Blogeintrag 1
Die ersten Gehversuche...

...waren nach einer schlaflosen Nacht im Flieger ganz schön wacklig. Aus dem chaotischen Mumbai ging es für mich ins wohlgeordnete Quanzhou im Südwesten Chinas. Schon der Provinzflughafen von Jinjian (JJN) war picobello sauber. Die Fluggäste stellten sich zudem brav in eine Reihe und drängelten nicht etwa, sondern warteten geduldig, bis die Reisepässe kontrolliert wurden. Während der Fahrt ins Stadtzentrum konnte ich weitere Eindrücke sammeln: Nirgendwo ist Plastikmüll zu sehen. Das war zu erwarten. Aber der Lärmpegel ist viel niedriger als erwartet und die Luft gar nicht so versmogt. Ich kann sogar den Himmel sehen. Bin ich hier wirklich in China gelandet? Die vielen Hochhäuser, die Omnipräsenz von Han-Schriftzeichen, die fast jede Fassade säumen, und die knallige Lichtreklame lassen aber keine Zweifel aufkommen. Genau so habe ich mir China vorgestellt.
 

  • Vielleicht ist der Texter nach Jinjiang auf der Tastatur eingeschlafen - Hier wohne ich zum Glück nicht © Björn Karlsson
    Vielleicht ist der Texter nach Jinjiang auf der Tastatur eingeschlafen - Hier wohne ich zum Glück nicht
  • Dafür wohne ich aber gleich hinter der Brücke links – mitten im Zentrum von Quanzhou © Björn Karlsson
    Dafür wohne ich aber gleich hinter der Brücke links – mitten im Zentrum von Quanzhou
Durch den Großstadtdschungel navigiert mich Zoe. Sie ist die einzige DaF-Lehrerin an der Oberschule Nr. 7, an der auch ich unterrichten werde. Reiner Zufall ist, dass sie für ein Jahr in – Trommelwirbel – Köln gewohnt hat. Als Wahlkölner habe ich mich natürlich gefreut. Jecken trifft man halt övverall op d'r Welt! Gemeinsam besichtigen wir das Schulgelände und mein Apartment, das im 11. Stock und nur fünf Gehminuten von der Schule entfernt liegt. Danach drehen wir die ersten Runden in meinem neuen Kiez. Dabei konnten bizarre Delikatessen, etwa Schweineinnereien, meine Blicke am Straßenrand fesseln und exotische Düfte meinen Geruchssinn verfeinern. Schließlich standen noch lebenswichtige Beschaffungen auf dem Programm: chinesische SIM-Karte – check, Nudelsuppe mit Darmeinlage – check, und erster Einkauf in Eigenregie – eine Herausforderung, aber check. Jetzt nur noch den Campingkocher zum Laufen bringen, einen Cha trinken und danach schnurstracks ins Bett.

Seide aus Zaytun

Für unsere favorisierten Einsatzorte konnten wir Präferenzen angeben. Von den fünfzehn Städten, in denen jeweils mindestens zwei Millionen Menschen wohnen, kannte ich tatsächlich nur drei. Nach einer ersten Recherche fiel mir die Entscheidung aber gar nicht so schwer: Quanzhou, das frei transliteriert [tchüändjo] ausgesprochen wird, sollte es sein. Warum? Einerseits spricht mich die geografische Lage an. Denn die 8-Mio.-Metropole Quanzhou liegt direkt am Meer und nur einen Katzensprung von Taiwan entfernt. Das Klima ist so angenehm, dass sich ganzjährig kurze Hosen tragen lassen. Quanzhou befindet sich in der Provinz Fujian, die in etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands ausfüllt und neben ihrer ausgedehnten Küstenlinie auch über üppige Berg- und Waldlandschaften verfügt. Ich hoffte, dort Segel- und Kletterkontakte zu knüpfen, um an den Wochenenden Chinas Natur abseits der Menschenmassen kennenzulernen. Das war aber nur die eine Seite der Medaille. Quanzhou hat nämlich andererseits eine lange und bedeutende Geschichte zu erzählen, von der ich bis dato kaum etwas wusste.

Die Pagoden in Quanzhou sind imposant und verleihen dem modernen Flair der Millionenstadt ein gewisses Traditionsbewusstsein - um der Großstadthektik zu entkommen, lässt es sich hier auch ganz gut entspannen Die Pagoden in Quanzhou sind imposant und verleihen dem modernen Flair der Millionenstadt ein gewisses Traditionsbewusstsein - um der Großstadthektik zu entkommen, lässt es sich hier auch ganz gut entspannen | © Björn Karlsson Als Deutsch- bzw. DaF- und Geschichtslehrer komme ich hier also mit Sicherheit auf meine Kosten: Im DaF-Unterricht kann ich chinesischen Schülern u.a. die deutsche Sprache näherbringen und zwischen der chinesischen und deutsch-europäischen Kultur Brücken bauen, um voneinander zu lernen. Außerhalb des Unterrichts kann ich mich dagegen auf die Spuren von Marco Polo und Ibn Battuta begeben. Letzterer nannte die Stadt übrigens nicht Quanzhou, sondern Zaytun. Im 13. Jahrhundert war Zaytun der Ausgangspunkt der maritimen Seidenstraße und entwickelte sich infolgedessen, so Battuta, zum größten Hafen der Welt. Sogar schaffte es Quanzhou über die französische in die deutsche Sprache: Seide aus Zaytun war von solch außergewöhnlicher Qualität, dass sie fortan Satin genannt wurde.

12/7 in Quanzhou

Gleich nach meiner Ankunft wollte ich von Zoe wissen, für welchen Verein die Jungs im blauweißen Trainingsanzug auflaufen. Dass es sich um Schuluniformen handelt, hätte ich im Leben nicht erwartet. Insgesamt sind meine ersten Impressionen davon geprägt, dass hier wenig Platz für Individualität ist. Dass ich damit nicht ganz unrecht, aber auch nicht ganz recht habe, wird sich noch zeigen. Die öffentliche Oberschule Nr. 7 ist riesig. Über 6.000 Schüler verteilt auf vier Campus. Die Regelschule hat einen tadellosen Ruf und ist nach dem Gao Kao ausgerichtet. Gao Kao? Das chinesische Abituräquivalent ist die wichtigste Prüfung chinesischer Regel-Schüler, um einen begehrten Platz an den chinesischen Universitäten zu bekommen. Das ganze Gao-Kao-Prozedere ist mit enormen Druck für die Jugendlichen verbunden (...). An den Regelschulbetrieb ist ein internationales Studienprogramm angedockt: Mithilfe des Sino-American-Programs (SAP) können euphemistisch betrachtet SuS dem Gao-Kao-Wahnsinn entfliehen und einen englischsprachigen Schulabschluss anstreben, der sie für eine kalifornische Universität qualifiziert. In der Regel konnten die SuS aber in ihrer Vergangenheit nicht die geforderten Leistungen aufrufen, um nun am Regelunterricht der weiterführenden Schulen teilnehmen zu können. Zunächst komme ich beim SAP zum Einsatz. Weil DaF an dieser Schule nur eine marginale Rolle einnimmt, hospitiere ich zusätzlich im Geschichtsunterricht – auf Englisch natürlich. Ansonsten bin ich noch in den AGs und sportlichen Aktionen involviert. Ein DaF-Kurs für die Regel-Schüler sowie eine themenbezogene Vortragsreihe meinerseits sind in Planung. Und das alles für die nächsten 12 Wochen.