Ein urbaner Ort jenseits des Ethos des Marktes

Es gibt Orte in der Stadt, die auf sehr deutliche Art die Gegensätze, welche unser soziales Leben beeinflussen, veranschaulichen. Im Hintergrund und vor unserem Alltagsblick verborgen verlaufen miteinander konkurrierende Prozesse verschiedener sozialer Akteure, deren Resultat die Existenz oder der Niedergang einzelner Lokalitäten ist. Eine solche Lokalität ist die Budka (Bulg. für „Kioskhäuschen“) am Blv. Dondukov, Ecke Stara-Planina-Straße. Heute ist sie verlassen, nachdem sie mit den Jahren eine Reihe von Veränderungen über sich ergehen ließ. Die frühesten Hinweise auf ihre Existenz sind einige Fotografien aus den 30ern.

Überleben und Niedergang dieses Ortes werden vom Zusammentreffen mindestens dreier Gruppen von Akteuren und Interessierten bestimmt, die sich den Ort aneignen oder ihn mitgestalten. Einerseits sind das die Bewohner der Stadt oder Nachbarn der Budka mit ihren kulturellen Praktiken. Andererseits ist das die Stadtverwaltung mit ihren makropolitischen oder makroarchitektonischen städteplanerischen Projekten. Und nicht zuletzt sind da unterschiedliche kommerzielle Akteure, die stets versuchen, dieses kleine Fragment der Stadt mittels verschiedener Geschäftsaktivitäten zu „kapitalisieren“. Dieser durch kulturelle Praktiken, Stadtplanungsprojekte und kommerzielle Interessen gestrickte Knotenpunkt beeinflusst das Leben in der Stadt und der Budka.

Die kulturellen Praktiken der gewöhnlichen Leute waren jene, welche den Ort zum Leben erweckten – sie besuchten ihn, nutzten ihn, eigneten sich ihn in ihren alltäglichen Gebrauchsweisen an. Hier machten sie aus einem bestimmten Anlass heraus Halt (etwa um sich eine Zeitung oder etwas anderes zu kaufen) und so wurde die Budka zu einem wichtigen Punkt ihrer täglichen Wege durch die Stadt – sie war Bedingung von Informationsaustausch und sozialer Kontakte. So lebte man in der Stadt während der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Eine Stadt der Fußgänger, die mal durchquerten, mal anhielten, Durchgangswege und ein Netz aus Wegkreuzungen zeichneten, an denen sie miteinander verbunden waren. Stadt der zufälligen Begegnungen, kurzen Wege und der Langsamkeit. Das Leben fand auf der Straße statt, unter den Menschen. Die Budka entstand im Kontext dieser Fußgänger-Stadt und funktionierte innerhalb der kulturellen Praxis der zufälligen Begegnungen und sich kreuzenden Wege.
Jahrzehnte später wird die Stadt vom Automobil erobert. Die Stadt wächst und die langen Wege werden mit Fahrzeugen überwunden. Die Zeit wird beschleunigt. Die zufälligen Begegnungen zwischen den Fahrzeuginsassen werden immer schwieriger, das Verweilen an einem Fleck wird immer seltener. Der Verkehrslärm übertönt immer mehr die Gespräche und der lange Aufenthalt an der Budka wird zur Herausforderung. Das soziale Leben der Stadt verformt sich und die Budka verliert ihre Bedeutung als Knotenpunkt.

Die großen Stadtplanungsprojekte, welche breite Boulevards und „beschleunigte“ Wege zeichnen, sind nun an der Reihe. Angesichts dieser Makro-Projekte wirkt die Budka viel zu klein und bedeutungslos. Sie wird vergessen oder verlassen. Sie bleibt weiterhin Haltestelle, aber nicht der Fußgängerwege, sondern des öffentlichen Stadtverkehrs. Hier bleiben zufällige Passanten zwangsweise kurzzeitig stehen, während sie auf die nächste Tram warten. Allerdings kennen sie einander nicht und langweilen sich. Sie lenken sich ab oder füllen ihre Zeit mit einer kleinen Besorgung aus. Die Haltestellen des öffentlichen Verkehrs werden von Händlern angeeignet und in kleine Handelsflächen verwandelt. An den Punkten, an denen sich die großen Arterien des Stadtverkehrs kreuzen, bekommt man praktisch alles unter 5-10 Leva (von Zeitungen und Zeitschriften über Snacks und Unterwäsche). Die Budkas werden von kommerziellen Akteuren okkupiert, die ihnen neues Geschäftsleben verleihen - mit Einverständnis der Behörden der Stadt, welche auf diese Weise die Verantwortung der Verwaltung der Budkas als Elemente städtischer Infrastruktur an die Händler abgeben. Es folgt die rein ökonomische Logik der Konsolidierung und allmählich werden die kleinen Läden für Zeitungen, Zigaretten, Getränke und andere Kleinartikel Teil derselben Handelskette. Der unerwartete Effekt dieser günstigen Zusammenarbeit administrativer und ökonomischer Akteure ist das Erobern des Sozialen durch das Kommerzielle. Die Budka ist nicht mehr Begegnungsstätte, sondern Handelspunkt, und gehört nicht mehr den Städtern, sondern den Unternehmen. Hier machst du nicht mehr Halt, um mit den Nachbarn Politisches zu diskutieren, Klatsch auszutauschen oder deine Sorgen mitzuteilen. Das Öffentliche wurde woanders hin verlagert.
Gibt es ein Leben der Budka jenseits des Kommerziellen? Wenn sie erneut Ort der Begegnung und des Miteinanders wird. Wenn sie zurückkehrt in die kulturelle Praxis der Stadtbewohner und sich ihre ursprüngliche Rolle im öffentlichen Raum wiederholt.

