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Tanz
Tanztheater Pina Bausch: Anfänge, Ästhetik, Gefühle

Pina Bausch
Pina Bausch © Pina Bausch Foundation | © Pina Bausch Foundation

„Tanztheater” ist nicht nur der Name einer Institution, sondern ein selbständiges Genre, das plastischen / tänzerischen und visuellen / theatralen Ausdruck zueinander in Verbindung setzt.
 

Von Anastasia Gluchowa

Pina Bausch wird allgemeinhin als Begründerin dieses Genres dargestellt. In Wirklichkeit ist aber ihr Lehrer, der Tänzer und Choreograph Kurt Jooss, als dessen Gründungsvater anzusehen, welcher seinerseits die Idee eines Zusammenbringens von Tanz, Ton und Wort bei seinem Meister Rudolf von Laban aufgriff und weiterentwickelte. Von Laban wiederum hatte sich, bevor er sein Wissen an seinen Meisterschüler Jooss weitergab, ursprünglich sowohl von den Ideen Wassily Kandinskys – die dieser in seinem Traktat „Über das Geistige in der Kunst“ ausgeführt hatte – als auch von den Überlegungen Friedrich Nietzsches in „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ und „Also sprach Zarathustra“ inspirieren lassen.

„Genau wie es in der Musik und in der Malerei keine „misslungenen Klänge“ und äußerlichen „Dissonanzen“ gibt (…), so wird man auch bald im Tanz eine innere Wertigkeit jeder Bewegung erkennen, und die innere Schönheit wird die äußere ersetzen. Von „hässlichen“ Bewegungen, die nun plötzlich und schnell zu wunderbaren Bewegungen werden, wird alsbald eine nie dagewesene Wucht und lebendige Kraft ausgehen. Und ab diesem Moment beginnt der Tanz der Zukunft.“[1]

„Siehe, es giebt kein Oben, kein Unten! Wirf dich umher, hinaus,
zurück, du Leichter!“[2]


Damit war schon an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein Programm formuliert, nach dem sich der Neue Tanz entwickeln sollte.

Pina brachte diese Ideen auf geniale Weise zu ihrer Kulmination. 

Doch natürlich hatte sie zu Beginn nichts dergleichen geplant.

1954, als sie vierzehn war, wurde Pina an der Folkwang Musikschule angenommen, deren Leiter Jooss war. Das Hauptziel der Schule war die Herausbildung moderner Tänzer*innen mit guten Grundkenntnissen des klassischen Tanzes und Modern Dance, welche gleichzeitig aber auch sattelfest in Theorie und Praxis der Musik waren, die Geschichte der Malerei und des Kostümbilds kannten und in der Lage waren, zu improvisieren. Pina schloss die Schule mit Auszeichnung ab, sie verfügte über eine herausragende tänzerische Begabung, innere Aufgeschlossenheit und eine natürliche Neugierde. Als beste Schülerin wurde sie mit einem Stipendium für ein Praktikum an der US-amerikanischen Juilliard-School in New York ausgezeichnet. Sie reiste mit dem Plan ab, eine Saison lang dort zu bleiben, woraus zwei Jahre wurden. Erst war es furchtbar schwer für sie, ohne Sprachkenntnisse und nahe Kontakte in einem unbekannten Land zu sein. Doch es war die Zeit der großen Tanzwunder in Amerika. Und Pina lernte bei den Schlüsselfiguren des amerikanischen Tanzes: Bei Paul Taylor, einem der ersten Tänzer aus der Truppe von Martha Graham, José Limón, einem amerikanischen Choreographen mexikanischer Herkunft, welcher eine eigene Tanztechnik entwickelt hatte, die auf hochkomplizierter Koordination beruhte. Und bei Lukas Hoving, einem der besten Tänzer aus Limóns Truppe. Dazu hatte Bausch in dieser Zeit das Glück, auf der Bühne der Metropolitan Opera auftreten zu dürfen.

Somit erreichte Pina, die im deutschen expressiven Tanz verwurzelt war, den Höhepunkt ihres kreativen Ausdrucks durch den American Modern Dance.

