Auf der Suche nach Identität
Vom Jazz zur Freien Improvisation und zurück

Schlippenbach trio
© Schorle

Das alljährlich vom Goethe-Institut organisierte Festival „Jazz im Herbst“ zielt darauf, die Vielfalt des künstlerischen Ausdrucks verschiedener Generationen von Jazzmusikern und freien Improvisatoren mit unterschiedlichen Herangehensweisen an die Musik zu vermitteln. Beim diesjährigen Festival treten die Musiker in kompakten Jazzformationen, Duos und Trios auf; unter den Teilnehmern gibt es kanonisierte Künstler (Schlippenbach Trio: Alexander von Schlippenbach, Evan Parker und Paul Lovens) wie auch Vertreter der experimentellen Improvisationsmusik (etwa das Duo von Magda Mayas und Tony Buck). Das PaPaJo Trio teilt mit dem Schlippenbach Trio eines seiner Mitglieder, den deutschen Schlagzeuger Paul Lovens. Seine Triopartner sind ebenfalls anerkannte Vertreter der europäischen Jazzszene: der deutsche Posaunist Paul Hubweber und der britische Kontrabassist John Edwards. Die Duos Ullmann – Kühne und Laubrock – Ex sind Improvisationsmusiker der jüngeren und mittleren Generation. Sie zählen zu denjenigen, die die Ästhetik der Improvisationsmusik im vorigen und in diesem Jahrzehnt bestimmt haben, unter anderem durch die Erneuerung der Jazztradition mithilfe einer zeitgenössischen musikalischen Sprache.

Zunächst ist näher auf den Begriff „Jazz“ im Kontext des zeitgenössischen europäischen Festivallebens einzugehen. Jazz eroberte Europa bekanntermaßen unmittelbar nach dem ersten Weltkrieg, sein Siegeszug wurde auf der ganzen Welt vor allem durch die Schallplatte gefördert. In den 1920er-Jahren wurde Jazz zum Bestandteil der Massenkultur nicht nur in Nordamerika, sondern auch auf dem europäischen Kontinent – Jazzbands waren in jeder großen Stadt an der Tagesordnung. Sicher behielt Jazz für die Europäer einen Hauch des Exotischen, dennoch passte er ideal zum Geist der „tosenden Zwanziger“, der Epoche der Urbanisierung und radikaler sozioökonomischer Veränderungen. Doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg gewann die Jazz-Musik wirkliche Popularität in Europa. Amerikanische Bebop-Musiker wohnten jahrelang in den europäischen Hauptstädten, genossen hohes Ansehen und materiellen Wohlstand, von dem sie jenseits des Atlantiks nicht träumen konnten.

Doch geht es nicht nur um die Ausbreitung der amerikanischen Kultur und ihre wirtschaftliche und politische Expansion nach Europa in dieser Periode. Seit seinen Anfängen war sich der europäische Jazz seiner Nachrangigkeit gegenüber dem amerikanischen „Big Brother“ bewusst. Selbstverständlich sind die unterschiedlichen europäischen Jazzrichtungen auf ihre Art und Weise einzigartig. Insbesondere in Deutschland wurde Jazz, der während der NS-Zeit als entartete Kunst galt, zum Symbol für die Freiheit und Nachkriegshoffnungen. Frankfurt und Köln wurden Zentren der europäischen Jazz-Szene. Doch die Frustration „weißer“ Musiker wurde Anfang der 1960er-Jahre immer deutlicher. Sie drückte sich insbesondere darin aus, wie die Europäer ihre amerikanischen Kollegen kopierten und hochlobten. Dabei hatte die Fetischisierung des „authentischen“ amerikanischen Jazz oftmals einen rassistischen Beigeschmack.

All dies steht in direkter Beziehung zur Entstehung des Phänomens, das man üblicherweise als europäische Freie Improvisation bezeichnet. Eine weitverbreitete Meinung ist, dass diese im Unterschied zum afroamerikanischen Free Jazz mit der Tradition des Jazz brach und eine neue Form des spontanen Musikmachens schuf. Dabei traten die Musiker in einen komplizierten Dialog mit der Welt der akademischen Musik: Einerseits gingen sie in offensive Konfrontation zu den Figuren des Komponisten und Dirigenten (und stellten so ihr Recht auf Improvisation wieder her, das sie in der europäischen Musik 150 Jahre lang eingebüßt hatten); andererseits war ihre Musik stark mit der zeitgenössischen Komposition verbunden. Free Jazz wiederum lässt sich nicht getrennt vom konkreten politischen Kontext, dem Kampf der Afroamerikaner für ihre Bürgerrechte, betrachten, und „weiße“ Europäer konnten ihr künstlerisches Leben schwerlich damit in Verbindung bringen. Doch nachdem sich die Freie Improvisation von ihren Jazz-Wurzeln entfernt und alle Kontakte mit akademischen Institutionen abgebrochen hatte, ging sie um in Europa wie das Gespenst des Karl Marx.

