Klassengesellschaft und Arbeitswelt
Klassengesellschaft revisited

In Deutschland werden die Menschen, die den Laden und unser ganzes Wirtschaftssystem am Laufen halten, für ihre Arbeit zu schlecht bezahlt. Schaut man über den Tellerrand, wird die Ausbeutung in globalem Maßstab deutlich.

Helmut Kohls Satz „Leistung muss sich wieder lohnen!“ aus dem Jahr 1982 leitete einen grundlegenden Veränderungsprozess in der kapitalistischen Arbeitswelt ein. Für die, die ihre Arbeitskraft einbrachten, war das keine gute Nachricht. Denn was Leistung ist, wurde gesellschaftlich neu bewertet: „Als Leistungsträger:innen galten fortan andere: Unternehmer:innen, Manager:innen, Berater:innen und all diejenigen, die Geld, Einfluss und Erfolg hatten.“ Die Leistung „normaler“ Beschäftigter verlor an gesellschaftlicher Anerkennung und „lohnte“ sich im Verlauf der folgenden Jahrzehnte immer weniger.

Mayer-Ahuja und Nachtwey: Verkannte Leistungsträger:innen © Suhrkamp Für diese Entwicklung nennen die beiden Soziolog*innen Nicole Mayer-Ahuja und Olivia Nachtwey in der Einleitung des von ihnen herausgegebenen Sammelbands Verkannte Leistungsträger:innen fünf Gründe. Erstens wurden die Steuern gesenkt, was vor allem Vermögenden zugutekam; man ging „von der gewagten Annahme [aus], dass Vermögen schon irgendwas mit besonderen Leistungen zu tun haben müsse“. Diese Steuerverluste mündeten in eine Unterfinanzierung des Staates, was zweitens zur Folge hatte, dass in öffentlichen Diensten gespart wurde, insbesondere an Personal. Diese Einsparungen wurden zu einem großen Teil durch Outsourcing und Privatisierung staatlicher Tätigkeiten erreicht. Drittens wurden die sozialen Sicherungssysteme zurückgeschnitten, es kam zur Senkung der Lohnnebenkosten. Das entlastete die Unternehmen und gab den Arbeitnehmer*innen zwar „mehr Netto vom Brutto“, doch im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder im Alter erhielten sie weniger Unterstützung. Viertens wurde der Druck auf Arbeitslose erhöht. Das Prinzip der Förderung wich mehr und mehr einem System, das forderte und sanktionierte. Dank dieser neuen „Arbeitsmarktpolitik fanden, fünftens, Unternehmen selbst für unattraktive Jobs genügend Interessent:innen“. Die Zahl an prekär Beschäftigten nahm zu. Der Niedriglohnsektor wuchs und umfasste 2017 etwa ein Viertel aller abhängig Beschäftigten.

Aus dem Maschinenraum unserer Gesellschaft

Diese Entwicklung führte dazu, dass wir längst nicht mehr in einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ leben, sondern wieder in einer Klassengesellschaft. In diesem Gesellschaftsmodell wird der Status eines Menschen von seiner individuellen Position in der Klassenhierarchie bestimmt, die wiederum von Qualifikation, Beruf, Geschlecht, Ethnie etc., aber auch von der Herkunft abhängt. Die „Chancenstruktur einer Gesellschaft“ ist ein weiterer Faktor, der den Status bedingt. Hierbei geht es um die gesellschaftliche Definition von „besseren“ Jobs, die mehr Einkommen, Prestige und Privilegien bringen als andere. In der gesellschaftlichen Hierarchie weiter oben stehen Menschen nur, „weil andere unten stehen“. Schließlich hängt der Status eines Menschen auch noch von seiner „Stellung im System der Arbeitsteilung“ ab, die über die Frage entscheidet, ob ein Mensch relativ autonom arbeitet oder eben der Macht anderer unterworfen ist, sprich: kontrolliert und ausgebeutet wird.