Die Besonderheiten des amerikanischen und des europäischen Tanzes in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind voller Verflechtungen und Widersprüche. Die Unterschiede der choreographischen Moderne in Amerika und Europa beschreibt in einem interessanten Aufsatz Hanya Holm, eine der vier Gründerinnen des American Modern Dance (außer ihr gehörten noch Marta Graham, Doris Humphrey und Charles Weidman zu den sogenannten „Big Four“), und anfangs war Holm die Schülerin einer weiteren Vertreterin des deutschen Expressionismus gewesen – Mary Wigman.

„Der deutsche Tanz ist subjektiv. Erst nimmt er sich nicht die ganze Individualität, so wie es der emotionale Zustand des Tänzers zulassen würde; im Unterschied zum amerikanischen Tanz, der in erster Linie auf Handlungen basiert. Der deutsche Tanz beginnt mit der Wahrnehmung der eigenen Person im Raum, dem „Ertasten“ des eigenen Zustands. Und genau dieser Zustand gebiert dann die Bewegung. Während dieses Prozesses besteht eine große Wahrscheinlichkeit des Verlusts der offensichtlichen Form und Komposition des Tanzes. Deswegen ist der pädagogische Prozess darauf ausgerichtet, die subjektiven, improvisierten Bewegungsimpulse zu strukturieren.“[3]

Außerdem muss man betonen, dass innerhalb des Phänomens des deutschen Expressionismus ästhetische Widersprüche auftraten. Jooss war der Meinung, dass die Basis des Modern Dance im klassischen Tanz liegen solle, Wigman aber stellte sich strikt gegen eine Verschmelzung mit dem Ballett. Für sie stand die innere Empfindung, aus der Bewegung entsteht, an erster Stelle. Jooss dagegen sorgte sich um den Verlust der äußeren Form und vermied daher eine so extreme Subjektivität, wie Wigman sie anstrebte. Somit nahm Bausch, deren Schaffen gleichzeitig überaus individualistisch sowie penibel genau auf die äußere Form ausgerichtet war, nicht nur die ästhetischen Besonderheiten des Modern Dance unterschiedlicher Kontinente in sich auf, sondern brachte in sich auch die abweichenden Lesarten ihrer deutschen Vorgänger*innen zusammen.

Auf Jooss´ Bitte aus Amerika zurückgekehrt, wurde Pina Solistin seiner Truppe am Folkwang-Ballett in Essen und einige Zeit später Choreographin und Leiterin der Truppe. Die künstlerische Leitung zu übernehmen, hatte sie nicht geplant, doch im Theater stellte sich verschärft die Frage nach einer Erneuerung des Repertoires. Und außerdem wollte sie ja auch noch tanzen. Ihre erste Arbeit war „Fragmente“ im Jahr 1968. „Ich dachte nicht, dass ich Choreographin werden würde“, gab sie später beinahe verschämt zu, „ich wollte einfach nur etwas für mich selbst machen. Um zu tanzen“.

Einige Jahre später wurde Bausch eingeladen, eine Inszenierung im Operntheater in Wuppertal zu übernehmen. Daraus wurde die Arbeit „Aktionen für Tänzer“. Und zwei weitere Jahre später, 1973, bot man Pina die Leitung der Ballettsparte in diesem Theater an. Warum Pina das Angebot des wenig bekannten Theaters annahm, das sich dazu noch auf einer kreativen Talfahrt befand, ist bis heute nicht ganz klar. Vielleicht hatten ihre Kindheitserinnerungen Einfluss darauf – Pina war oft in Wuppertal gewesen, als sie klein war, denn ihre Tante lebte dort. Aber wie auch immer: es kam zu dieser Entscheidung, die im Ergebnis die ganze Landschaft der modernen Choreographie veränderte. Mit Annahme des Angebots wurde der Name der Balletttruppe in „Wuppertaler Tanztheater“ und später in „Tanztheater Wuppertal“ umgeändert.

