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Vera Mlechevska
Der unbekannte Künstler und das wohlbekannte Bedürfnis nach Veränderung

Joseph Beuys
© Erich Puls / Flickr

Im Jahre 2021 wäre der deutsche Künstler Joseph Beuys 100 Jahre alt geworden. Er war einer der charismatischsten und umstrittensten Figuren in der Kunstwelt des 20. Jahrhunderts. Anlässlich des Jubiläums befasst sich das Goethe-Institut mit dem Einfluss seiner Ideen hier in Bulgarien. Inwieweit waren und sind die einheimischen Künstler*innen mit seinem Werk vertraut? Wie werden in der bulgarischen Kunstwelt vor und nach 1989 seine Vorstellungen von Freiheit und Politik und sein S nach Veränderung aufgenommen? Finden sie Resonanz?

Auf Einladung des Goethe-Instituts kuratiert Vera Mlechevska eine Ausstellung historischer und neuer Werke bulgarischer Künstler*innen, die sich mit einigen der Schlüsselideen von Beuys über Aktionskunst, die Soziale Plastik, Bildung und die sogenannte „plastische Theorie“ beschäftigen, sie interpretieren oder in Frage stellen. Die Ausstellung wird in Zusammenarbeit mit der Nationalen Kunstgalerie realisiert und Anfang 2022 präsentiert.

Von Vera Mlechevska

Joseph Beuys ist dem bulgarischen Publikum wenig bekannt. Auf den letzten Seiten des Informationsblattes „Chroniki“ (bulgarisch: Хроники – Chroniken) der bulgarischen Zeitschrift „Izkustwo“ (bulgarisch: Изкуство – Kunst) von 1976 erfahren wir von Ereignissen außerhalb des Landes, z. B. dass Beuys Deutschland auf der Biennale in Venedig vertritt. Zur kurzen Mitteilung (8-Punkt-Schrift) gibt es auch ein Bild in Schwarzweiß.
 
Den offiziellen Kulturbehörden in Bulgarien zufolge gehörten solche Projekte, die sich des formalen Experiments und der Sprache der Avantgarde bedienten, nicht zur legitimen Kunst. So wurden die Werke und Ideen von Joseph Beuys nur einzelnen bulgarischen Künstler*innen bekannt, die die Möglichkeit hatten, ins Ausland zu reisen und das Empfindungsvermögen aufwiesen, seine Kreativität zu würdigen, sehr oft in einem späteren Zeitraum, nach seinen aktiven Jahren.

Die Überbleibsel seiner kreativen Tätigkeit sind für den unwissenden Betrachter seltsame Gegenstände außer Gebrauch, Haushaltsgegenstände und Erzeugnisse aus einigermaßen abstoßend aussehenden organischen Substanzen wie Fett, Filz oder Honig. Manchmal werden diese Relikte auf Wunsch des Künstlers in Vitrinen ausgestellt, da die akustischen oder räumlichen Bedingungen nicht mehr denjenigen seiner ursprünglichen Aktionen entsprechen. Beuys stellte seine eigene Material- und Symbolsprache zusammen.
 
Die Kunstaktionen fanden in einer kohärenten Umgebung statt, die mit Klängen, Filmvorführungen und Requisiten durchsetzt wurde, die fast immer aus Fett, Filz und Kupfer bestanden. Alles unterlag einer eigenartigen, sogar scheinbar irrsinnigen Handlungslogik.
 
