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Philosophie
Philosophie der Freiheit: Die großen Jubiläen von Hölderlin, Hegel… und Engels

Hegel vor seinen Studenten am Katheder
© Franz Kugler / Wikimedia

Wie beeinflusst die heutige Krise die Solidarität zwischen uns und der wachsenden globalen Ungleichheit? Was passiert mit der Würde der menschlichen Arbeit, wenn ihr Preis fällt? Wie sieht die Zukunft der Kunst in einer Welt aus, in der die Möglichkeiten für Live-Kontakte begrenzt sind? 2020 hat uns mit diesen möglicherweise unerwarteten Fragen konfrontiert. In diesem Jahr feiern wir aber auch drei große Jubiläen von Denkern, die uns zu Antworten auf diese Fragen verhelfen können.

Ihre Geschichte beginnt vor 250 Jahren. Am 20. März 1770 wurde Johann Christian Friedrich Hölderlin in der kleinen württembergischen Stadt Laufen am Neckar geboren. Etwas später im selben Jahr, am 27. August, wurde Georg Wilhelm Friedrich Hegel in Stuttgart geboren. Das Schicksal bestimmt ihnen die Zukunft einer der größten deutschen und weltbekannten Dichter und einer der größten deutschen Weltphilosophen vor. Ihre diametral entgegengesetzten Lebenswege sind eng miteinander verflochten.

Von Ognian Kassabov

Das Morgenrot der Hoffnung

Im unruhigen Jahr 1788 begegnen sie sich zum ersten Mal als Studenten am berühmten Tübinger Stift. Sie sind nicht mehr von der orthodoxen protestantischen Theologie begeistert, sondern von der Philosophie Immanuel Kants, der sich die Aufgabe stellte, alle metaphysischen, religiösen und politischen Dogmen zu kritisieren. Ein Jahr darauf bricht die Französische Revolution aus, die von entscheidender Bedeutung für das Lebenswerk der beiden ist. Sie folgen ihr begeistert, pflanzen ihr zu Ehren einen Baum mit dem dritten berühmten Mitglied der Gesellschaft, dem 5 Jahre jüngeren Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, und übersetzen sogar die Marseillaise.

Gemeinsam stellen die drei ein philosophisches Manifest zusammen, das erst im frühen zwanzigsten Jahrhundert entdeckt werden würde und in dem sie sich für „allgemeine Freiheit“, das Ende des Staats und „gleiche Ausbildung aller Kräfte, des Einzelnen sowohl als aller Individuen“ erklären. In dieser Etappe aber bestimmen die wirtschaftlichen Umstände in den deutschen Ländern ihnen eine viel bescheidenere Zukunft vor: nach dem Abschluss des Stifts arbeiten die jungen Leute in verschiedenen Städten als Hauslehrer in wohlhabenden bürgerlichen Familien.

Hölderin und Hegel treffen sich in Frankfurt wieder und begrüßen gemeinsam das neue Jahrhundert. Ungeduldig auf dieses Wiedersehen wartend schreibt Hegel seinem Freund klassische schöne Gedichte. In den Jahren ihrer wiederholten Zusammenarbeit übt der Dichter mit seinem Verständnis der Liebe einen begrifflichen Einfluss auf den zukünftigen großen Philosophen aus – die innere Verbindung, die nicht nur zwei bereits abgeschlossene Subjekte zusammenbringt, sondern sie erst jetzt in deren eigentlicher Gestalt schafft. Die Entfaltung dieser Idee wird sich in Hegels späterem Denken zu einem zentralen Begriff entwickeln – dem Geist.

Die Dämmerung der Philosophie

Zehn Jahre später, im Jahr 1807, ist Hegel schon seit Langem in Jena und veröffentlicht sein erstes großes philosophisches Werk, die „Phänomenologie des Geistes“. Der in verschiedenen unbefriedigenden Diensten verloren gegangene Hölderlin erlitt einen psychischen Zusammenbruch und wurde im Haus des wohlhabenden und gebildeten Tübinger Tischlermeisters Ernst Zimmer untergebracht, wo er bis zum Ende seiner Tage 1843 bleibt.

Die Krankheit verlässt ihn nicht, doch in Momenten der Erleuchtung hilft er der Familie und schreibt Gedichte, einige davon mit erstaunlich kindlichem Ausdruck. Andere, die erst kürzlich entdeckt wurden, verwirren mit ihrer gebrochenen Syntax und ihren Bearbeitungsschichten. Hölderlin selbst denkt, dass er über eine andere Zeit schreibt – einer der Texte ist vom 29. März 1940 datiert. Laut einem Buch, das in diesem Jahr von deutschen Psychiatern veröffentlicht wurde und das gegen „das Klischee vom umnachteten Genie im Turm” gerichtet war, kämpfte er die ganze Zeit gegen die Krankheit.

Sowohl Hölderlin als auch Hegel erkennen, dass die Götter schon die Welt verlassen haben das Versprechen der Revolution nicht erfüllt wurde und das neue Zeitalter äußerst prosaisch und pragmatisch ist. Es macht die Natur und den Menschen zu Instrumenten und zieht der Schönheit den Profit vor. Einer der beiden zahlt für dieses Wissen mit seinem Verstand. Der andere stellt sich die Aufgabe, es zu überwinden und zu zeigen, wie wirklich die Freiheit dennoch in der sich aufbauenden neuen Welt ist.