In den ersten zwei Jahren inszeniert Pina „Fritz“ (1974), „Iphigenie auf Tauris“ (1974), „Orpheus und Eurydike“ (1975) und „Frühlingsopfer“ (1975). Damit zeichnen sich die beiden Grundrichtungen in ihrem kreativen Wirken ab. „Iphigenie auf Tauris“ und „Orpheus und Eurydike“ sind Tanzopern, ein Genre, das unmittelbar durch Bausch erschaffen wurde und das sich von seiner Anzahl her bisher auf die beiden Werke beschränkt. In der Tanzoper wurde jeder Charakter des antiken Sujets von zwei Ausführenden dargestellt – einem / einer Tänzer*in bzw. Opernsänger*in. Komplizierte metaphorische Dekorationen vervollständigten die vielschichtige Komposition der Stücke und ihre archetypische Erzählstruktur. Etwas später wird diese inhaltliche Linie in den Stücken „Blaubart. Beim Anhören einer Tonbandaufnahme von Béla Bartóks Oper „Herzog Blaubarts Burg““ (1977) und „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“ (ein Macbeth-Projekt, 1978) fortgeführt. In diesen Arbeiten beschäftigt sich Pina mit der ewigen Opposition zwischen Mann und Frau. Deren unbegrenzten Verletzlichkeit und Rohheit entsprang die Analyse dieser Wechselbeziehung wie eine blutende Wunde, und das hat die gewohnte, konzeptionelle Herangehensweise an das formale Tanztheater für immer verändert.

Das herausragendste Beispiel hierfür ist Bauschs „Frühlingsopfer“. Das Stück zur Musik von Igor Strawinsky schaffte die Grundlage für die weitere Entwicklung dieser Form des Tanztheaters, in der die Bewegung aus einem inneren Gefühl heraus entsteht und die Form der Komposition sich aus der Interaktion des Tanzes mit der Szenographie entwickelt. Der hauptsächliche äußerliche Kunstgriff in „Frühling“ ist eine Bühne, die vollständig mit einer Erdschicht bedeckt ist. Die Tänzerinnen betreten nacheinander in hautfarbenen, halb durchsichtigen Kleidern mit Spaghettiträgern die Bühne und tasten in langsamen Schritten mit ihren bloßen Fußsohlen die Erde ab. Das Tempo der Bewegungen steigt langsam an, die Tänzerinnen führen kleine tänzerische Kombinationen aus – plastische Leitmotive, die im Verlauf des gesamten Stücks zunehmend ausgearbeitet werden. Gerade in dieser Arbeit ist der Einfluss des amerikanischen Modern Dance auf Bausch am stärksten zu spüren. Praktisch die gesamte weibliche Choreographie entspringt der grundlegendsten Technik Grahams – „Contraction“. Sie beschreibt ein plötzliches, fast reflexives Zusammenziehen im Bereich des Oberkörpers (als Variante auch im unteren Bauchraum), in dessen Folge eine Art Widerhall dieser Kontraktion im ganzen Körper zu sehen ist – ein Bruch im Korpus, der Halspartie, im Hüftgelenk, in Händen und Handflächen, Knien und Fußsohlen. Und gerade das gilt als hauptsächliches Leitmotiv weiblicher Bewegung bei Bausch – ein plötzlicher Schlag mit dem halbgebogenen Ellbogen in die Seite, von wo aus die Kontraktion ihren Lauf nimmt. Außer der rein technischen Ebene existiert aber auch noch die Sinnebene. Nach Graham ist die Kontraktion die hauptsächliche Komponente weiblicher Bewegung – eine Verkürzung, die sprichwörtlich in der Matrix geschieht, im Punkt der Sammlung und Eruption weiblicher Energie. Und das wird elementar wichtig für den weiblichen Tanz im „Frühling“ von Bausch, in dem das weibliche Aufblühen faktisch die Grundlage des Sterbens bildet. Nicht die Geburt, wie es sein sollte, sondern eben der Tod, denn schließlich ist der einzige Grund für die Wahl der Auserwählten, die dem Frühling Opfer bringt, ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmten Geschlecht. Und genau deswegen hacken die Tänzerinnen – in Angst und Vorahnung auf das Kommende – wie rasend mit heftigen Stößen und Schlägen auf sich selbst ein, als würden sie sich von ihrer Natur loslösen wollen.

