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Johannes Ebert am 12. Dezember 2014
Warum Kultur in der Krise wichtig ist

Johannes Ebert über kulturelles Engagement als Teil einer vertrauensbildenden Außenpolitik in einem Beitrag für den Blog „Review 2014“ des Auswärtigen Amtes

In vielen Krisenregionen der Welt zeigt sich, wie wichtig ein verstärktes Kulturengagement als Teil einer nachhaltigen und vertrauensbildenden Außenpolitik ist. Kulturaustausch kann gerade bei der Bearbeitung tief sitzender gesellschaftlicher Konflikte eine zentrale Rolle spielen. Kunst und Kultur machen gesellschaftliche Konflikte bewusst und zeigen Perspektiven auf, wenn politische Prozesse an ihre Grenzen stoßen. Das interkulturelle Verständnis und die Auseinandersetzung mit anderen Wertvorstellungen sind entscheidende Voraussetzungen für die Verhinderung, Lösung oder Bearbeitung von Konflikten und bieten damit wichtige Chancen für eine vorsorgende Außenpolitik. Ein Beitrag von Johannes Ebert. 
 
Im April 2014, nur wenige Wochen vor den Wahlen eines neuen ukrainischen Präsidenten, traf ich in Kiew den Schriftsteller Andrej Kurkow. Kurkow ist einer der erfolgreichsten Autoren seines Landes. Er lebt mit seiner Familie nur 500 Meter vom Maidan, dem Zentrum der Proteste, entfernt. Erst im August erschien sein „Ukrainisches Tagebuch“, in dem er die Tage des Umbruchs in seiner Heimat schildert. Während unseres nächtlichen Spaziergangs sprechen wir über die komplizierte politische Gemengelage, über die Sehnsucht der Menschen nach einem demokratischen Land und über die Chancen der Kulturschaffenden und Intellektuellen, Einfluss zu üben. Kurkow sagt von sich, dass er in den letzten drei Monaten um fünf Jahre gealtert sei. Über die Gewalt auf den Straßen ist er entsetzt.
 
Kurkow und ich kennen uns seit 1997; seit 1993 ist das Goethe-Institut in Kiew aktiv. Dort arbeiten wir mit den Künstlern und Künstlerinnen vor Ort, mit den Vertretern von Kultur- und Bildungseinrichtungen und der freien Szenen eng zusammen. Die politischen Ereignisse seit Herbst 2013 haben gezeigt, dass sich das Land auch 13 Jahre nach der Unabhängigkeit immer noch im Übergang befindet: die laute Forderung nach stärkerer Teilhabe der Zivilgesellschaft an Entscheidungsprozessen, die unsichere Positionierung zwischen Europa und Russland, strukturelle Probleme in vielen Sektoren beispielsweise auch in der ukrainischen Kulturlandschaft – dies sind nur einige Herausforderungen des Transformationsprozesses. Kulturinitiativen fehlt es an Geld und Kompetenzen, gerade auch um junge Menschen zu erreichen. Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik kann hier einen wesentlichen Beitrag zur Stärkung der Zivilgesellschaft leisten, indem sie Akteure miteinander vernetzt und vor Ort oder in Deutschland qualifiziert. Gemeinsame Kulturprojekte zeigen unseren ukrainischen Partnern, dass Europa sie nicht vergessen hat. Grundlage für die schnelle Umsetzung – und das ist in Krisenzeiten besonders wichtig - ist der enge und kontinuierliche Kontakt zur Kulturszene und zivilgesellschaftlichen Akteuren vor Ort.
 
In den vergangenen Jahren ist viel über die Wechselwirkung von Kultur und Krisen reflektiert worden. Es wäre zwar blauäugig, die Wirksamkeit von Kulturarbeit bei der Lösung akuter kriegerischer Auseinandersetzungen zu überschätzen. Ich bin aber fest davon überzeugt, dass gerade der Kulturaustausch bei der Bearbeitung tief sitzender gesellschaftlicher Konflikte eine zentrale Rolle spielt. Warum? Kunst und Kultur machen gesellschaftliche Konflikte bewusst, können die Fähigkeit verstärken konstruktiv mit Konflikten umzugehen und zeigen Perspektiven auf, wenn politische Prozesse an ihre Grenzen stoßen. Eine vorausschauende Außenpolitik fördert das interkulturelle Verständnis und die Auseinandersetzung mit anderen Wertvorstellungen – entscheidende Voraussetzungen für die Verhinderung, Lösung oder Bearbeitung von Konflikten.
 
