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Konstruktivismus
„Das russische Bauhaus“

Bauhaus Nowosibirsk
© Goethe-Institut

Sibirien hat, wie sich zeigte, sein eigenes Bauhaus – allerdings unter dem Namen „Konstruktivismus“. Viele Wissenschaftler sprechen von Parallelen zwischen der bedeutenden deutschen Schule und der sowjetischen Aufbaubewegung einer „Neuen Welt“. In Lehrbüchern zur Kunstgeschichte werden Bauhaus und Konstruktivismus als Referenzpunkte für die Architektur des 20. Jahrhunderts in einem Atemzug genannt.  Wir laden euch auf einen Spaziergang durch das Zentrum von Nowosibirsk ein, das für sein konstruktivistisches Erbe berühmt ist.
 

Von Jekaterina Perewersewa

Der Konstruktivismus in der UdSSR hat sich parallel zur Entwicklung der Bauhaus-Schule in Deutschland formiert. 1920 entstanden in Moskau die Höheren Künstlerisch-Technischen Werkstätten (WChUTEMAS), deren Adepten auf überflüssigen Dekor verzichteten und dazu aufriefen, die neuesten Errungenschaften von Wissenschaft und Technik einzusetzen – wobei sie sich an strengen geometrischen Formen und an Masse orientierten. Jeder Raum, ob für Wohnzwecke oder industriell genutzt, sollte einfach und funktional sein.  

Heute ist nur noch schwer nachzuvollziehen, welche Vertreter*innen welcher dieser miteinander verwandten Stile (Bauhaus, Konstruktivismus und eine Reihe anderer Stile werden oft zusammengefasst als „funktional“ bezeichnet) die eine oder andere Entscheidung initiiert haben. Jemand hat die Küche zum Küchenblock verkürzt, der Nächste das Badezimmer in eine Mini-Sanitärzelle verwandelt, der Dritte verzichtete auf Parade- und Hintereingänge. In unseren Tagen wird dies alles immer noch für die Projektierung von Einzimmerwohnungen und selbst Hotelzimmern angewandt.

Anlässlich des Jubiläums „100 Jahre Bauhaus“ und im Rahmen der Vorbereitung auf die Ausstellung „The City Of Tomorrow“ im Jahre 2020, die sich mit der sowjetischen Moderne in der Architektur beschäftigt, hat das Goethe-Institut Nowosibirsk eine begrenzte Auflage an eigenen Moleskins mit Abbildungen konstruktivistischer Gebäude herausgegeben – mit Architekturdenkmälern regionaler und föderaler Bedeutung. Jedes von ihnen hat seine eigene interessante Geschichte.
   Foto: Iwan Motorin, von der Website novosibdom.ru
Gebäude des Aeroklubs, Ul. Krylowa 24
Baujahr: 1934
Architekt: W. Tejtel

 
In der Geschichte des Nowosibirsker Aeroklubs (des Gorki-Klubs junger Piloten) gab es Höhen und Tiefen, was ihn aber nicht daran hinderte, sich seine Einzigartigkeit zu bewahren.  

Das Gebäude wurde in den 30-er Jahren im Stil des Konstruktivismus geplant. Die Unterschiede in der Etagenhöhe des Aeroklubs sind konkret auf diese Architekturströmung zurückzuführen, während auf die dekorative Ausführung die damals gerade in Mode kommende Neoklassik stärkeren Einfluss hatte. Zur sowjetischen Zeit prangten auf der Fassade nicht selten agitatorische Losungen und Führerportraits.

Im Aeroklub selbst waren Unterrichtsräume und ein Zuschauersaal untergebracht, auf dem Gelände außerdem Werkstätten, eine Funksendestation und ein Fallschirmsprungturm. Die Ausbildung im Aeroklub bestandenen nur die besten der Besten: so wurde 13 Absolvent*innen später der Titel „Held der Sowjetunion“ verliehen. Auch die berühmte Versuchspilotin Marina Popowitsch, die mehr als hundert Weltrekorde errungen hat, trainierte hier.
Mit der Zeit nahm der Ruhm des Aeroklubs ab. Zu unterschiedlichen Zeiten waren dort Institute, Museen und sogar der Schausaal einer Möbelfabrik untergebracht. Heute findet man um die Anlage herum einen Markt, ein Einkaufszentrum, Geschäfte und Kioske. In den 85 Jahren des Bestehens des Gebäudes wurde nie etwas angebaut oder rekonstruiert – vermutlich, damit es sich jene Romantik bewahrte, die sowjetische Flieger*innen zu solchen Heldentaten motiviert hatte.