Die auftretenden Männer erfüllen hier eine eher nebensächliche oder höchstens ergänzende Rolle. Sie sind lediglich der Grund, der Anlass für die weibliche Angst, das Misstrauen, die Erwartung, für Hoffnung und Verzweiflung. Wirklich schicksalshaft erscheint vor allem die zufällige Wahl der Auserwählten, die nicht etwa durch den weisen Ältesten bestimmt wird (denn er ist nicht mehr als ein Instrument in den Händen der Fügung). Die Wahl wird hingegen durch das Schicksal selbst getroffen, das durch ein rotes Kleid dargestellt wird, welches von den Frauen hin- und hergereicht wird und das sich in einem musikalischen Schlüsselmoment in den Armen einer von ihnen befindet. Diese Frau ist es auch, die zum Opfer wird. Zu einem Opfer, das sich in sein Schicksal fügt und sich selbst bis an den Rand einer tödlichen Erschöpfung bringt. „Bis zur Erschöpfung“ ist auch der Schlüssel der Künstler*innen für die Ausführung der Choreographie dieses Stücks.

In der Arbeit am „Frühling“ beginnt sich die individuelle Methodik Bauschs auszuformen. Teil dieser Methode sind die bereits genannten Schlüssel.

Die Funktion dieser Schlüssel beschreibt ein Tänzer des Tanztheaters Wuppertal, Andrey Berezin, folgendermaßen:

Andrej Berezin Andrej Berezin | © Evgeniy Chausov „Die Schlüssel sind Worte oder Sätze, die eingesetzt werden, um die Tür zu einem Raum zu öffnen, dem die Bewegung entspringt. Pina hat uns manchmal einen offenen Schlüssel gegeben, irgendeine konkrete Wortverbindung. Das bedeutet, dass der/die Tänzer*in in egal welchem Genre experimentieren darf, überall dort, wohin es ihn oder sie gerade zieht – eine Bewegung ausführen, sprechen, singen usw. Das wiedergeben, wozu das Wort eben animiert. Zum Beispiel könnte der Schlüssel „Stehaufmännchen“ sein. Wenn die Tanzenden sich während der Improvisation zu sehr in die Arbeit auf dem Boden vertiefen, bedeutet dieser Schlüssel, dass die Intention der Bewegung verändert werden soll. Also nicht nach unten zu streben, sondern im Gegenteil dann, wenn du spürst, dass dich die Bewegung in Richtung Boden zieht, in die andere Richtung zurückfinden, also nach oben. Und noch ein weiteres Beispiel für einen Schlüssel: „Höher springen als der Kopf“. Das bedeutet, dass du alles machen kannst – aber besser als alle anderen. Manchmal gab sie uns auch einen Schlüssel und fügte hinzu: „Buchstabieren“. Das bedeutet, dass man das Wort, das sie genannt hat, „schreiben“ soll – Buchstabe für Buchstabe, mit dem Körper. Durch den Körper also das Schreiben von Buchstaben nachstellen, und zwar entweder durch sich selbst, auf sich selbst, irgendwo im Raum, mit dem Fuß, dem Ellbogen usw.  Und in das Bild soll man dann die Bedeutung des Buchstaben hineintragen, in all ihren Ausformungen, wie auch immer sie sein mögen. Pina sagte dann: „Die Hauptsache ist, dass ihr den Buchstaben seht.““

Abgesehen von der Verteilung der Schlüssel stellte Bausch während der Arbeit an Inszenierungen auch viele Fragen. Fragen, die sich konkret auf jede und jeden der Tanzenden bezogen und die sich um Kindheitserinnerungen, Lebensgeschichte und Lebenserfahrungen drehten. Das war nicht etwa wie eine Art Verhör, sondern vielmehr ein höchst taktisches Gespräch, in dem die auftretenden Gefühle und Assoziationen wichtig waren.

Faktisch gliederte sich die Inszenierungsarbeit hinter den Kulissen in drei Etappen. Die erste bestand aus den genannten Fragen und Antworten, die Pina detailliert schriftlich festhielt. Während der nächsten Etappe wurde aus den gesammelten Informationen – rein intuitiv – das herausgefiltert, was sich für das Stück eignete. Aus diesem ausgesuchten Material kristallisierten sich dann die Schlüssel heraus. Und danach wurde in der letzten Etappe die Choreographie des Stücks – streng filtriert durch Pina – unter Zuhilfenahme der Schlüssel von den Tanzenden selbst entwickelt.