Doch es gibt Einschränkungen. Europäische Improvisationsmusiker begannen ihre Tätigkeit als Jazzmusiker. Als Anfang der 1960er-Jahre viele junge Künstler aus Deutschland, Großbritannien und Nordeuropa Free-Jazz von Albert Ayler, Ornette Coleman und Cecil Taylor zu hören bekamen und sich in den sozialen Kontext eingefühlt hatten, verzichteten sie auf die Rolle der Kolonisatoren und Appropriatoren. Identitätskrise in Kombination mit dem Aufkommen des Free Jazz regte sie zur Suche nach neuen radikalen Formen und offener Akzeptanz von Instabilität bezüglich der eigenen Identität wie auch der musikalischen Form an. Ein gutes Beispiel dafür ist die „nichtidiomatische Improvisation“ von Derek Bailey.

Nach Ansicht von George Lewis trugen die Entstehungsbedingungen der europäischen Freien Improvisation dazu bei, dass die Suche nach einer zeitgemäßen Musikästhetik und Methodologie stark von Amerika beeinflusst war (1). Free Jazz ist durch eine musikalische und soziale Struktur gekennzeichnet, die untrennbar mit der Ideologie der Befreiung verbunden ist: das nicht-hierarchische Prinzip der Tonorganisation, die Auflösung der Figur des Autors, die Prioritäten des kollektiven Handelns vor gruppeninterner Konkurrenz. Diese Merkmale sind auch für die Freie Improvisation kennzeichnend, die ganz unterschiedliche Herangehensweisen vereinigt, zum Beispiel die expressive deutsche Improvisation von Peter Brötzmann, Alexander von Schlippenbach und Peter Kowald, die sich an ekstatischer Geste und Schock orientiert, oder der texturierte Formalismus der englischen Band AMM, die ein entrücktes paradoxes Arbeitsprinzip mit dem Tonmaterial verfolgt, indem sie traditionelle Instrumente neu erfand oder nichtmusikalische Objekte benutzte.




Es gibt noch eine weitere Besonderheit, die die Freie Improvisation vom Free Jazz geerbt hat: seine soziale Ladung. Europäische Musiker konnten gegen Kolonialismus und Rassismus, Konsumgesellschaft und die Überreste des Nationalsozialismus in Deutschland kämpfen. Peter Brötzmann erwähnte, dass die aggressive Ästhetik, durch die sich deutsche Improvisation von der restlichen europäischen Jazz-Szene unterschied, mit dem psychologischen Trauma der Nachkriegsgeneration in Deutschland verbunden war. Es war eine Art Wutschrei, Verzweiflung und Bereitschaft zum Kämpfen (2). Dabei unterstrich die paneuropäische Bewegung der Freien Improvisation immer ihre Internationalität und Kollektivität. Schon seit Mitte der 1960er-Jahre erscheinen große internationale Ensembles, in denen Musiker unterschiedlicher Generationen und unterschiedlichen musikalischen und nationalen Hintergründen spielten, darunter das Globe Unity Orchestra als eines der beeindruckendsten. Es entstanden viele Plattenlabels und Festivals, die auf genossenschaftlicher Grundlage gegründet wurden. Westdeutsche Festivals wie Total Music Meeting, Wuppertal Free Jazz Workshop, Baden-Baden Free Jazz Treffen und das Label FMP waren besonders einflussreich.

Die freien Improvisatoren übten ihre institutionelle Kritik im Einklang mit neuavantgardistischen Strömungen der 1960er: Es ist kein Zufall, dass Han Bennink, Peter Brötzmann, Keith Rowe und Lou Gare (AMM) auch bildende Künstler waren. Die formale Suche überschnitt sich in vieler Hinsicht mit Praktiken der parallelen Künste, etwa wenn Keith Rowe die Gitarre auf einen Tisch zum Spielen legte, ähnlich wie früher Jackson Pollock seine Gemälde behandelte. Peter Brötzmann arbeitete als Assistent von Nam Jun Paik in der Wuppertaler Galerie „Parnass“ und nahm an einer Aktion von Joseph Beuys teil: An diesem Abend wurde als Höhepunkt ein Flügel durch einen Schlag mit dem Hammer zertrümmert. Europäische Künstlergruppen wie GRAV und APG ebenso wie Improvisationsmusiker, die in dieser Zeit aktiv waren, verlagerten den Schwerpunkt ihres kreativen Schaffens von der Arbeit an einem autonomen Kunstwerk oder Objekt auf eine kollaborative Tätigkeit, deren Produkte soziale Modelle darstellten (3). Unter Verwendung der Terminologie von Claire Bishop und Nicolas Bourriaud könnte man sagen, dass die europäische Freie Improvisation relational und intersubjektiv war. Sie übertrug eine gewisse Sozialität, aber machte dies in Anlehnung an Jazz als unikale kollektive Musikform.