 Foto: Iwan Motorin, von der Website novosibdom.ru Staatsbank, Krasnyj Pr. 27
Baujahr: 1930
Architekt: А. Krjatschkow
 

Nicht viele Gebäude in Nowosibirsk haben einen eigenen Wikipedia-Eintrag; das Gebäude der Staatsbank allerdings kann sich schon damit rühmen.

Die glanzvolle Geschichte der Staatsbank begann im Jahr 1928, als in der gesamten Sowjetunion ein Wettbewerb für das beste Bauprojekt ausgerufen wurde, zu dem es 25 Einsendungen gab – der Großteil davon entstammte Moskauer Architekten. Es gewann ein Entwurf von Moissei Ginsburg, der vorschlug, ein Gebäude mit einer Fläche von tausend Quadratmetern zu bauen, wozu ein Saal für 300 Menschen, ein Kindergarten und Wohnungen für Führungskräfte gehören sollten. Allerdings wurde nachfolgend eine Kürzung des Budgets beschlossen, und Andrej Krjatschkow arbeitete den Entwurf Ginsburgs weiter aus. Im Ergebnis wurden in dem Bau die Räumlichkeiten der Bank (inklusive Panzer-Lagerräumen und Safes), ein großer Saal für Besucher*innen, ein Klub für die Angestellten und Dienstwohnungen untergebracht.

Das Gebäude der Staatsbank ist in der Form des russischen Buchstaben „П“ gestaltet und verfügt über eine unterschiedliche Etagenhöhe – was zu den klassischen Merkmalen des Konstruktivismus zählt. Eine Seitenfassade hat aus Sicherheitsgründen keine Fenster: dort sind die Safes und Lagerräume angesiedelt.
Der Architekt verstand es, gelungene räumliche Formen und einen günstigen Maßstab für die Anlage zu entwerfen, welche sich harmonisch in das Bild des zu dieser Zeit Formen annehmenden Zentralen Platzes der Stadt einfügten, und die rotbraune Farbe des Stucks durchbrach das „ewige Grau“, das nicht selten von all denen kritisiert wird, die keine Freunde des Konstruktivismus sind.  
 


 Foto: Iwan Motorin, von der Website novosibdom.ru Haus mit den Uhren“ (Kraisnabsbit-Wohnhaus), Krasnyj Pr. 11
Bauzeitraum: 1931-1934
Architekten: B. Gordejew, S. Turgenjew, N. Nikitin
 

Eines der aktuellen Symbolzeichen der Stadt ist das erste Wohnhaus mit Laubengängen hinter dem Ural. Alle 67 Wohnungen sind durch Galerien und einen einzigen Aufzugschacht miteinander verbunden, und für das ganze Haus waren nur drei Treppen vorhanden. In einer solchen Verknappung der Anzahl vertikaler Kommunikation sahen die Autoren des Projekts konkrete Vorteile.

Das „Haus mit den Uhren“ konnte praktisch autonom existieren, denn es war darin einfach alles vorhanden: von Wäschereien bis zum Kindergarten. Im Hof stand ein Brunnen und es gab eine kleine Bühne. Küchen allerdings waren nicht vorgesehen: man ging davon aus, dass die Bewohner*innen zusammen essen sollten – in der ebenfalls vorhandenen Kantine. Im Nachhinein rüsteten die Bewohner*innen des Hauses natürlich private Küchen für sich nach.  

Ursprünglich sollten im Haus Führungskader leben, darum ging in der Stadt das Gerücht um, dass es im Keller unterirdische Gänge gäbe, die zum Gebietskomitee führen sollten. Dokumentierte Bestätigungen gibt es aber nicht, und insofern blieben diese Vermutungen ein Teil der Stadtlegende.

Zu den Besonderheiten des Hauses gehört es, dass die Turmuhren im Jahre 1934 in Betrieb genommen wurden. Mehr als 80 Jahre lang funktionierten sie exakt, vor einigen Jahren jedoch blieben sie plötzlich stehen. Doch die Geschichte nahm ein glückliches Ende: Vor einem Jahr wurden die Turmuhren repariert, und nun erfreuen sie wieder die Bewohner*innen und Gäste der Stadt.