Joseph Beuys war bestrebt, seine Erfahrungen körperlich und seelisch zu erleben. Für mehrere Stunden verwandelte er sogar sich selbst in eine Art Skulptur (Der Chef, Galerie René Block, Berlin, 1964). Die Aktion begann um 16 Uhr. In einem hell beleuchteten Raum, 5 x 8 Meter, lag auf dem Boden eine zusammengerollte Filzdecke, etwa 2,25 Meter lang, in die sich Joseph Beuys - Professor an der Kunstakademie Düsseldorf – hatte einwickeln lassen. An den Enden der zusammengerollten Decke war jeweils ein toter Hase platziert. In der unteren linken Ecke, parallel zur linken Wand, gab es eine 167 cm lange Linie aus Margarine, ebenso wie in der linken Ecke des Raumes. Von der Decke hing ein Haarbündel, direkt neben dem eingehüllten Beuys lag ein ebenfalls mit Filz umwickelter Kupferstab, und rechts befand sich ein Verstärker, der alles aufzeichnete, was im Raum passierte. Hin und wieder gab Beuys allerlei akustische Botschaften und Geräusche von sich. Von einem zweiten Kassettenrekorder war eine Komposition von Eric Andersen und Henning Christiansen zu hören. Die Besucher der Galerie schauten sich das Ganze vom nächsten Raum an, kommentierten die Aktion und gingen. Um Mitternacht kam Beuys aus der Filzdecke hervor und mit dem Publikum ins Gespräch.
 
Nicht nur bei dieser Aktion, sondern auch bei vielen anderen blieb Joseph Beuys stunden- oder tagelang anwesend und erklärte unermüdlich seine Ansichten über die Welt, die Kunst und die Natur.

Beuys und Fluxus

 
Ähnlich wie Beuys selbst stellte Fluxus den Absurdismus und die Freiheit der Ausdrucksmittel der Dadaisten wieder her, die in der Kunstwelt der Nachkriegszeit fast vollständig aufgegeben worden waren. Die Fluxus-Bewegung wandte sich wieder der reinen Intuition zu, ungestört von jeglichen Beschränkungen im Genre und in der Ausdrucksform. Diese Künstler*innen versuchten, die Wellen eines frei fließenden Stroms einzufangen, die Pulsationen menschlicher Erfahrungen durch Bilder, Ton, Licht, Text, Schöpfungs- und Zerstörungshandlungen zum Ausdruck zu bringen und sie mit dem Publikum zu teilen. Die Aktionskunst basierte selten auf Vorplanung und Regie. Meistens wurden Performances durch bestimmte Handlungen „skizziert“, aber was vor dem Publikum passierte, wurde von Improvisation geleitet. So wurden die Aktionen durch Überraschung, durch die heilende Wirkung des anbrechenden Wahnsinns, sogar durch Spott und Begeisterung vervollkommnet.
 
Beuys wiederum kanalisierte diese Energie der Live-Aktion in seine eigenen Interessen und Bestrebungen. Schon sehr früh in seiner Karriere ließ er sich von der skandinavischen Mythologie, der Symbolik der Tierwelt und verschiedenen Naturprozessen inspirieren. Beuys sah eine Analogie zwischen Natur und Gesellschaft im Übergang von flüssig und organisch zu fest und kristallin, von intuitiv zu rational, von vergänglich und kurzlebig zu solide und dauerhaft.

Der Beuys-Mythos

 
Joseph Beuys strebte nicht danach, ein Objekt, ein Bild oder eine Situation zu erschaffen, oder zumindest war dies nicht sein Endziel. In seinen Aktionen wurde die Zeit zum gegenwärtigen Moment verdichtet. So entstand eine intensivere Erfahrung, die einem Ritual nahekam.
 
Im Ausstellungsdisplay waren für bulgarische Künstler*innen der 80er Jahre gerade diese Besonderheiten der Live-Performance und der Präsenz des Künstlers nicht immer greifbar. Auch für mich nicht.
 