Auf die sehr luzide Einleitung folgen ebenso aussagekräftige und lehrreiche „Berichte aus der Klassengesellschaft“, wie sie der Untertitel des Buches verspricht. Dargestellt wird eine Vielzahl an Einzelfällen aus den unterschiedlichsten Dienstleistungsbranchen. Diese Berichte decken Arbeiten im Erziehungs- und Pflegebereich, im Gesundheitswesen, in Nahrungsmittelindustrie, Logistik, Gebäudereinigung, körpernahen Dienstleistungen und vielem mehr ab. Allen Tätigkeiten gemeinsam ist, dass sie schlecht bezahlt sind und oft zu prekären Lebensverhältnissen führen, obwohl sie wichtige Beiträge zur „Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Beziehungen“ leisten und somit eigentlich „systemrelevant“ sind.

Der Sammelband liefert tiefe und sehr realistische Einblicke in den Maschinenraum unserer Gesellschaft. Die vielen Originaltöne und nacherzählten Lebensgeschichten machen die in der Einleitung dargelegte Analyse enorm anschaulich. Für diese soziologischen „Porträts von Menschen, die mehr verdient hätten“, ist das Buch vollkommen zurecht auf Platz 3 der Sachbuchbestenliste Januar 2022 gelandet.

Drecksarbeit weltweit

Stremmel: Drecksarbeit © Knesebeck Wer den Blick weiten, globale Zusammenhänge unseres Wirtschaftes und Konsumierens sowie deren Konsequenzen verstehen will, ist mit Jan Stremmels Drecksarbeit bestens bedient – ein gleichfalls sehr lesenswerter Reportagenband. Der u.a. für die Süddeutsche Zeitung tätige Journalist bietet, so der Untertitel, zehn „Geschichten aus dem Maschinenraum unseres bequemen Lebens“.

Für seine Reportagen reiste er u.a. zu Sandräuber*innen auf den Kapverden, hat in Kenia Rosen gepflückt, in Paraguay Grillkohle hergestellt, die letzten Fischer vom Aralsee besucht und auf einer Kaffeeplantage in Kolumbien mitgearbeitet. Er informiert über lokale und historische Hintergründe und konfrontiert uns mit individuellen Schicksalen sowie unvorstellbaren Arbeitsbedingungen. Als Stremmel eine Färberei in Kolkata besucht, versteht er zu spät, weshalb alle Arbeiter Flip-Flops tragen. Er hatte gedacht, dass seine Turnschuhe ein besserer Schutz gegen die blubbernden Pfützen am Boden sind. Abends versteht er dann, warum nackte Füße bei diesem Job besser sind: Man kann die Chemikalienbrühe jederzeit mit Wasser abwaschen.

Die Bezüge zu unserem Lebensstil werden ebenfalls immer hergestellt. So ist etwa das riesige Meer aus plastikbespannten Gewächshäusern in Andalusien, wo Gemüse angebaut wird, das im Winter in deutschen Supermärkten angeboten wird, mitverantwortlich dafür, dass der Wasserbrauch eines Deutschen bei knapp viertausend Litern pro Tag liegt: „Das liegt nicht daran, dass wir zu lange duschen… Sondern an dem, was wir indirekt verbrauchen.“

In einfacher, klarer Sprache führt uns Stremmel vor Augen, was anderswo auf der Welt von Menschen erlitten und an Natur zerstört wird, damit globale Unternehmen möglichst profitabel sind und wir möglichst günstig konsumieren können. Auf der Rosenfarm in Kenia wird ihm klar: „Wie unter einem Brennglas zeigte sich am Naivashasee, was für Ökosysteme überall gilt: Alles hängt mit allem zusammen.“
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Nicole Mayer-Ahuja und Oliver Nachtwey (Hrsg.): Verkannte Leistungsträger:innen. Berichte aus der Klassengesellschaft
Berlin: Suhrkamp, 2021. 567 S.
ISBN: 978-3-518-03601-3
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Jan Stremmel: Drecksarbeit. Geschichten aus dem Maschinenraum unseres bequemen Lebens
München: Knesebeck, 2021. 192 S.
ISBN: 978-3-95728-515-7