Blogeintrag 2
Und täglich grüßt der Wärter
Das Treppenhaus hinunter. Auf manchen Etagen glimmt kein Licht. Dort, wo es leuchtet, sehe ich verendete Kakerlaken. Im Foyer angekommen, grüßt mich der Hauswächter, der gleichzeitig den hauseigenen Kiosk betreibt, herzlich. Es ist schon bemerkenswert, wie viel Variation unsere Begrüßung zulässt, obwohl weder er englisch noch ich chinesisch spreche. Sobald ich das Haus verlasse, erdrückt mich die Sonne. Meine Augen kneife ich automatisch zusammen. Dabei brauche ich gerade sie, um den elektrischen Mopeds auszuweichen. Seit ein paar Jahren sind motorisierte Zweiräder nämlich nur noch mit Sondergenehmigung erlaubt. Mundschutz und Ohrstöpsel brauche ich also nicht. Aufpassen muss ich trotzdem. Denn die Motorgeräusche dienen mir normalerweise als Orientierung. Als Alternative dienen mir hier die Klappergeräusche. Ich schlendere den Weg samt Kanal zu meiner linken und Handwerksbetrieben zu meiner rechten Seite entlang. Ein Handwerker mittleren Alters zersägt dort jeden Tag dutzende Metallstangen. Den umherfliegenden Funken weiche ich aus. Ein Balanceakt zwischen unberechenbaren Pfützen und kreuzenden Mopeds. Den interessierten und manchmal etwas aufdringlichen Blicken versuche ich mit einem Lächeln zu begegnen. Oder sie, je nach Laune, gekonnt zu ignorieren. Aus der Ferne erkenne ich den schuleigenen Basketballplatz, wo die SuS bis zum letzten Sonnenstrahl spielen. Endlich am Seiteneingang angekommen. Den Wachposten entgeht kein Unbefugter. Wir entgegnen uns mit einem kurzen Blickkontakt, mit einem wohlwollenden Zunicken oder manchmal sogar mit einem Nihao. Die elektrische Barriere öffnet sich und ich darf eintreten.
Kollektives Sterben im Treppenhaus
| © Björn Karlsson
Kein Alltag
Das Office liegt neben dem Basketballplatz. Meistens ist Kim dort anzutreffen. Sie kennt die Belange der "Wessis" und findet für fast jedes Problem eine Lösung. Im Handumdrehen organisierte sie mir nach einer verzweifelten Suche die schweraufzufindende Butter und obendrein eine Rolle Camembert – wenn sich auch der „Camembert“ später als Butter entpuppte. Bei der internationalen Abteilung unterrichten neben mir noch fünf weitere ausländische und drei chinesische Lehrkräfte. Mister Wu leitet den Laden. Mittwochs und freitags finden meistens gegen Nachmittag AGs statt. Zudem hospitiere ich gelegentlich im Geschichtsunterricht. Sofern keine Sonderaufgaben anliegen, bin ich aber für die 10. Klasse verantwortlich. Der Klassenraum ist überraschenderweise mit einem interaktiven Whiteboard und ausreichend Platz für Bewegungs- und Gruppenaufträge ausgestattet - ideale Voraussetzungen. Fehlen nur die Protagonisten: Ich erwartete einen Klassenverbund, der kerzengerade und höchstmotiviert mitarbeitet. Pustekuchen! Zu meiner Verwunderung war nämlich das Gegenteil der Fall: Die meisten Schüler trudeln verspätet ein. Manche schaffen es gar nicht erst. Ein mir bekanntes Sprachniveau ist quasi nicht vorhanden und die Motivation, diesen Zustand zu verbessern, minimal. Ihre Aufmerksamkeitsspanne ist von kurzer Dauer. Nur beim Blick auf das Smartphone sind sie hochkonzentriert. Arbeitsmaterialien werden verlegt oder vergessen und die Sitzordnung täglich verändert. Bin ich in die Klischeefalle getappt oder habe ich die Punks von QZ erwischt? Was hier normal ist und was nicht, muss ich noch herausfinden. Allerdings bin ich gemessen am Gao-Kao-Wahnsinn grundsätzlich froh, dass sich nicht alle davon unterkriegen lassen. Wenn auch in diesem Fall, da sie ja eben nicht der Regelschule angehören, gezwungenermaßen. Einen Alltag einzuführen verkommt angesichts dessen zur Herausforderung. Eine, die ich gerne annehme.
So fahre ich ab nächster Woche auch zur Schule
| © Björn Karlsson
Feinkost aus Fernost
Zugegebenermaßen freute ich mich auf das Essen fast am meisten. Man hört ja die tollsten Dinge, was in China alles auf dem Tisch landet. Hund, Katze, Maus. Zwar blieben mir diese Erlebnisse bisher verwehrt, über mangelnde Kreativität kann ich mich allerdings nicht beschweren. Das Kollegium lud mich in ein traditionelles Restaurant ein. Zum Kennenlernen. Dazu bot sich das Separee mit rundem Tisch samt mittig positionierter Lazy Susan, die im Deutschen schlichtweg als Drehteller bezeichnet wird, ideal an. Bei der Essensauswahl hielt ich mich gekonnt zurück. Beim Futtern dafür überhaupt nicht. Zutaten und Zubereitung der einzelnen Gerichte sind nicht im Geringsten mit der Shanghai-Garden-Version in Deutschland zu vergleichen. Was stellvertretend an den Hühnerfüßen festzumachen war. Die Kellnerin schien gar nicht mehr aufzuhören, feurige Köstlichkeiten nachzuliefern. Wer soll das denn alles essen? Offensichtlich ich. Bereits zurücklehnend beteuerte mein Team nämlich, dass sie ihr Limit erreicht hätten. Ich ja eigentlich auch. Da ich aber annahm, Reste einzupacken sei unhöflich – ansonsten wäre man ja nicht satt geworden! –, aß ich munter weiter. Eine Lektion, die ich am nächsten Tag zwar bitter bereuen sollte, aus der ich aber bis heute nicht wirklich gelernt habe.
Eine chinesische Delikatesse - eingelegte Hühnerfüße
| © Björn Karlsson
Ähnliches galt gewissermaßen für mein erstes Hot-Pot-Spektakel. Dabei bekam ich gleich die volle Breitseite ab. Diesmal war ich mit Harry, meinem chinesischen Buddy, und seinen Freunden zu Tisch geladen. Inmitten unserer Runde erinnerten mich die drei Pötte, deren kochendes Wasser jeweils unterschiedlich gewürzt ist, an unseren Silvesterliebling: das Fondue. Dem ungeachtet haben die einzutauchenden Minimahlzeiten nur wenig mit einer lustigen Neujahrsnacht gemein. Aber hauptsächlich auf den ersten Blick: Sobald der Pansenhappen in den Tiefen des Hot-Pots verschwunden ist, bedarf es einer kurzen Wartezeit, bis das ölfettige Endprodukt wieder herausgefischt wird. Mit Stäbchen versteht sich. Und siehe da: Auf den zweiten Blick ist er viel appetitlicher. Was nicht zuletzt an meinem grandios zusammengestellten Dip liegen mag. Beim Schweinehirn half aber auch das nicht mehr. Wobei ich mich bis heute frage, ob das womöglich nur reines Schauspiel war. Dieses ist ihnen allerdings gelungen!
Alles andere als appetitlich - Schweinehirn
| © Björn Karlsson