In den letzten Jahren gab es viele Initiativen auf der Suche nach Alternativen zum Markthandel. Kostenlose Festivals oder „tatsächlich freie“ Märkte bieten Formen des Geschäfts, bei denen jeder sich nimmt, was er braucht, und im Gegenzug dazu etwas hinterlässt, was Anderen nützen kann. Es hat sich herausgestellt, dass jeder daheim mehr Dinge als nötig lagert und bereit ist, diese zu teilen. Diese Formen des Tauschhandels ohne Einbezug des Geldes werden sporadisch im Freien an öffentlichen Orten der Stadt oder regelmäßig in geschlossenen Räumen sozialer Zentren veranstaltet. Im Angebot gibt es Bücher, Kinderkleidung und Spielzeug, Kleidung und Schuhe für er Erwachsene, Werkzeug, Technik u. v. m. nach dem Prinzip des Teilens von Ressourcen. Allerdings verweilen die Leute z. B. während des Austauschs von Büchern und Spielzeug und kommen etwa über ihr gemeinsames Interesse an einem bestimmten Literaturgenre, über Erziehungsfragen oder andere Freuden und Leiden ins Gespräch. Auf diese Art entsteht allmählich eine Gemeinschaft, welche auf gegenseitige Unterstützung und kollektivem Handeln beruht. Man sucht dabei nachhaltigere Formen des Teilens.

Diese Formen alternativer Ökonomie sind keinesfalls neu. Der Anthropologe David Graeber beschreibt die Praktiken des Teilens in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen in seinem Buch „Schulden: Die ersten 5000 Jahre“. Handel und Konsum avancierten zur dominanten kulturellen Praxis unserer Zeit, was allerdings nicht immer so war. Heute verleiten uns unsere Denkgewohnheiten dazu, zwischenmenschliche Beziehungen nach dem Model des gegenseitigen Nutzens, nach der Marktlogik, zu beurteilen. Aber wie kam es dazu, „unser Verständnis von Moral und Gerechtigkeit auf die Sprache des Geschäfts zu reduzieren“ (Graeber 2013)?

Die Wurzel des Problems befindet sich laut Graeber in jenem, was er „Mythos vom Tausch“ nennt. Zwischenmenschliche Beziehungen lassen sich ganz offensichtlich nicht auf den Austausch von Ressourcen reduzieren. Allerdings führt die überbetonte Fixierung auf die ökonomische Dimension zur Gewohnheit, alles in der Terminologie des Tauschhandels zu denken. Und zur Unmöglichkeit, uns Teilen ohne Geld und beidseitigem Vorteil vorzustellen. „All diese fehlerhaften Vorstellungen drücken aus, wie wir alle zwischenmenschlichen Verhältnisse auf den Austausch reduzieren, als wären all unsere sozialen Beziehungen, ja sogar diese zum Universum, über dieselben Konzepte wie jene des Business denkbar.“ (ebd.). Das Miteinander teilen ist mehr als nur ein Austausch – es baut Beziehungen und Kollektive gegenseitiger Unterstützung auf und formt neue soziale Gruppen heraus, welche schließlich Gruppen des Handelns oder des sozialen Drucks mit politischem Programm herausbilden können. Das soziale Gewebe entspinnt sich in jenen Gesprächen zwischen den Liebhabern der Bücher und besorgten Müttern, die in Folge dessen Eltern-Kooperationen und Fan-Gemeinschaften gründen, und ebenso zum Protest auf die Straße gehen können, um für gesetzliche Veränderungen zu kämpfen.
 
Jenseits des Marktes, welcher auf dem Wunsch nach Gewinnmaximierung, Komfort und materiellem Besitz basiert, kann auch ein anderes Ethos existieren – das Ethos der Freiheit und des Fehlens der Notwendigkeit materiellen Besitzes. Das ist die moralische Maxime, die auch Hans im Glück im Märchen der Gebrüder Grimm beherzigt. Für ihn gilt das Materielle als Last und er ist am zufriedensten, sobald er alles aufgrund einer Reihe von „Geschäften“ loswird. Aber es gibt auch ein drittes Ethos – das Ethos des Schenkens, bei dem die einzige Rechtfertigung zum Anhäufen von Reichtümern die Möglichkeit ist, diese rituell zu verschenken (wie etwa beim von Anthropologen wie Graeber beschriebenen Ritual „Potlach“ der Kwakiutl-Indianer).
 
Das Wertvollste dieser Alternativen ist, dass sie soziale Formen und neue kulturelle Praktiken kreieren und die Bewohner auf die Bühne ihrer eigenen Stadt zurückholen. Das Teilen bildet Gemeinschaften, welche die öffentlichen Räume verformen. Diese neuen Gemeinschaften sind der kollektive Akteur der Veränderung, der sich den Makropolitiken der Stadtverwaltung und der Geschäftsleute widersetzen kann.

Für mehr Information über alternative Ökonomien und Formen des Teilens:

David Graeber, Schulden: Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart 2012

Peter Pan, „Free Fest. Ikonomikata v deistvie“, In: Dokato pitame, varvim. Sofia. „Jivot sled kapitalizma“, 2011, S. 351-359 (online unter http://www.lifeaftercapitalism.info/in-bulgaria/130-free-fest)