Ich persönlich machte mich mit dem Werk und Biografie des Künstlers relativ spät vertraut. Damals war dem Beuys-Mythos den Nimbus schon teilweise genommen worden. Ich erfuhr, dass der Autor einer für mich unverständlichen Installation aus mehreren Holzschlitten und einem Krankenwagen Teile seiner Biografie erfunden hatte. Als Soldat des Dritten Reiches wurde er von anderen deutschen Soldaten gerettet, nicht von Tataren, wie er berichtete, um sein Gewissen zu beruhigen, nachdem er das Regime unterstützt hatte. In den 90er Jahren fielen viele Mauern, viele Autoritäten wurden entthront und als solide geltende Fundamente wurden erschüttert. Joseph Beuys war keine Ausnahme und die Kritik wurde ihm weder für seine bewussten noch für seine unbewussten Fehler erspart. Es ist jedoch erwähnenswert, dass er unter den Gegner*innen der Berliner Mauer war. Er schlug ironisch vor, die Mauer um fünf Zentimeter zu erhöhen. Beuys wurde durch die äußerst konservative Reaktion auf eine Fluxus-Aktion am 20. Juli 1964[1] in Aachen provoziert. Die Performance wurde von manchen anwesenden Student*innen feindlich aufgenommen, die entschlossen waren, die Veranstaltung zu sabotieren. Einer von ihnen schlug Beuys. Nur wenige hätten den Mut gehabt, nach so einem Vorfall mit dem Publikum zu sprechen und das Gespräch bis zwei Uhr morgens fortzusetzen, so wie er es tat.

Nach dem Krawall stellte Beuys die folgenden Fragen:
„Inwieweit trug jeder von uns dazu bei, den Bau dieser Mauer zu ermöglichen, und trägt weiterhin dazu bei, sie zu tolerieren? Sind alle am Fall dieser Mauer interessiert?”
 
Es ist erstaunlich, dass Beuys stets versuchte, gegenläufige Ansichten näher zusammenzubringen, doch er wurde oft von beiden Seiten angegriffen. 1967, nur wenige Jahre nach der Aktion in Aachen, wurde er in der Berliner Galerie René Block von linksradikalen Student*innen beschuldigt, zu konservativ zu sein, und seine Ausstellung wurde vandalisch zerstört.
 
Obwohl Beuys Teil von Fluxus war, dessen Philosophie auf kollektivem und überpersönlichem Kunstschaffen basierte, zeichnete er sich zweifellos durch seinen Status als Superstar-Künstler und seinen charakteristischen Verhaltensstil aus; Hut, langen Ledermantel und treue Anhänger*innen unter den Student*innen, die ihm ständig folgten. In der Tat engagierte sich Joseph Beuys für die Akademie und die Studierenden, aber er verlor seine Stelle gerade wegen seiner ultimativen Forderung, dass jede/r interessierte Student*in zugelassen werden sollte. Aus heutiger Sicht werden seine Ideen für neue Bildungsformen und für die Notwendigkeit komplexer Kenntnisse in verschiedenen Bereichen der Wissenschaft und der menschlichen Erfahrung in vielen modernen experimentellen Bildungsprogrammen verwirklicht.

Beuys fasste Energie nicht nur als physikalische Erscheinung auf, sondern auch als einen Transformationsvorgang, der in Menschen und zwischen Menschen stattfindet. Diese Idee kristallisierte sich in seinem Konzept der Sozialen Plastik heraus und motivierte sein effektives Engagement in der Politik. Das Leitbild eines langfristigen Transformationsvorgangs inspiriert auch sein ehrgeizigstes Projekt, das noch am Leben ist – das Pflanzen von 7000 Eichen. Diese gigantische Geste erinnert uns heute an unsere wachsende Verschuldung gegenüber der Natur.

Beuys in Bulgarien


Joseph Beuys kann kein Vorbild für die bulgarischen Künstler*innen gewesen sein. Seine Ideen und künstlerischen Bestrebungen wurden in Bulgarien erst dann erkannt und erfasst, als die passende gesellschaftliche Stimmung eintraf. Für viele bulgarische Künstler*innen war Josef Beuys eher eine Bestätigung dafür, dass die Kunstfreiheit von keinem Stacheldraht umzäunt ist. Performance als Kunstform wurde durch die Ideen von Fluxus aufgenommen. Der kollektive Geist von Fluxus konnte auch in vielen Künstlergruppen erkannt werden, die in den 80er und 90er Jahren zu gemeinsamen Ideen hinneigten.
 
