„Show-Indianer“: Heinrich Zille und das Exotische Andere

Eine persönliche Betrachtung Zilles Fotografien von Gerald McMaster

Hrsg.: Gerald McMaster & Joe Baker, mit freundlicher Genehmigung des National Museum of American Indian Hrsg.: Gerald McMaster & Joe Baker, mit freundlicher Genehmigung des National Museum of American Indian Europäer mit dem „Exotischen Anderen“ aus- bzw. gegenüberzustellen, erfuhr 1492-93 einen enormen Aufschwung, als Christoph Kolumbus eingeborene Arawaken gegen ihren Willen von den Westindischen Inseln mitbrachte. Von da an nahm das Phänomen, (in europäischen Augen) fremde Menschen und Tiere mitzubringen bis ins 20. Jahrhundert stetig zu. Allerdings erst im späten 19. Jahrhundert begannen Unternehmer, das wirtschaftliche Potenzial, das das Zurschaustellen des „Fremden, Primitiven und Außergewöhnlichen“ barg, auszuschöpfen. Zum wirtschaftlichen Aspekt solcher Ausstellungen kommt hinzu, dass sie den kolonisierenden Ländern die Möglichkeit boten, ihre technische Überlegenheit und territorialen Besitz in Übersee zu demonstrieren.
Deutschland – dessen kolonisierte Gebiete Togo, Kamerun und einige Pazifikinseln umfasste – wurde schnell zum Vorreiter beim Veranstalten von „Völkerschauen“ auf internationalen Ausstellungen. Bei der Deutschen Kolonial-Ausstellung 1896 z.B. wurden hunderte indigene Menschen aus Ost- und Westafrika sowie Neuguinea auf Bühnen und in Käfigen (letzteres als Maßnahme, um die „primitiven“, animalischen Anderen von den „zivilisierten“ Zuschauern zu trennen) ausgestellt.

Die beiden Fotografien des Berliner Fotografen Heinrich Zille (1858-1929), die die Ausstellung „Jahrmarkt“ des Goethe-Instituts Toronto zeigt, sind ein Beispiel dafür, wie sich der weitverbreitete Diskurs des „Anderen“ in Repräsentationen nicht europäischer Kulturen aus Afrika, Ozeanien, Nord- und Südamerika niederschlug. Zille wurde in Radeburg in Sachsen, nicht weit vom Geburtsort (Radebeul) des bekannten Schriftstellers Karl May (1842-1912) geboren. Zille illustrierte und fotografierte den Alltag der Deutschen, während May über ferne Kulturen schrieb. Dabei hat sich Zilles Arbeit weniger ins kulturelle Gedächtnis eingeschrieben als Mays, dessen Werk seine Leser über viele Generationen unterhalten und inspiriert hat, besonders seine fiktionalen Darstellungen der Nordamerikanischen Völker („Indianer“). In der Tat trug Mays Schreiben erheblich zur Welle der Begeisterung für die eingeborenen Völker Nordamerikas bei: Z.B. ergab Christian Feests Studie zur Literaturlandschaft in Deutschland zwischen 1875 und 1900, dass rund 1000 Titel zum Thema Indianer erschienen waren. Karl Markus Kreis zeigte, dass Buffalo Bill Cody’s Wild West Show im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts einen enormen Einfluss auf die Perzeptionen und Fantasien der Deutschen hatte (es ist nicht unwahrscheinlich, dass Zille Buffalo Bills Show-Indianer in Berlin und May sie in Dresden gesehen hat).

In zwei von Zilles Fotografien kann leicht die Annäherung des Alltäglichen an das Exotische gesehen werden. Die Ergebnisse dieses Zusammenkommens sind provokative Verbildlichungen des „Edlen Wilden“.

Auf dem ersten Bild drängt sich eine Gruppe von Zuschauern vor einer Schaubude, gespannt darauf, was hinter einem geheimnisvollen Vorhang hervorkommen wird. Die Künstler aus Neuguinea, wie sie auf den Plakaten dargestellt werden, sind fast nackt. Sie tragen Felle, die Frau zeigt entblößte Brüste und der Mann kommt ihr verführerisch nahe; sie tanzen. Zilles Foto zeigt den Moment, kurz bevor sich die bekleideten Europäer und die kaum bekleideten Südseebewohner – das Zivilisierte und das Exotische – begegnen.