In diesem Sinne kommt eine neue Hinwendung zur Jazztradition nicht überraschend; besonders ausgeprägt zeigt es sich in der Freien Improvisation Anfang der 2000er-Jahre. Das betrifft die Revolutionäre der 1960er- und 1970er-Jahre ebenso wie die Musiker nachfolgender Generationen, die bestrebt sind, das Erbe von John Coltrane, Eric Dolphy und Thelonious Monk zu überdenken. Besonders aufschlussreich ist das Beispiel von Alexander von Schlippenbach, der noch in den 1960еr-Jahren seine Treue zum amerikanischen Jazz bekundete, indem er zusammen mit dem Globe Unity Orchestra, seinem Ensemble im Bigband-Format, Kompositionen von Jelly Roll Morton und Monk spielte. Für Alexander von Schlippenbach besitzt Monk zentrale Bedeutung. Im Rahmen des Projekts „Monk’s Casino“ spielte er das Gesamtwerk von Thelonious Monk ein. Das gesamte Programm ist auf drei CDs zu hören, die 2005 beim intakt-Label erschienen sind. Schlippenbach bezeichnet seine Musik zutreffend als Jazz und „freie Atonalität“. Sogar in seinen zahlreichen zwölftönigen Kompositionen ist ganz eindeutig „Swing-Gefühl“: eine kontinuierliche Bewegung der Musik nach vorne über ihre eigenen Grenzen hinaus, letztlich das, was Jazz von der akademischen Musik unterscheidet.



Im Unterschied zu Brötzmann, der noch im Alter von 76 Jahren bereit ist, jederzeit ein neues Projekt anzulegen oder beim ersten Verdacht auf Selbstwiederholung darauf zu verzichten, bevorzugt Schlippenbach einen konzentrierten Ansatz. Er entwickelt seine Ideen über Jahrzehnte. Das Trio mit dem Saxophonisten Evan Parker und dem Schlagzeuger Paul Lovens ist eine der am längsten spielenden Formationen in der europäischen Improvisationsszene. Seit fast einem halben Jahrhundert experimentiert das Schlippenbach Trio mit verschiedenen Techniken, behält aber eine gewisse konstituierende Besonderheit bei. Vergleicht man das legendäre Album „Pakistani Pomade“ (FMP, 1972) mit der letzten Konzertaufzeichnung des Trios (Warsaw Concert ,Intakt, 2016), lassen sich konstante und variable Größen leicht raushören.

Pakistani Pomade“ gibt eine Vorstellung darüber, wie das Trio in den 1970er-Jahren geklungen hat. Wenn Schlippenbach schnelle Passagen spielt, beschneidet er sie durch pointierte Perkussion-Schläge mit Taylor-Tonclustern und Monk-Pausen. Parker improvisiert scheinbar endlose Phrasen. Dazu benutzt er die Technik der Zirkularatmung und eine beeindruckende Multiphoniktechnik. Stellenweise spielt Parker ungebärdig und sehr laut, an der Kapazitätsgrenze des Instrumentes: diese Spielweise kann man mit dem Begriff „fire music“ beschreiben. Lovens ist für seine energischen Auftritte bekannt, sein Timing ist sprunghaft, aber sehr exakt. Periodisch stößt er durch Folgen unregelmäßiger Schläge vor, als ob er auf seismische Wellen seitens Parkers reagiert. Das Konzert in Warschau demonstriert, dass das Trio einige der bereits beschriebenen Merkmale beibehalten, dabei aber den Fokus von der körperlichen Energie auf tiefere Immersion in den Musikstoff verschoben hat. Schlippenbach legt zunehmend Wert auf harmonische Nuancen. Parker, der über große Erfahrungen mit elektronischen Instrumenten verfügt, wendet sich immer mehr dem Sonorismus zu. Die Band kann immer noch genauso laut spielen wie vor 45 Jahren, aber es ist nicht mehr die Lautstärke junger „Zünder“.


