispiel im Film „Thelma & Louise“ (was nicht heißen will, dass wir diesen Film nicht gesehen haben, sondern nur, dass wir ihn nicht als einen Film über das „Weibliche“ verstanden haben) und sind gleich in die Zeiten weit komplexerer Aussagen eingestiegen. Und diese sind für uns, die wir keine feministische Vorgeschichte haben, weitaus schwieriger zu entschlüsseln.

Wenn wir uns fragen, was heute bei uns in Punkto Feminismus los ist, taugt Pussy Riot als einzig anschauliches Beispiel. Die Aktivistinnen dieser Gruppe bezeichnen sich als Feministinnen, aber weiß irgendjemand etwas über den feministischen Hintergrund von Pussy Riot? Auch wenn sie den irgendwann einmal für sich selbst ausgelotet haben sollten, ist es ihnen nicht gelungen, ihn zu transportieren. Noch nicht einmal gegenüber diejenigen, die sich dafür interessieren – zum Beispiel mich. Für die Gesellschaft ist es wichtig, dass sie gegen Putin sind, gegen die russisch-orthodoxe Kirche und für die Rechte Gefangener; und natürlich ist es grundsätzlich wichtig, dass es sie gibt. Welche Form von Frauenrechten Pussy Riot durchsetzen wollen, wissen wir nicht. Der feministische Aspekt ihrer Anschauung – wie immer die auch aussehen mag – interessiert einfach niemanden. Und ehrlich gesagt sieht es auch nicht gerade so aus, als ob sie selbst sich dafür interessieren würden. Jedenfalls lassen sie es sich nicht anmerken.

Und das ist sehr bezeichnend. Wie wäre es wohl, heute in Russland eine richtige Feministin zu sein? (Ich spreche hier bewusst nicht über den diskreditierten „offiziellen“ Feminismus einer Maria Arbatowa oder kämpferische Kolumnen zu „Sex und Beziehung“, die doch wieder auf das ewigliche „Alle Männer sind Schweine“ hinauslaufen und – leider – auch nicht über die mir sehr teuren klugen Theoretikerinnen wie zum Beispiel Nadjeschda Plungjan, die heute gerade durch ihre Klugheit marginal erscheinen).

Was ist eine Feministin in den Augen unserer, sagen wir, durchschnittlichen Mitbürger (und Mitbürgerinnen)? Eine Psychopathin, die jedem eine auf´s Maul haut, der ihr in den Mantel helfen oder die Tür für sie öffnen will.

Heute in Russland Feministin zu sein, bedeutet meiner Meinung nach, sich auf eine Vereinfachung der eigenen Positionierung bewusst einzulassen. Man muss über die Positionierungen und Errungenschaften des Feminismus sprechen, die wir – unter Berücksichtigung der bereits genannten Umstände – bisher nicht umsetzen konnten. Und darüber müssen wir uns in zugänglichen, verständlichen Formulierungen austauschen. Wir müssen Dinge diskutieren und durchsetzen, die im Westen schon lange kein Thema mehr, sondern bereits banal geworden sind, allen auf die Nerven gehen und die deshalb hier gerne von oben herab betrachtet werden. Hier meine ich zum Beispiel die von allen abschätzig behandelte Political correctness. Im diesem Sinne haben nämlich all diese lächerlichen Geschichten über Kniffe in den Hintern wieder Aktualität. Oder auch eine Episode, über die ich kürzlich auf Facebook gelesen habe: Eine Lehrerin hatte ein kleines Mädchen mit den Worten „Du bist ja schließlich ein zukünftiges Hausfrauchen“ aufgefordert, den Boden zu wischen. Für den Anfang müssen wir erreichen, dass die Frauen selbst verstehen, dass ein Kniff in den Po kein Kompliment ist, sondern eine Erniedrigung. Und warum eine Lehrerin so etwas einfach nicht sagen darf. Wenn wir das erreicht haben, können wir uns komplexeren Problemen zuwenden.

Von all den Leuten, die ihre Meinung öffentlich gemacht haben, kommt Mascha Gessen dieser Haltung wohl am nächsten – zumindest war das so, als sie noch hier lebte. Ich weiß, dass sie keineswegs in allen Kreisen geschätzt wird, und viele ihrer Opponenten sind mir auch weitaus sympathischer als sie selbst. Ich habe, was eine Menge von Dingen angeht, eine andere Meinung als sie. Aber dennoch fand ich ihr Verhalten in dieser Hinsicht besonders vorbildlich und grundsätzlich richtig. Sie war sich nicht zu schade, all diese banalen Fragen zu thematisieren, und sie hatte keine Angst davor, von jemandem dafür belächelt zu werden oder als nicht ausreichend intellektuell rüberzukommen. Und das ist sehr wichtig.