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Girjegumpi
Ein Kunstwerk, das die Augen öffnet

Joar Nango inmitten der Bücherregale der Girjegumpien in Karasjok.
Joar Nango inmitten der Bücherregale der Girjegumpien in Karasjok. Bei jedem Aufbau sieht die Architekturbibliothek anders aus. | Foto (Detail): © Susanne Hætta

„Ich vermeide den Begriff ‚Dekolonialisierung‘ und ich finde es schwer, mich mit ‚Indigenen Gemeinschaften’ zu identifizieren. Ich bin mit einer Identität als Sámi aufgewachsen, während der Begriff der Indigenen Völker eine juristische und politische Konstruktion ist. Viele dieser Begriffe sind um Konzepte herumgebaut, die durch die Kolonialisierung geschaffen wurden. Sie haben vielleicht einen politischen Effekt, werden aber häufig in vereinfachender und kategorisierender Weise gebraucht“, meint der Architekt und Künstler Joar Nango aus Sápmi im Gespräch mit der Künstlerin und Autorin Susanne Hætta.
 

Von Susanne Hætta

Dennoch wird der in Tromsø lebende Künstler häufig mit diesen Begriffen in Zusammenhang gebracht. Während der vergangenen Jahre hat Nango sein Projekt „Girjegumpi – samische Architekturbibliothek“ in Kanada und an vielen Orten in Sápmi gezeigt. Bis zum 6. Februar 2022 ist es im Nationalmuseum für Architektur in Oslo zu sehen. Das vielfache Umziehen schafft Dynamik; es werden immer mehr Bücher und die gezeigten Objekte werden bei jeder Ausstellung ausgetauscht. Die diskutierten Begriffe sind zentral für den heutigen Diskurs sowohl in der Kunst als auch in Kultur, Politik sowie im Bereich der Museen.

Der Schnee wirbelt um mich herum, als ich an einem eiskalten Tag im März 2021 in Kárášjohka ankomme. Girjegumpi ist dort im Sámi Dáiddaguovddáš (Sámi Center for Contemporary Art) zu sehen. Girjegumpi kommt aus dem Nordsamischen, wobei „girje“ „Bücher“ bedeutet und „gumpi“ eine kleine, transportable Hütte ist, die man unter anderem zur saisonalen Ernte in der Natur nutzt oder für Sámi, die ihre Rentierherden auf den Weidegebieten hüten. An jedem Ausstellungsort, sei es in Kanada, Oslo oder Harstad, hat Nango Ressourcen des jeweiligen Ortes benutzt, um sein Werk zu verändern, zu erweitern oder zu reduzieren und andere – nicht nur Künstler*innen – dazu eingeladen, einen Beitrag zum Werk zu leisten. Hier in Kárášjohka ist der Inhalt des Girjegumpien vom eigentlichen Gumpien in einen Raum des Kunstzentrums umgezogen. Er ist nicht nur mit Büchern der verschiedensten Bereiche gefüllt, sondern auch mit Objekten, die er unterwegs erhalten oder hergestellt hat. Eine große Lampe, deren Schirm aus Fischhäuten eines Heilbutts zusammengenäht wurde, spendet ein mattes Licht von einem Regal herab. Stoffstreifen und Leder wollen zusammen mit Körben, Holzstücken und anderen undefinierbaren Gegenständen die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Zweifellos würde ich Nango als einen nomadischen Sammler charakterisieren, was zentral für sein künstlerisches Schaffen ist.

Ich vertrete eine These oder Meinung über die Sámi als Indigenes Volk, von der ich annehme, dass sie in der Mehrheitsgesellschaft recht verbreitet ist, und von der ich glaube, dass sie einen gewissen Wahrheitsgehalt hat. Mit Nango möchte ich darüber sprechen.

Joar Nango Joar Nango | © Susanne Hætta Wir Sámi haben eine einzigartige Nähe, um die Naturschätze mit Hilfe von Indigenem Wissen auf nachhaltige Weise zu nutzen. Das Wissen und die Denkweise darüber liegen eigentlich nur eine Generation zurück.

Joar Nango: Das stimmt, aber wir Sámi haben nicht den alleinigen Anspruch auf eine solche Nähe zu Landschaft und Natur. An anderen Orten in Norwegen leben ebenfalls Menschen im Primärsektor (in Land- und Forstwirtschaft), mit einem ähnlichen Denken wie dem der Sámi, was die Nutzung von und die Nähe zur Natur betrifft. Wir müssen auch daran denken, dass es in den Städten eine sámische Mittelklasse gibt, die dieses Naturwissen bereits nicht mehr besitzt. Das ist eine Vielfalt, die auch bewirkt, dass wir Sámi eine politische Durchschlagkraft erreicht haben. Viele derjenigen, die später Sámi-Politiker*innen wurden und eine bedeutende Rolle in der Gesellschaft spielten, verließen das traditionelle Leben in Naturnähe, zogen weg und machten eine Ausbildung. Unter ihnen waren viele derjenigen Personen, die beispielsweise als Kämpfer der Samen während des Altakampfs auftraten. (Anmerkung der Redaktion: In den Siebzigerjahren protestierten sámische Menschenrechtsaktivist*innen, Naturschützer*innen und Landwirt*innen gegen den Bau eines Wasserkraftwerks zwischen Áltá und Guovdageaidnu. Die Proteste waren zunächst nicht erfolgreich, aber sie führten zur Anerkennung der Rechte der Sámi und zur Gründung des Sámi-Parlaments, dem Sameting.)

