Filmvorführung Off to take Care: Programm 5 - Allen zum Trotz: Ein Experiment in Taking Care

Photo-Collage. Bilder zeigen Jugendliche u. Erwachsene auf Motorräden beim Campen, Nahaufnahmem von Akten und Karteikasten. G. Tuchtenhaben: Heimkinder © Deutsche Kinemathek, Bild: G. Tuchtenagen

So, 19.11.2023

12:30 Uhr

ICA - Institute of Contemporary Arts

Gisela Tuchtenhagen: Heimkinder 1 - 3

Den Abschluss des Festivals bilden drei Teile der Mini-Serie Heimkinder (1984-86) der Kamerafrau und Dokumentar-Filmemacherin Gisela Tuchtenhagen. Im Laufe ihrer jahrzehntelangen Karriere hatte sie sogar eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Die auf 16mm gedrehte Reihe ist ein seltenes Stück Fernsehgeschichte, und zeigt ein gewagtes pädagogisches Experiment, gefilmt mit großem Engagement und Einfühlungsvermögen. Eine Gruppe von Sozialpädagogen hat sich buchstäblich auf den Weg gemacht, Off to Take Care, um eine Gruppe Jugendlicher, die das Betreuungs- und Ausbildungssystem bereits abgeschrieben hatte, auf eine Auslandsreise mitzunehmen, mit dem Ziel, ihnen den Einblick in ein anderes Leben und zugleich das nötige Wissen für den Hauptschulabschluss zu vermitteln. Wir sind quasi mit dabei, wenn Betreuer und die von ihnen Betreuten sich gegenseitig und das Betreuungssystem herausfordern.

12.30 Uhr Begrüßung und Einführung in Heimkinder
12.45  Uhr Heimkinder (1 - 3), Gisela Tuchtenhagen, BRD, 1984-86, ca. 3 Std. 
16.00  Uhr Diskussion in der Runde im Studio

Der Film wird mit englischen Untertiteln gezeigt.

Wir freuen uns, dass die Teilnehmer des Waiting Times Project während des gesamten Festivals ihre Antworten mitteilen und an unseren Diskussionen über die Filme teilnehmen werden.

Das vom Wellcome Trust geförderte Waiting Times Project beleuchtet die Beziehung zwischen Zeit und Pflege und erforscht, wie gelebte Erfahrungen, Darstellungen und Geschichten von verzögerter und behinderter Zeit die Erfahrungen von Pflege, einschließlich Gesundheitsversorgung, formen und schaffen.

Bitten Beachten Sie, dass dieser Film im ICA und mit englischen Untertiteln gezeigt wird.
 
Heimkinder (Teile 1 - 3), Gisela Tuchtenhagen, BRD 1984-86. Teil 1 Abgehauen, Zurückgebracht, Wieder Entlaufen (60 min); Teil 2 Warten, bis der letzte von uns da ist (65 min); Teil 3 Liebe Grüße aus Portugal (43 min).

Heimkinder der Kamerafrau und Filmemacherin Gisela Tuchtenhagen ist das Dokument eines pädagogischen Experiments und zugleich ein filmisches Experiment, das es als fünfteilige Dokumentarfilm Serie ins Abendprogramm des NDR schaffte. Zu einer Zeit, Mitte der 1980er Jahre, als das jeweils gerade noch möglich war und heute undenkbar erscheint. Sowohl ein solches Fernsehprogramm, ausgestattet mit den dafür notwendigen Produktionsmitteln, als auch eine Reform-Pädagogik, die ein Experiment mit offenem Ausgang als einzige Chance wahrnimmt. Progressive Sozialarbeiter des Johannes-Petersen-Heim in Volksdorf/Hamburg hatten verstanden, dass es neue Methoden braucht, um mit Jugendlichen, die vom Bildungssystem und den Sozialbehörden bereits abgeschrieben wurden, notorische Ausreißer, Autoknacker, Straßenkinder, neue Perspektiven zu entwickeln. Das besondere Wissen der Jugendlichen als Überlebenskünstler, ihr berechtigtes Misstrauen, ihre Schnoddrigkeit, ihre Angst, ihre Unruhe, all das zusammen zu bringen und in etwas halbwegs Stabiles zu überführen, ihnen Lesen, Schreiben, Mathematik beizubringen—all das braucht viel Geduld, Konfrontation, Diskussion, Zuneigung. Ihre Methode: Den Freiheitsdrang der Ausreißer nicht stoppen, sondern aufnehmen und daraus eine Reisepädagogik entwickeln, eine mobile Schule mit neuen Lehr- und Lernmethoden.
Heimkinder wird daher auch zu einer Art Roadmovie, denn in Portugal, im Süden an der Algarve, weit weg von Deutschland, mögen all die Widersprüche leichter vereinbar erscheinen. Die Reise ist eine enorme Herausforderung für alle Beteiligten. In der Nähe des Meers zu sein, hilft. Kompliziert bleibt es trotzdem. Durch die Kamera Arbeit von Gisela Tuchtenhagen wird etwas von dieser Grundhaltung sichtbar. Was wiederum mit care als Methode zu tun haben könnte. Care, als eine durch respektvolle Distanz-Nähe dargestellte Sorge, um und für.  Eine Grundhaltung den Jugendlichen gegenüber, die diese ernst nimmt, und aus dieser Haltung heraus Möglichkeiten entwickelt.
Durch die Kamera von Gisela Tuchtenhagen mag auch deshalb etwas als Möglichkeit sichtbar werden, weil sie viele der Schwierigkeiten der Jugendlichen durch eigene Erfahrung kennt. Als Schulabbrecherin und Ausreißerin, mit mehrjährigem Zwischenstopp in Paris, gelingt ihr, quasi wie durch ein Wunder, in Berlin erst an der Lette Schule für Fotografie und danach an der dffb angenommen zu werden. Bekannt wird sie später als Kamerafrau, in Zusammenarbeit mit Klaus Wildenhahn, bis sie davon genug hat und eine Ausbildung als Krankenschwester anfängt. “Meine Patienten waren froh, weil ich mir Zeit für sie genommen habe.” Erzählt sie Emilia Smechowski im Interview für die taz. Aber auch, “nach fünf Jahren Krankenhaus ist man verbraucht.” Sie geht zurück und macht weiter als Kamerafrau, Filmemacherin, Dozentin.
 

Zurück