Das Trio PaPaJo (Paul Lovens/Schlagzeug, Paul Hubweber/Posaune und John Edwards/Kontrabass) wiederum wurde im Unterschied zum Schlippenbach Trio erst 2001, gegründet. Wir hören mattes Jazz-Echo, stellenweise sogar sich wiederholende Strukturen im Sinne der Pop-Musik, die im mit atomarer Improvisation gefüllten Raum klingen. Hubweber verflechtet jazzartige dynamische Passagen mit leisen mikrotonalen Intervallen. Solange wir den Schwund der Töne verfolgen, kommt Lovens mit Trommeln in Berührung, die auf den tiefsten Ton gestimmt sind. Edwards schafft daraus mit seinem hallenden Gebrumm ein einheitliches Ganzes. Hubweber, ein wenig jünger als seine Partner, ist eine Art Brücke zwischen den älteren Generationen der europäischen Improvisation und ihren jüngeren Vertretern. Charakteristisch für ihn ist das Interesse an der Stil- und Methodenmischung.

Beim „Jazz im Herbst“-Festival 2017 wird auch die jüngere Generation mit zwei Duos vertreten sein: die Sängerin Almut Kühne mit dem Saxophonisten Gebhard Ullmann und die Saxophonistin Ingrid Laubrock mit dem Bassisten Luc Ex. Ihre Musik lässt sich als bewusstes Streben nach einer strukturellen „Kreuzung“ von Jazz und Freier Improvisation charakterisieren. Komposition spielt die Rolle eines Bindemittels und der Freien Improvisation wird ein dafür vorgesehener Platz in Zeit und Raum eingeräumt. Diese Musiker verbindet ein weiterer Wesenszug – das Interesse an verschiedenen Medien, und zwar elektronischen Klangerzeugern, Video-Projektionen, zeitgenössischem Tanz, wie im Fall von Kühne und Ullmann. Die Musiker kreieren eine Mischung aus Komposition und Improvisation, basierend auf Jazz-Themen in Kombination mit „freier Atonalität“, die an akademische Musik des 20. Jahrhunderts erinnert. Kühne zielt auf ein maximal breites Spektrum an Stimmmitteln und Farben und hebt scharfe Kontraste hervor. Ullmann gleicht die Expression von Kühne durch ruhige, fast meditative Linien im Bereich vom Drone bis zum sprunghaften Altissimo aus. Silver White Archives ist die erste gemeinsame CD des Duos (Unit Records, 2014).

Das Duo Ingrid Laubrock und Luc Ex ist die Hälfte von Luc Ex´ Assemblée, einer Band, die er zusammen mit Ab Baars, Hamid Drake und Ingrid Laubrock bildet. Laubrock, für die eine artikulierte Phrasierung charakteristisch ist, spielt bevorzugt mit Improvisatoren, die zu einer abstrakteren Stilrichtung zählen, zum Beispiel mit Mary Halvorson und Nate Woole. Luc Ex, der praktisch keinen Jazz- Background hat, hat eine originelle Spielweise im Jazzensemble erfunden: Seine punkartige Spielweise basiert auf Erfahrungen in der Gruppe The Ex; in diesem Fall spielt der Musiker akustische Bassgitarre. Das Duo hat noch kein Album veröffentlicht, aber man kann, ausgehend von der früheren Luc Ex's Erfahrung, in der nächsten Zukunft ausführlich notierte Jazz-Kompositionen mit großen Abschnitten von Atonal- und Geräuschimprovisation erwarten.


Zeitgenössische Improvisationsmusik beschränkt sich nicht nur auf „Verweise“ auf die europäische Freie Improvisation der 1960er- und 1970er-Jahre oder das Schaffen von Jazzkompositionen. In den 1990er-Jahren entstand eine neue Ästhetik, die sich auf die englische Gruppe AMM und die italienisch-amerikanische MEV zurückführen lässt. Die Berliner experimentelle Szene, die als Echtzeitmusik-Szene bezeichnet wird, wurde Ende der 1990er und Anfang der 2000er zu einem der wichtigsten Weltzentren der Neuen Musik. Einer der ersten Veranstaltungsorte der Echtzeitmusik war der Klub „Der Anorak“. Sobald ein Club geschlossen wurde, machte anderswo ein neuer auf: So gab es den 2:13 Club, das Labor Sonor und Raumschiff Zitrone. Die Vertreter dieser Szene lehnten bestehende Formen der europäischen Freien Improvisation und des Free-Jazz ab, sie waren auf der Suche nach neuen Verfahren, spontan Musik zu schaffen, und schwärmten vom Reiz der Geräusche und der totalen Stille. Die Echtzeitmusik-Szene war ursprünglich durch eine stilistische Unschärfe gekennzeichnet, die für die Freiheit der Suche nach einer Definition ihrer Selbstbestimmung notwendig war. Sie sog Elektroakustische Musik, akademische Komposition, Freie Improvisation, Noise, Rock, Jazz, Reduktionismus, Techno, Soundart etc. in sich auf. Die Struktur ihrer Kompositionen prägten die Intensität und Qualität eines Klangereignisses und die mögliche Überlagerung mit anderen Klängen.