Kehren wir zurück zu den Konzepten und der Art und Weise, wie Sie die Sámi in Ihrer künstlerischen Praxis berücksichtigen.

Ich versuche, in meiner Arbeit mit samischer Architektur von Grund auf einen neuen Jargon zu prägen. Ich finde es befreiend, Trendbegriffe wie „Nachhaltigkeit“ oder „Indigenes Wissen“ zu vermeiden; sie sind so aufgeladen. Ich möchte lieber neue Begriffe dafür finden, zum Beispiel „indigenuity“. Das ist pointierter und interessanter, um darüber zu sprechen, denn es ist eine Gedankenkonstruktion, die ich selbst geschaffen habe. Darüber kann ich dann freier diskutieren. Kurator*innen suchen nach etwas, das sie von außen als holistische, als ganzheitliche Kosmologie bezeichnen, aber genau das ist es!

Die Begriffe Nomadismus und Umsiedlung werden oft gleichgesetzt. Ich verwende Nomadismus ganz anders, in einem kulturellen Verständnis verwurzelt, das von Studien der sámischen Architektur herkommt. Nomadismus ist die Fähigkeit, Landschaften und potenzielle Baumaterialien vor Ort zu entdecken. Da kann man sich fragen, ob das nun besonders nachhaltig ist. Aber „Nachhaltigkeit“ ist ein generisches, bedeutungsloses Wort. Genauso ist „Dekolonialisierung“ ein Begriff, der um das Konzept Kolonialismus herum aufgebaut ist. Den Begriff zu verwenden, heißt, vor dem Kolonialismus in die Knie zu gehen und ihn anzuerkennen.

Sich den Kolonialismus abwaschen, ist, als würde man seine Haut abstreifen. Wie sollen wir dann den Begriff „Dekolonialisierung“ mit Inhalt füllen?

Wir müssen neue Begriffe schaffen. Es ist interessanter, über „Re-Matriation“ zu sprechen, über Feminismus als Teil von Umkehrprozessen und wie man andere Ambitionen in Bezug auf die Neuverhandlung von Machtverhältnissen einfügen kann. Das ist es, um das es geht. „To indigenise“ (jemanden zu „indigenisieren”) als eine Alternative zur „Dekolonialisierung“. „Samifizieren“ benutzt niemand, keiner traut sich, warum nicht?

„Samifizierung“ also als Negation der „Norwegisierung“?

Die Landschaft um uns herum ist nicht bereit dafür. Wir müssen die Qualitäten und die interessanten Dinge in der Kultur nutzen, um neue Räume zu schaffen wie diese Architekturbibliothek, das Wissen aus unserem Duodji (Anmerkung der Redaktion: traditionell samische, holistische, ästhetische Praxis), dem Nomadismus und der Indigenität in unserer Architekturgeschichte und das neuere Denken rund um die Indigene Philosophie, die es in unserer Kunst gibt. Aber wir können bei der Auswahl dieser Geschichten selektiv sein. Für mich ist das eine gute Antwort auf das, was Dekolonisierung zu sein versucht, aber ich muss es nicht „Dekolonialisierungsbibliothek“ nennen, es ist ein Girjegumpi.


In unserem weiteren Gespräch tauschen wir aus, welche Bücher im Girjegumpi stehen und welche ich selbst besitze, und ich schlage Nango mehrere Titel vor. Indigene Architektur wird in vielen Büchern thematisiert, wenn man es global betrachtet, aber im Girjegumpi als einem ständig wachsenden, dynamischen Werk, ohne deutliche Grenzen zwischen abgrenzenden Kategorien, gibt es auch Bücher über sámische und Indigene Kunst, Duodji, Queer-theory, Lyrik und viele andere gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen. Nango und ich sehen viele Bücher durch, er liest Textbeispiele mit antiquierten und archaischen Haltungen gegenüber Sámi vor, die man als Beschreibungen der Kolonialmächte über die ursprüngliche Bevölkerung erkennt. Während wir bei der schummrigen Beleuchtung unter der Heilbutt-Lampe sitzen, werden wir zu einem Teil des Kunstwerks. Ich spüre eine neue Einsicht, mehr Wissen, ja, eine stärkere Neugierde, und das wird gerade in diesen Begegnungen zwischen Menschen geschaffen – offene, lesende, schaffende und fragende Menschen, die in ein Girjegumpi hineingehen.

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