Wie sehen konkrete Projekte aus, die die Zivilgesellschaft und einen kritischen Austausch stärken? Hier einige Beispiele für Projekte, die das Goethe-Institut noch bis Ende dieses Jahres realisiert: Vor einigen Tagen ist eine Gruppe junger Kulturjournalistinnen aus der Ukraine, Georgien und der Republik Moldau nach Hamburg gereist, um an einem zweiwöchigen Seminar zum Thema Kulturberichterstattung mit Redaktionsbesuchen in deutschen Medien teilzunehmen. Solche Programme stärken den zivilgesellschaftlichen Diskurs indem sie Journalisten und Journalistinnen qualifizieren und vernetzen, die in ihren Ländern den gesellschaftlichen Wandel begleiten und dadurch eine Öffentlichkeit schaffen, die selbstbewusst zu aktuellen gesellschaftlichen Themen Stellung beziehen kann.  
 
Zu einer Exkursion in das Ruhrgebiet brachen Ende November acht Kulturexpertinnen und  Kulturexperten aus der Ukraine auf. Neben Vertreterinnen unabhängiger Kulturinitiativen, Kuratoren und Kulturmanagerinnen sind auch Vertreter des ukrainischen Kulturministeriums und der städtischen Kulturverwaltung aus Kiew und Winnitsa in der Reisegruppe. Ziel der Reise ist es, alternative Modelle der Zusammenarbeit zwischen der freien Szene und Kulturverantwortlichen kennenzulernen.
 
„Depeche Mode“ ist ein Theater-, Musik- und Literaturprojekt, das Menschen aus verschiedenen Regionen der Ukraine miteinander ins Gespräch bringen will. Es basiert auf dem gleichnamigen Roman des jungen ukrainischen Autors Serhiy Zhadan, der ein bewegendes und zugleich erschreckend realistisches Bild des Lebens junger Leute nach dem Zerfall der Sowjetunion zeichnet. Der Regisseur Markus Bartl aus Deutschland hat den Roman für die Bühne bearbeitet und will damit eine Diskussion über gesellschaftliche Realitäten in der heutigen Ukraine anregen.
 
Aber auch in anderen Krisenregionen der Welt zeigt sich, wie wichtig ein verstärktes kulturelles Engagement als Teil einer vertrauensbildenden Außenpolitik sein kann. Auf die Umbrüche in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens wurde mit Aktivitäten der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik kontinuierlich und schnell reagiert. Dabei ist es ganz wesentlich, dass Kulturinstitute einen Freiraum bieten können. So konnten unter Mubarak zum Beispiel Filme gezeigt werden, die in Ägypten sonst der Zensur unterlagen. Im April 2011, kurz nach den Aufständen am Tahrir-Platz, haben das Goethe-Institut und die Deutsche Botschaft ihre Räume für die „Tahrir-Lounge“ geöffnet, ein von jungen ägyptischen Aktivistinnen und Aktivisten autonom organisiertes Veranstaltungsforum. Die Tahrir-Lounge steht beispielhaft für viele andere Begegnungsorte des Goethe-Instituts, in denen Menschen, die in Krisenregionen leben, ungehindert diskutieren, arbeiten und gestalten können.
 
Gesellschaftliche Umbrüche brauchen Zeit. Das ist im Nahen Osten genauso wie in der Ukraine der Fall. Umso wichtiger ist es, in diesen Ländern zivilgesellschaftliche Gruppen und Innovationsträger in Kultur und Bildung aktiv und nachhaltig zu unterstützen. Eine vorsorgende Außenpolitik ermöglicht kulturelle Begegnungen und Vernetzung vor, während und nach Krisen. Sie ist damit eine zentrale Grundlage für globale Verständigung.
 
Johannes Ebert,
Generalsekretär des Goethe-Instituts,
Beitrag für den Blog „Review 2014“ des Auswärtigen Amtes (http://www.review2014.de/de/blog.html)
12. Dezember 2014
 

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