Man sollte die Musik des Duos Spill (Magda Mayas/Klavier und Tony Buck/Schlagzeug) unter Berücksichtigung der Besonderheiten und Sujets der Berliner Experimentalszene betrachten. Das Berliner Duo wurde 2003 gegründet und veröffentlichte drei Alben. Außerdem erschienen zwei gemeinsame Releases – Plume (Unsound, 2013) mit dem Saxophonisten John Butcher und Gitarristen Burkhard Stangl und Spill Plus (Nuskope, 2014) mit Kontrabassisten Damon Smith. Magda Mayas beschäftigt sich in den letzten Jahren mit der Erforschung der klanglichen Möglichkeiten des Klaviers und entwickelt spezielle Spieltechniken, die mit Objekten arbeiten und das Innere des Instruments nutzen. Dabei konzentriert sie sich auf die Physikalität des Instruments und seine akustische Eigenschaften. Mayas nutzt die schon im Instrument vorhandenen Potenziale, bearbeitet das Gehäuse perkussiv mit der Hand, Metall- und Gummiobjekten, zupft die darin versteckten Saiten mit improvisierten Griffen. Der australische Schlagzeuger Tony Buck ist Mitglied des Trios The Necks, sein hauptsächliches Interesse ist Freie Improvisation und „Echtzeitmusik“, wobei er sich von einem bestimmten Stil distanzierte.


Auf dem Album Stockholm Syndrome (Al Maslakh, 2012) hört man, wie Spill mit den wichtigsten Strukturelementen seiner Musik, mit großen fließenden Linien und expressiven Tupfern arbeitet. Mayas kreiert vielschichtige Sound-Texturen: tiefes niederfrequentes Gebrumm wechselt sich mit Ton-Clustern ab. Buck spielt meistens in der oberen Lage, er lässt mit Hilfe des Streichbogens resonierende Töne des Beckens und das Geknirsche des Tomtoms verschwinden. Sein Spiel entwickelt sich im Lauf der Zeit. Immer ist es der Klang selbst, der sich vorantreibt. Dumpfes, spannungsgeladenes Getöse wird durch unerwartet materielle aufeinander folgende Metall-Schläge zersplittert.

Diese Detonationen münden oft in Stille: Die Musik zieht den Hörer langsam in einen Strudel hinein, wobei die Geschwindigkeit stetig zunimmt und er/sie abstürzt, um im Epizentrum, in einer imaginären stillen Bewegungslosigkeit zu landen. Manchmal spielt Mayas Clavinet, wie auf dem Album Fluoresce (Monotype, 2012). Die Musik von Spill lässt die Hörer in die Welt der Akusmatik und Tonobjekte eintauchen. Bis zu Ende trennt sich der Ton von seiner Quelle (dem Musikinstrument) nicht ab – ebenso wie sich die Freie Improvisation des Duos vom Jazz-Idiom nicht endgültig trennt.

Die Tradition lebt dank ihrer radikalsten Interpretation -- laut Walter Benjamin ist „die Einzigkeit des Kunstwerks mit seinem Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition identisch“. Diese Behauptung ist heute, wo nicht nur Jazz und Freie Improvisation, sondern auch experimentelle Musik in einem gewissen Sinne Tradition werden, besonders aktuell. Man versucht der Tradition Leben einzuhauchen und sie auf Basis der erworbenen Erfahrungen auszuwerten, scheinbar wesentliche Elemente zu ersetzen oder drauf zu verzichten. All dies lässt die Tradition weder endgültig verschwinden noch nährt es das dubiose Bestreben, „sie wieder groß zu machen“. In diesem Sinne ist das Wort „Jazz“ im Namen des Festivals kein Versehen, sondern scheint im Gegenteil die adäquateste Sicht auf den Jazz heute.

1 George E. Lewis. A Power Stronger Than Itself: The AACM and American Experimental Music. Chicago, 2008. P. 127.
2 Peter Brötzmann. Last Man Standing. Interview by David Keenan. Wire, Issue 345 (November 2012), pp. 38–45.
3 Claire Bishop. Viewers as Producers (2006). P. 11.