Andrey Berezin: „Alles wurde auf Video aufgezeichnet, und im Laufe von zwei, drei, vier Wochen kam das Material zusammen. Dann setzte sich Pina gemeinsam mit den Tanzenden hin und sah sich alle von ihnen zusammengestellten Episoden in voller Länge an. Manche Teile wollte sie so stehenlassen, manche lehnte sie ab. Oft blieb von den entworfenen, sagen wir, zwei Takten nur eine einzige Armbewegung zurück. Mehr als 70 Prozent des Materials wurde in dieser Etappe ausgesiebt.

Für die ersten Stücke machte sie selbst Vorschläge für die Choreographie. Später, als die Tanzenden bereits die Ästhetik der Choreographie verinnerlicht hatten, gab es keine neuen Bewegungen mehr. Natürlich wusste Pina, dass eine Bewegung wiederholt werden würde, sobald sie sie zeigen würde. Doch ihr war es wichtig, jede Persönlichkeit zu sehen. Und damit das geschehen konnte, musste sie jeder Person die Möglichkeit geben, sich ausschließlich so zu bewegen, wie es ihm oder ihr gegeben war“.


So wurde der Großteil der darauffolgenden Stücke Pinas erschaffen, in denen sie sich von der für die vorangegangenen Arbeiten traditionellen Dichotomie zwischen Solist*innen und Ballettcorps entfernte. Mit dem Verschwinden einer klaren Narration und einer hauptsächlich handelnden Figur aus den Stücken (und das begann schon in „Frühlingsopfer“) wird das Ensemble zu einer Einheit von Individuen. Nach den Veränderungen in der Methodik, Stücke zu inszenieren, war die daran anschließende Veränderung der Komposition nunmehr eine logische Folgerung.

Bis zum Jahr 1980 war Pinas Mann, der Künstler Rolf Borzik, durchgehend ihr Bühnenbildner.
Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloß, die anderen folgen | © Klaus Dilger Es entstand ein geniales Co-Schöpfertum. Borzik hatte ebenfalls an der Folkwang-Schule gelernt und beide waren der Auffassung, dass es eine neue Herangehensweise an den szenischen tänzerischen Raum geben müsse. Das Bühnenbild sollte gleichzeitig poetisch und realistisch sein. Und bereits nach den ersten Stücken war die Grundidee klar: mithilfe eines Minimums an Mitteln sollte die Aufmerksamkeit auf die Intensität der Handlung gelenkt werden. Borzik experimentierte einerseits mit Naturmaterialien und andererseits mit alltäglichen Gebrauchsgegenständen.

1976 inszenierten Bausch und Borzig das Stück „Die sieben Todsünden“ zur Musik aus verschiedenen Werken von Kurt Weill (darunter auch die „Dreigroschenoper“) und unter Verwendung von Texten Bert Brechts. In dieser Arbeit schuf Borzig auf der Bühne die Kopie einer Wuppertaler Straße. Der Raum des Realen verschaffte sich nach dem Vermächtnis Brechts Zugang in den Raum des Theaters. Die Tanzenden trugen Alltagskleidung – schwarze Kostüme und bunte Sommerkleider, feine Schuhe und hohe Absätze.  

Die Handlung von „Blaubart“ spielt in einer großzügigen Wohnstube des 19. Jahrhunderts, deren Boden mit Herbstblättern bedeckt ist.

In „Komm tanz mit mir“ ist die Bühne, über die Äste von Bäumen verteilt sind, die von den Tanzenden immer wieder in die Bewegungen miteinbezogen werden, zur hinteren Wand hin hochgezogen, wodurch ein steiler Hang entsteht. Am Ende des Stücks stürzt hier mit viel Getöse ein schwerer Baum zu Boden.

Die Räume, die Borzik für das Tanztheater schaffte, waren immer physisch, greifbar, nie dekorativ. Sie veränderten die Bewegungen der Tanzenden und animierten sie zum Handeln. Sie erforderten Anstrengung und stellten gleichzeitig eine poetische Allusion her. „Renate wandert aus“, entstanden 1977 mit dem Zwischentitel „Eine Operette“, spielt in einer phantastischen Eiswelt, und die Künstler*innen tanzen in leichter Sommerkleidung.