Auf dem zweiten Foto sieht man einen „echten“ Menschen aus Neuguinea  etwas deplaciert  unter einem Poster stehen, das „Sioux-Indianer“ ankündigt. Im Kontext der Ausstellung steht seine Kleidung in starkem Kontrast zu der des europäischen Publikums. Es ist anzunehmen, dass die Plakate auf beiden Fotos von der Hamburger Friedländer Lithographie Druckerei gedruckt wurden, die Plakate für Zoos, Zirkusse und Varietétheater produzierte und für die Zille arbeitete.

Zille ist bekannt für seine fotografische Dokumentation des Berliner Arbeitermilieus und für Fotos, auf denen die verschiedenen sozialen Schichten zusammenkommen. Beide Elemente finden sich im ersten Bild wieder, auf dem eine Gruppe Jungs, die meisten von ihnen Barfuß, gespannt auf den Beginn einer Vorführung wartet. Die optische und politische Ironie liegt natürlich darin, dass die Bedeutung der gaffenden (oberflächlich so unschuldigen) Jungen zwei Dimensionen hat. Während Zille einerseits den „kolonialen Blick“ darstellt, gehören die armen deutschen Anderen selbst der Unterschicht an – nach der Vorführung müssen sie in das Elend der städtischen Arbeiterviertel zurückkehren.

Viele Show-Indianer, bekannt geworden durch Ausstellungen wie Buffalo Bills Wild West Spektakel, nahmen gegen ihr eigenes Interesse an solchen Shows teil. Dennoch war die Realität oft komplizierter – die Teilnehmer solcher Shows führten sicher ein interessanteres und wahrscheinlich gesünderes Leben als diejenigen, die in Nordamerika dem brutalen Prozess der Assimilierung ausgesetzt waren. Die Shows ermöglichten ihnen, trotz aller politischer, ästhetischer und moralischer Einschränkungen, sie selbst zu sein (und die Deutschen sehnten sich nach der Authentizität der Indianer). Außerdem stellte das Aufführen der Schlacht bei Little Big Horn, bei der Oberstleutnant George Armstrong Custer von amerikanischen Ureinwohnern geschlagen und getötet wurde – eines der zentralen Wildwest-Narrative – gewisser Weise wieder Gerechtigkeit her und wappnete sie vielleicht auch für die kommenden düsteren Zeiten. Tatsächlich werden die Geschichten vom Leben der Indianer mit der ständigen Unsicherheit, Ironie und Ungerechtigkeit entweder der Siegende oder der Besiegte zu sein, bis heute weitererzählt.

Auch im heutigen Deutschland ist der Einfluss des Exotischen Anderen sichtbar. Anstatt gespannt auf das Auftauchen der Show-Künstler zu warten (wie auf dem Zille Foto), spielt der Deutsche heute diese Andersartigkeit selbst – z.B. bei den jährlichen Karl May Festspielen, wo er zum Wochenend-Krieger wird und die Identität lange verstorbener Indianer annimmt.
 

Der Wissenschaftler, Künstler und Kurator Gerald McMaster hat den Canada Research Lehrstuhl für Indigenous Visual Culture & Curatorial Practice an der OCAD Universität Toronto inne. Unter anderem war er als stellvertretender künstlerischer Direktor der 18. Biennale in Sidney und als Kurator für kanadische Kunst bei der Art Gallery of Ontario tätig. Momentan organisiert McMaster ein akademisches Symposium zum Thema The Entangled Gaze: Indigenous and European Views on Each Other für Herbst 2017.

 

Culture talks @ Goethe:
Photography & the Exotic Other

In May of 2017, the Goethe-Institut Toronto hosted a curatorial talk and opening reception of the Goethe Media Space show "Heinrich Zille: FUN FAIR" with Prof. Gerald McMaster, Dr. Deepali Dewan and the Goethe-Institut's Program Curator Jutta Brendemühl in conversation.