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Brief an den Fluss
Wie die Adern der Erde

Der Fluss Ounasjoki im Oktober, wenn die Rentiere für den Winter auf die andere Uferseite getrieben werden.
Der Fluss Ounasjoki im Oktober, wenn die Rentiere für den Winter auf die andere Uferseite getrieben werden. | © Tanja Koistinen

Wie fühlt es sich an, wenn man an einem Fluss aufwächst und sein Leben in Einklang mit ihm lebt? Und wie hat sich die Beziehung verändert? Die Künstlerin und Schriftstellerin Tanja Koistinen hat den Fluss während des Sommers an vielen Stellen beobachtet und einen Brief geschrieben.
 

Von Tanja Koistinen

Lieber Fluss, Joki, Johka, Juuhâ,

von Dir ist wegen der Umweltkatastrophen mit Waldbränden und Hochwasser, der Energiekrise und der schwierigen Lebensbedingungen viel die Rede und dennoch wird auf deine Kosten gehandelt. Du bist wie die Adern der Erde, Straßen des Wassers, durch die unser Planet hauptsächlich existiert. Du bist eine Form von Energie, Bewegung und Freiheit.

Danke für deine Gastfreundschaft während des Sommers in der Region Inari im finnischen Sapmi. Ich vermisse schon jetzt Deine Strömung, die Steine und das Wildwasser sowie deine Stromschnellen, die wie Haare aussehen. Besonders danke ich Dir, Gámasjohka, für deine weichen, runden Steine, auf denen man baden kann, und Dir, Juvduujuuhâ, für die einzige Forelle, die ich diesen Sommer gegessen habe. Danke Kettujoki für die endlosen nächtlichen Ruderpartien und den drei Kilogramm schweren Hecht und danke Kessiijoki für die Stille. Danke Nellimjoki, dass du mehr Wasser zum Inari-See gebracht hast.

Viele Dingen brauchen die Menschen von Dir. Wir brauchen Dich, um uns von Ort zu Ort zu bringen, wir brauchen Dich für frisches Wasser und frischen Fisch. Wir brauchen Deine Bewegungen, um sie in Energie umzuwandeln, mit der wir uns fortbewegen können, unsere Häuser heizen und die Batterien für Elektroautos aufladen können. Wir brauchen Dich, um unser ausgelaufenes Öl zu filtern und, nun ja, unseren Müll. Wir brauchen es, dass Du da bist, damit wir unsere Kultur erlernen und sie für kommende Generationen am Leben erhalten können.

Wie in jedem Frühling ist der Wasserstand im Inari-See in Paatsjoki im finnisch-russischen Sapmi so niedrig, dass mein Vater schon morgens mit einem Fluch den Tag beginnt, dass auf der anderen Seite der Grenze kein Wasser aus dem Staudamm abgelassen wird. Und in Neiden im norwegischen Sapmi ist das Angeln beispielsweise wegen Wassermangel im Fluss verboten. Gründe dafür sind der heiße, trockene Sommer und dass die Menschen das Wasser zur Energiegewinnung kontrollieren und regulieren.

Wie kann ein Fluss stillgelegt werden?

Und es ist auch vorgekommen, dass Leute sagen, sie hätten den Fluss Deatnu (Sapmi, Finnland) stillgelegt. Da frage ich mich, wie ein Fluss stillgelegt werden kann? Sie sagen, dass sie den Lachs schützen, aber ich frage mich auch, was sie jetzt tun werden, denn der Fluss ist die ewige Quelle des Lebensunterhalts für die lokale Sámi-Bevölkerung. Wurden sie angehört, als solche Entscheidungen getroffen wurden?
Der Fluss Deatnu, finnisch Tenojoki in Sapmi/Finnland Der Fluss Deatnu, finnisch Tenojoki in Sapmi/Finnland | © Tanja Koistinen Der Kemijoki ist der größte Fluss Finnlands, in dem viele Lachse leben. Er ist mit 18 Staudämmen durchzogen, und es gibt Pläne, weitere zu bauen. Meine Großmutter wuchs bei den großen Stromschnellen in Autti in Finnisch Lappland auf. Sie fing noch 20 Kilogramm schwere Lachse für die Familie. Nach dem Bau der Staudämme hat das Wasserkraftunternehmen Lebensmittel zur Verfügung gestellt.

Ich habe von einem Künstler gehört, der sichmit einem Kunstwerk auf dem Grundstück eines Energiekonzerns gegen den Bau eines weiteren Staudamms im Fluss Kemijoki (Sierilä) im finnischen Rovaniemi wehrte. Von diesem erhielt er dafür eine Rechnung über 20.000 Euro.
„Strömender Lachsfluss“ „Strömender Lachsfluss“ | © Vesa Puuronen, 2020

Es gibt viele Dinge, die die Menschen von Dir brauchen, Fluss.


Ich habe auch diese alte Legende über den Fluss Ounasjoki von den einheimischen Ältesten gehört. Der Ounasjoki mündet in meiner Heimatstadt Rovaniemi in den Kemijoki. Er ist ein unregulierter Fluss ohne Staudämme. Die Uferstraße entlang des Flusses von Dorf zu Dorf ist in einem schrecklichen Zustand. Unser Auto verlor das Nummernschild und die Zusatzbeleuchtung, als wir dort fuhren. Es heißt, die Straße werde nicht repariert, weil man sich dafür rächen wolle, dass wir gegen die Aufstauung des Flusses waren. „Ich weiß nicht, ob das stimmt“, sagt ein Alter, „aber es sieht ganz danach aus.“

„Der ewige Fluss beklagt die Habgier des Menschen“ „Der ewige Fluss beklagt die Habgier des Menschen“ | © Vesa Puuronen, 2020 Sierilä, Rovaniemi In der Region Fell-Lappland, wo ich heute lebe, plant man eine riesige Eisenerzgrube im Tagebau in der Nähe der Zuflüsse des Flusses Äkäsjoki. Das Problem ist, dass das finnische Bergbaugesetz nicht wirklich dazu beiträgt, die Umwelt zu schützen oder zu verbessern. Außerdem sind die Abbaupläne mit einem 90 Quadratkilometer großen Abbaugebiet und 1,8 Quadratkilometern Tagebaugebiet gewaltig. Darüber hinaus nutzt die vom Aussterben bedrohte Meerforelle diesen Fluss als Laichgewässer. Der Fluss fließt durch ein Naturgebiet, dessen Wert die Menschen erkennen. Es wird Nationalparkgebiet genannt. Doch das reicht noch nicht aus, um sicherzustellen, dass der Wert deines Wasserstroms genug anerkannt wird, um nicht mit Bergbauabwässern verschmutzt zu werden.
 Äkäsjoki Äkäsjoki | © Tanja Koistinen Es gibt viele Dinge, die die Menschen von Dir brauchen, Fluss.

Keine Form ohne den Fluss
keine Linien ohne den Strom
keine runden Steine ohne die Stromschnellen
keine Stromschnellen ohne die Steine
kein Wasser ohne Schnee
kein Fisch ohne Freiheit
keine Kultur ohne den Fluss.

Mit freundlichen Grüßen

Tanja

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