Diese gewollte Diskrepanz hat den Effekt, dass das Publikum hellhörig wird. Da die Stücke von Pina Bausch selten an einen konkreten Ort und eine konkrete Zeit gebunden sind, ist der Bühnenbildner gezwungen, über die Realität hinwegzusehen und sich in einen freien Raum der Phantasie zu begeben. Die Stücke von Bausch und Borzig wollen zwei Dinge erreichen: sich der Alltäglichkeit entgegenzustellen und einen Raum für Wünsche, Träume und Hoffnungen zu öffnen.

In „Café Müller“ (1978) gab es einen sehr persönlichen Moment für Pina und Rolf, in dem sie beide auf die Bühne treten. Während Pina in einem Café mit runden Tischen und alten Stühlen wie eine Besessene und mit geschlossenen Augen tanzt, reißt Rolf jeweils im letzten Moment Tische und Stühle aus dem Weg, damit sie nicht stürzt und sich verletzt. Sie halfen einander, ihre Lebensträume wahr werden zu lassen; sie räumten einander Hindernisse aus dem Weg. Das chaotische Möbelrücken stand hierbei in einem starken Kontrast zu den weichen, melancholischen Arien von Purcell.  

In den Stücken „Er nimmt sie an der Hand und führt sie in das Schloss, die anderen folgen“ und „Arien“ wenden sich Bausch und Borzik der Wasserthematik zu. In dem Stück zu Macbeth läuft das Wasser über eine gewölbte Platte auf die Bühne und symbolisiert dadurch den endlosen Fluss der Zeit. In den „Arien“ wurde die gesamte Bühne des Wuppertaler Operntheaters knöcheltief mit Wasser gefüllt. Mal sind nur die Schritte der Tanzenden im Wasser zu hören, manchmal auch Regentropfen. Trotz der eleganten Abendkleidung der Künstler*innen ist die Atmosphäre des Stücks schwermütig, man hat den Eindruck, es wäre ein großer Verlust zu verwinden.
Bausch integrierte ein Nilpferd in dieses Stück, das traurig auf der Suche nach Liebe durch die Szenerie stapft. Tiere – ob reell oder nachempfunden – spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle in den Stücken Bauschs. Sie repräsentieren die Natur, jedoch nicht als etwas per se Äußerliches; ebenso symbolisieren sie die innere Natur der Gefühle und spielen die Rolle von stummen Beobachtern. Sie scheinen in einem Zustand beneidenswerter Unschuld zu verharren, der vom Kommen und Gehen menschlicher Leidenschaften unberührt bleibt. Den Menschen aber, die über Wissen von sich selbst und die Welt verfügen, bleibt dieser himmlische Zustand verwehrt. Tiere fungieren als Erinnerung daran, dass die Menschen selbst dafür verantwortlich sind, den glücklichen Zustand herzustellen, mit sich selbst und der Welt eins zu sein.

Rolf Borzig starb 1980 im Alter von dreißig Jahren, doch in den sieben Jahren, die er gemeinsam mit Pina Bausch in Wuppertal verbrachte, hatte er es vermocht, dem Tanztheater ein einzigartiges, unverwechselbares Gesicht zu geben. Er entwarf Dekorationen, die Ereignisse auf der Bühne auslösten, so, als ob sie sich Trugbildern und Flüchtigkeit trotzen wollten. Beziehungen zwischen Menschen und Gegenständen wurden dadurch sichtbar, und beschrieben sehr genau das alltägliche Drama der menschlichen Existenz.

Ein alleinstehender großer Werkzyklus Bauschs setzt sich aus Erinnerungsstücken an Städte zusammen:

Viktor (über Rom, 1986), Palermo Palermo (Palermo, 1989), Tanzabend II (Madrid, 1991), Ein Trauerspiel (Wien, 1994), Only You (Los Angeles, San Francisco, Austin, Texas, 1996), The Window Washer (Hongkong, 1997), Masurca Fogo (Lissabon, 1998), O Dido (Rom, 1999), Wiesenland (Budapest, 2000), Água (São Paolo, 2001), Nefés (Istanbul, 2003), Ten Chi (Saitama, 2004), Rough Cut (Seoul, 2005), Bamboo Blues (Kalkutta, 2007), „...como el musguito en la piedra, ay si, si, si...“ und „Like Moss on the Stone“ (Santiago, 2008-2009).

