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USA

Ausgesprochen ... Berlin
Der Techno-Drift

Menschen tanzen auf dem Tempelhofer Feld
© Margarita Tsomou

Unsere Kolumnistin Margarita Tsomou verzehrt sich nach durchtanzten Nächten. Heute erzählt sie, wie die Berliner Subkultur trotz Pandemie und Abstandregeln raven geht und ihre Freiheit zelebriert. Mit ihrem Tanz auf dem Tempelhofer Feld setzt Margarita Tsomou den antidemokratischen Demonstrant*innen vor dem Reichstag etwas entgegen.

Von Margarita Tsomou

Der Herbst kündigt sich in Berlin an und gibt einen leicht bitteren Vorgeschmack auf den Pandemiealltag im Winter. Die Stimmung ist gedämpft. Unter befreundeten Künstler*innen gibt es die ersten besorgten Gespräche: Bis zu welchem Grad werden wir überhaupt tanzen, performen und singen dürfen? An die Tatsache, dass Ausstellungseröffnungen, Premierenfeiern oder Festivalabende momentan ein hohes Gesundheitsrisiko darstellen, können wir uns nicht gewöhnen. Sicher: Kultur wird unter Auflagen stattfinden können, jedoch ohne  die kollektive Zusammenkunft, in der wir die Freude an Kultur miteinander teilen: Feiern. Ein Trauerlied darauf kann die Berliner Clubszene singen: ausgelassene Club- oder Partynächte, die den „Mythos Berlin“ so geprägt haben, sind in naher Zukunft ausgeschlossen. Dies ist sogar in der Gewerbeordnung zur „Tanzlustbarkeit“ geregelt – ein Begriff, der die Sache auf den Punkt bringt: Wir sind eine kranke Gesellschaft, die sich gerade „Tanz“ und „Lust“ nicht erlauben kann. Versteht mich nicht falsch, ich erachte die Corona-Vorkehrungen für absolut notwendig. Doch es ist kein Widerspruch gleichzeitig wertzuschätzen, was kollektive Erheiterung für Menschen bedeutet und ihren Verlust zu betrauen.

In jeder Kultur und zu jeder historischen Phase stellten Singen und Tanzen Gemeinschaft her. Rituelle Festlichkeiten waren schon immer für jede Gesellschaft alltäglich Gemeinsame Feiern markierte den sozialen Zusammenhalt und spendet Trost, um schwierige Zeiten zu verkraften. Dies zumindest schreibt das queere Berliner Partykollektiv „Lecken“ in ihrem Fanzine „Cancelled 2020“, das als Alternative zu den abgesagten Partys der letzten Monate herausgegeben wurde.

Die Aktivist*innen von „Lecken“ sind der Überzeugung, dass wir, während der Pandemie neue Wege finden müssen, sozial miteinander Glück zu erleben. „Lecken“-Mitglied Maria F. Scaroni entwickelte hierzu den „techno-drift“: eine neue Art von kollektivem Tanzhappening, das meinen Durst nach ausschweifendem Tanzen stillen konnte. Der „techno-drift“, ist eine Art „silent disco“, bei der alle auf Kopfhörern das gleiche Techno-DJ-Set hören und dabei als lose Gruppe durch die Stadt „driften“, sich also darin tanzend treiben lassen.

Wir treffen uns zu zehnt im Park um von dort aus für eine Stunde bis zum Tempelhofer Feld zu „raven“. Maria führt uns ein: sie bezieht sich auf die Tradition der Ekstase durch Tanz in paganistischen und indigenen Kulturen oder auf die urbanen Interventionen der Situationisten. Sie versteht den „drift“ als Ritual der Heilung, ein Covid-taugliches Medikament zur Linderung der psychischen und physischen Auswirkungen von sozialer Distanzierung, Isolation, Desorientierung. Ein Requiem an den Dancefloor, als kollektive Trauer- und Feierpraktik.

Wir synchronisieren den Techno-Track auf unseren Handys und während wir tanzend durch die Straßen laufen, winken uns Menschen zu, tanzten mit. Der Techno brummt in den Ohren, wir sind zusammen und gleichzeitig allein. Auf dem Tempelhofer Feld angekommen weiten sich Bewegungsradius und Blick. Wir rennen durch die Felder, grinsen und tanzen uns zu, schwingen mit den Armen empor zum Himmel, der zum Greifen nah scheint. In mir steigt eine seltsame Art von Rührung auf. Ich spüre unsere Verletzlichkeit als Gesellschaft, als Planet, die Verschärfung von Schmerz in der Pandemie; ich spüre in meinen Körper, der so lange nicht mehr getanzt hat. Er atmet auf, öffnet sich neu. Mir kommen die Tränen. Ich denke: ja es wirkt. Wir können uns im Tanz, jenseits verbaler Kommunikation und unter Einhaltung der Abstandsregeln, miteinander verbinden und so Trost finden. Dies gibt die nötige Kraft, um mit Resilienz und Kreativität, den kommenden Corona-Winter gemeinsam zu überstehen. Damit wird auch – entgegen aller Corona-Maßnahmen-Gegner –  klar, dass es sehr wohl erfinderische Wege gibt Freiheit zu leben und sich gleichzeitig solidarisch gegenüber seinen Mitmenschen zu verhalten.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im wöchentlichen Wechsel Gerasimos Bekas und Margarita Tsomou, Maximilian Buddenbohm, Qin Liwen und Dominic Otiang’a. Unsere Berliner Kolumnist*innen werfen sich in „Ausgesprochen … Berlin“ für uns ins Getümmel, berichten über das Leben in der Großstadt und sammeln Alltagsbeobachtungen: in der U-Bahn, im Supermarkt, im Club.

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