 Foto: Iwan Motorin, von der Website novosibdom.ru Zentralhotel (Mietshaus), Krasnyj Pr. 25
Bauzeitraum: 1926-1928
Architekt: D. Fridman

 
Das Gebäude am Zentralplatz (früher: Marktplatz) war das erste, was während dessen Konstruktion gebaut wurde. Denn zum Zeitpunkt der Errichtung des Zentralhotels entstand gerade erst die Idee, einen Platz in der Form zu errichten, wie es heute üblich ist. Hierfür wurden von der Baulinie des Prospekts ausgehend 65 Meter freigelassen, wodurch das Gebäude nach dem Beispiel des Gostiny Dwor in Sankt Petersburg im Inneren quasi „versenkt“ wurde – wodurch sich der Komfort für die Fahrer der Kutschen und später der Automobile erhöhte.  
In diesem klassischen Beispiel für den konstruktivistischen Stil sind kunstvoll Elemente der rationalistischen Moderne eingeflochten. Die „Rosinchen“ sind fünf große Erkerfenster. Es ist bekannt, dass der Architekt nach seinem Sieg im geschlossenen Wettbewerb um die Umsetzung des Projekts dazu aufgefordert wurde, die am besten geeigneten Ideen der Zweit- und Drittplazierten mit in die Planung einzubeziehen.
Interessant ist auch die Herkunft des Namens: Früher galten Häuser, in denen Wohnungen vermietet wurden und den jeweiligen Eigentümern Einnahmen erbrachten, als Mietshäuser. Das Nowosibisker Haus erhielt seinen Namen, weil seine Räumlichkeiten der Stadt Einnahmen bringen sollten – das ging konform mit der Neuen Ökonomischen Politik, die in diesen Jahren herrschte. Heute würde ein solches Haus wohl als „Business-Zentrum“ bezeichnet werden: im Erdgeschoss waren Supermärkte, Cafés und eine Bank untergebracht, die zweite und dritte Etage war dem Hotel vorbehalten. Lange Zeit wurde im Gebäude das Restaurant „Zentral“ betrieben, welches das teuerste in der ganzen Stadt war.


 Foto: Iwan Motorin, von der Website novosibdom.ru Kraiispolkom-Bürogebäude (Regierung des Gebiets Nowosibirsk), Krasnyj Pr. 18
Bauzeitraum: 1930-1933
Architekten: B. Gordejew, A. Krjatschkow, S. Turgenjew

 
Das sich zügig entwickelnde Nowosibirsk hatte Bedarf an einem neuen majestätischen Gebäude für seine Regierung. An diesem Projekt arbeitete eine ganze Gruppe von Architekten: für große Ideen braucht es eben auch ein großes Team.

Geplant war ein siebenetagiges Gebäude mit einer Gesamtfläche von fast 10.000 Quadratmetern. Die Kalkulation entsprach diesem Umfang: zwei Millionen Rubel. Solche Maßstäbe waren aber auch angemessen, denn im Gebäude sollten mehr als 2.000 Menschen untergebracht werden, und ein Aufgang war gänzlich diesen Wohnungen vorbehalten.

Das Ergebnis übertraf die kühnsten Erwartungen: Das Kraiispolkom-Gebäude war auf dem Krasnyj Prospekt schon von Weitem zu sehen und versetzt durch seine Wuchtigkeit noch heute, 90 Jahre später, jeden in Erstaunen. Besonders markant ist der Erker (so wird der halbrunde Teil des Gebäudes genannt).  Dass dieses Gebäude eines der besten seiner Art geworden ist, belegt auch der Fakt, dass das Kraiispolkom-Bürogebäude in die Liste der besten 800 Avantgarde-Gebäude der Welt und in alle Lehrbücher zur sowjetischen Architekturgeschichte aufgenommen wurde.

Es ist eines der wenigen bedeutenden Objekte der Stadt, die praktisch in ihrem Ursprungszustand erhalten geblieben sind, da sie einfach keinerlei Rekonstruktion erfordern. Auch setzt es sich stark von allen anderen administrativen Gebäuden in Sibirien ab, die nach dem „Schachtelprinzip“ erbaut wurden.  
 
 

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