Die Idee bestand darin, zu versuchen, das Gefühl einer Stadt und ihre nicht greifbare Atmosphäre widerzuspiegeln; eine Art eigene Kulturanthropologie zu entwerfen. Das Hauptinteresse Pinas war es, nachzuvollziehen, welche Bedeutung ein Ort für Menschen hat.

Hierfür fuhr die Truppe zu einer Art kreativer Dienstreise in die ausgewählte Stadt. Nach ihrer Rückkehr arbeiteten Pina und die Tänzer*innen nach der Methodik von Fragen und Schlüsseln am Stück. Dessen Premiere fand in Wuppertal statt, und fast unmittelbar darauf in der Stadt, auf die sich das Stück bezog. Auf diese Weise bedankte sich das Theater bei der Stadt für die Möglichkeit, über sie zu tanzen. 
Ein interessantes anthropologisches Experiment wurde das Stück „Kontakthof“, das erstmals 1978 von der Theatertruppe inszeniert wurde. Es zeigt eine Tanzstunde oder einen Tanzabend, allerdings aus dem tragisch-komischen Blickwinkel der bloßgestellten Wechselbeziehung zwischen Männern und Frauen, überhaupt zwischen Menschen. Im Jahr 2000 brachte Bausch ein Stück auf die Bühne, für das sie Darsteller*innen über 65 Jahren engagierte. Acht Jahre später wiederholte sie diese Arbeit, allerdings dieses Mal mit 14-jährigen Teenager*innen. Nach den Worten von Mitwirkenden bot dieses Stück eine Möglichkeit der Selbsterfahrung, der Auseinandersetzung mit schmerzhaften Bereichen und Problemen in der Kommunikation mit anderen. Für das Tanztheater aber war es ein weiterer Beweis dessen, dass der Kunst keine Grenzen gesetzt sind.

Mit dem Jahrhundertwechsel war Pina bereits eine weltweit bekannte, hochgeschätzte Choreographin, die mit vielen internationalen Preisen und Anerkennungen ausgezeichnet wurde.

Nichtsdestotrotz konnten Wuppertal und seine Einwohner*innen – also das unmittelbare Publikum des Theaters – der Inszenierungsmanier Pinas sehr lange nichts abgewinnen. Anfangs verließen Zuschauer*innen den Saal, beschwerten sich lautstark oder schmissen gar Dinge auf die Bühne. Es gab selbst Drohanrufe im Theater. Aber Bausch ist keine von denen, die Dinge nicht zu Ende bringen. Hochgradig asketisch im Alltag und taktisch im Umgang initiierte Bausch – womöglich ohne das selbst absehen zu können und rein intuitiv handelnd – im Bereich der Theaterkunst eine Revolution. Sie erweiterte die Horizonte des Tanztheaters in unendlichem Maße, sowohl was die ästhetische, als auch was die plastische Dimension angeht.

Pina Bausch hat es vollbracht, ein Tanztheater zu begründen, dass Zuschauer*innen auf der ganzen Welt inspirierte und in seinen Bann schlug.

Ein Tanztheater, das keine Worte und keine Stimmen fürchtet; ein Theater voller Schönheit, das keine Angst davor hat, hässlich oder abwegig zu erscheinen; ein Theater der Intuition, das man physisch erspüren kann; ein Theater über die innere Einsamkeit, das durch Reflexion in der Gruppe entsteht. 

[1] W. Kandinsky: Vom Geistigen in der Kunst. M.: „Э“, 2018. S.94.
[2] F. Nietzsche: Also sprach Zarathustra. // Gesammelte Werke. М., 1990. S. 190
[3] H. Holm: The German Dance in the American Scene. // Modern dance. New York, published by E. Weyhe, 1935. P. 81.
 

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