Das rein formale Experiment, die in organischen und anorganischen Materialien gesuchte Symbolik, der Schamanismus in der Kunst, die Erkennung der Natur als Wert und das politische Engagement der Künstler*innen gingen frei in die bulgarische Kunstwelt ein – all dies in den späten 80er Jahren, als Joseph Beuys bereits Geschichte war. Zwischen den Beuysschen Bestrebungen und dem Schamanismus in der Kunst einerseits und der Wiederbelebung und Neukonzipierung atavistischer Symbole der bulgarischen Folklore wie z.B. Drachen Mitte der 80er Jahre andererseits bestehen offensichtliche Assoziationen (Tsvetan Krastev, Veselin Dimov, Orlin Dvoryanov, Iva Vladimirova, Stefan Zarkov usw.). Die Fabelwesen sorgten für einen größeren Maßstab und repräsentierten den Versuch, die natürliche Umwelt durch freie plastische Formen zu beherrschen.
 
Fast zur gleichen Zeit fanden Stroh, Schlamm und andere natürliche kurzlebige Materialien ihren Weg in die Galerien (Stanislav Pamukchiev, Pravdoliub Ivanov, Kiril Prashkov, Sasho Stoitzov, Künstlergruppe Rab (bulgarisch: Ръб – Kante), usw.). Der Prozess als kreatives Prinzip inspirierte die Gründung eines Festivals – Sofia Underground – und später das Festival „Prozess prostranstwo“ (bulgarisch: Процес пространство – Prozess Raum) in Balchik in den 90er Jahren. Die ritualistischen Kunstaktionen und die direkte Anlehnung an Fluxus waren ein wichtiger Teil der Entwicklung von Künstlern wie Orlin Dvorianov, Dobrin Peychev und Doychin Rusev. Mit ihrer Aktion „Sito na swetlinata“ (bulgarisch: Сито на светлината – Sieb des Lichts) brachten Orlin Dvoryanov und Dobrin Peychev bereits 1988 die Kunst auf die Straße, um sich direkt mit dem Publikum zu treffen, nachdem sie jahrelang die Grenzen der Präsentation, Schöpfung und Existenz der Kunst stets außerhalb des öffentlichen Blickfeldes verschoben hatten.
 
Schließlich reagierten bulgarische Künstler*innen im Beuysschen Stil auf die sozialen Veränderungen, die in Bulgarien Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre stattfanden, als dies eindeutig unerlässlich wurde. Zu dieser Zeit spiegelten ihre Werke das zunehmend spürbare Bedürfnis nach radikalen Veränderungen und die entsprechenden Hindernisse wider.
 
Die folgenden Aktionen sind anschauliche Beispiele für das Streben nach sozialer Transformation: „Chamäleon” (Künstlergruppe Gradat – Градът – Die Stadt), „Wegfall vom Artikel 1” (Lyuben Farzulev), „Kescher” (Sasho Stoitzov), „Sonnenblumen” (Tsvetan Krastev), „Verbrennen von Dokumenten” (Albena Mihaylova), „Top secret“ (Nedko Solakov), „Boom in der Energiewirtschaft” (Sasho Stoitsov), die von Künstler*innen unterstütze Umweltbewegung in Ruse.
 
Die Suche nach formalen Analogien zu verschiedenen kulturellen Umgebungen würde uns eher davon ablenken, Kunst als Ausdruck des von Künstler*innen wahrgenommenen Bedürfnisses nach Veränderung aufzufassen.

[1] Das Datum galt als symbolisch, weil an diesem Tag im Jahr 1944 ein erfolgloser Putschversuch gegen Hitler unternommen wurde.

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