Hegels monumentale Biographie, die in diesem Jubiläumsjahr in deutscher Sprache veröffentlicht wurde, heißt dementsprechend „Der Philosoph der Freiheit“. In seinen reifen Werken versucht er nicht nur abstrakte Themen, wie dass das Denken die Grundlage für sich selbst sein kann oder wie die verschiedenen Wissensbereiche ein lebendiges, organisches Ganzes bilden, sondern auch die verfügbare Realität des Zusammenhangs der modernen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zu begreifen. Eines der konkreten Paradoxe, die er uns hinterlassen hat, ist, dass das Wirtschaftswachstum nicht notwendigerweise die Verringerung sozialer Ungleichheiten mit sich bringt, sondern sehr oft das Gegenteil.

Bei allen Forschungen Hegels steht die Idee im Vordergrund, dass wir die Schöpfer unserer eigenen Wirklichkeit sind, dass sich der Geist im Widerspruch entwickelt, dass alle Errungenschaften der Freiheit in hartnäckigen Kämpfen erreicht wurden. Der Höhepunkt seiner Karriere kommt am Ende seines Lebens: Die überfüllten Auditorien an der Universität Berlin. Der Schlusssatz seines letzten veröffentlichten Textes warnt davor, dass die Regierenden eine neue Revolution erwarten können, wenn die Reformen nicht mutig genug sind.

Die Sache der Solidarität

Zehn Jahre nach Hegels Tod, im Jahr 1841, wird sein ehemaliger Freund Schelling, bis heute missverstandener Philosoph, von den Bildungsbehörden nach Berlin gerufen, um den schädlichen Einfluss der Lehren des absoluten Idealisten zu zerstreuen. Unter den Zuhörern des alten Schelling sind drei skeptische junge Männer, die sich nicht kennen, von denen aber jeder ein großes Schicksal vor sich hat: Der zukünftige Proto-Existentialist, der Däne Søren Kierkegaard, der zukünftige große Anarchist, der Russe Mikhail Bakunin…und Friedrich Engels.

Geboren am 28. November in Barmen (Wuppertal), im Gegensatz zu seinen Vorgängern in einer wohlhabenden Industriellenfamilie, wird der unerwartete dritte Friedrich in unserer Geschichte in diesem Jahr 200 Jahre alt. Er ist wahrscheinlich meist bekannt als Genosse und Wohltäter von Karl Marx, der nach dem Tod seines bekannteren Freundes seine Philosophie systematisierte und die Grundlagen des berühmten dialektischen Materialismus legte.

Jenseits dieser trivialen Auffassung hat Engels‘ Denken seine eigene Würde und Bedeutung. Sein zweifelloser Beitrag zur Soziologie – und zur Wissenschaft der öffentlichen Gesundheit – ist die Studie „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ (1845), die als Ergebnis einer Dienstreise zu Partnerunternehmen in Manchester und anderen großen britischen Industriezentren geschrieben wurde.

Diese sorgfältige Beschreibung der schrecklichen Arbeitsbedingungen, deren Zeuge Engels in England wurde, ist eine der ersten systematisch erfassten Beweise für die Verschlechterung des instrumentalisierten menschlichen Lebens. Die entfremdete Arbeit in der neuen Wirtschaft, die Hegel schon thematisierte, zeigt bereits ihre physisch verkrüppelte Seite. Deshalb ist es kein Wunder, dass Engels Jahre später schreiben wird, dass die Arbeiterbewegung, der er seine Kräfte gewidmet hat, die wahre Fortsetzung der Philosophie Hegels ist: Das Streben, die menschliche Freiheit in der zu verwirklichen.

Die Zukunft der Freiheit

Was sagen uns diese großen und besonders miteinander verbundenen Denker? Sind die Sehnsüchte Hölderlins nach den Weiten des antiken Hellas und die Sorgen Engels’ um die kräfteaufreibende Kinderarbeit in den Fabriken einfach in der Vergangenheit geblieben?

Wir sind nicht im 19. Jahrhundert, dennoch werden heute die damals von den Arbeitern errungenen Rechte stark angegriffen. Der Achtstundentag ist in der Vergangenheit. Die menschliche Arbeit wird immer unsicherer. Das Pandemiejahr 2020 hat eine Reihe von Problemen verschärft, die immer stärker vor den arbeitenden Menschen auftauchen. Die Massenansteckungen in großen Unternehmen in Europa haben gezeigt, dass nicht nur die Arbeit an vorderster Front oder die in der Dritten Welt gefährlich ist. Mit zunehmend begrenzten Ausdrucksmöglichkeiten werden die Künstler und die Kulturbeschäftigten von einem Umfeld, das ihre Arbeit nicht schätzen kann, in die Ecke geschoben. Der Druck wird nicht nur auf unserer körperlichen, sondern auch auf unserer geistigen Gesundheit stärker.

Lasst uns deshalb weder die heilende Kraft der Kunst, noch die Entschlossenheit, die Sache der Freiheit zu verteidigen vergessen. Wie könnte man diese Geschichte besser beenden, als mit den mysteriösen Worten des Dichters: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
 
Ognian Kassabov © Tsotscho Boyadzhiev Ognian Kassabov unterrichtet Philosophie an der Sofioter Universität. Seine Interessen liegen im Bereich der Ästhetik, der Naturphilosophie, des politischen Denkens und der deutschen Philosophie von Kant bis Marx.

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