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Katalin Teller
Artistinnen in der Zirkusgeschichte

Katalin Teller | Artistinnen in der Zirkusgeschichte
Foto: Kata Geibl © Goethe-Institut Budapest

„Wir sind die Amazonen des modernen Lebens”  (Das Artistentum und seine Geschichte, Gesammeltes und Erlebtes,1910) – so definierte eine der legendärsten Kunstreiterinnen des 19. Jahrhunderts, Mademoiselle Moise, den Beruf der Zirkusartistinnen, als sie ihrer noch legendäreren Kollegin, Adah Isaacs Menken in Paris den Weg durch das Dickicht der ungeschriebenen und grausamen Gesetze der Unterhaltungsbranche jener Zeit weisen wollte.

Wirklich notwendig hatte Menken das jedoch nicht mehr, da sie zu diesem Zeitpunkt – mit mäßigem Erfolg – bereits auf den Bühnen von Kuba und den Vereinigten Staaten sowie auch in den Künstlerkreisen der New Yorker Bohème zuhause war. Mit ihrem bürgerschreckhaften Lebenswandel (drei Ehemänner in vier Jahren), ihrem Aussehen (kurzes Haar, maskuline Kleidung) beziehungsweise ihren Ambitionen als bildende Künstlerin, Schriftstellerin und Publizistin blieb ihre Person in der damaligen Presseöffentlichkeit nicht unbemerkt. Für wirklich große Furore sorgte sie, als sie 1861 in eine Männerrolle schlüpfte und erstmals im Alter von 26 Jahren am Broadway, später in San Francisco, dann in London und Paris beziehungsweise in Berlin und Wien den ukrainischen Feldherrn Mazeppa verkörpernd dessen Geschichte erzählte. Das Reiterdrama, welches damals basierend auf George Byrons dramatischem Gedicht in zahlreichen Theatern und Zirkussen aufgeführt wurde, berichtet von jener Episode aus dem Leben des ukrainischen Freiheitskämpfers, in der Mazeppa, nachdem er einer polnischen Gräfin den Kopf verdreht hatte, zur Strafe nackt auf den Rücken eines Pferdes gefesselt und in die Ödnis davongejagt wird. Menken bestand darauf, in der Vorstellung mit der Tradition zu brechen und beim Akt der Verbannung selbst den Reiter zu spielen, anstatt eine ausgestopfte Puppe zu verwenden. Das Pferd musste einen Kaskadenfelsen hochspringen und sich von dort aus auf den Manegenboden in die Tiefe stürzen. Diesen Stunt wollte Menken live präsentieren, was allein sicherlich nicht genug gewesen wäre, damit die Nummer große Resonanz findet – das tat sie allerdings sehr wohl, denn Menken nahm auch die Nacktheit des Reiters ernst, weshalb sie sich ein hautfarbenes, enganliegendes Kostüm schneidern ließ. Das Ergebnis: eine ausverkaufte Vorstellung nach der anderen, ein Haufen empörter Kritiker und eine Schar lauter Verehrer. Außerdem wurde Menkens Version übernommen, und zwar von Agnes Lake, einer anderen Kunstreiterin, die ab 1867 damit durch Europa und die Vereinigten Staaten tourte. Der Pariser Karikaturist André Gill interessierte sich – wie die meisten Journalisten jener Zeit – weniger für die artistischen Aspekte Menkens Darbietung als für die nackt anmutenden Kurven ihres Körpers.
A[ndré] Gill: Miss Dada Menken. A[ndré] Gill: Miss Dada Menken | In: G[ustave]-J[oseph-Alphonse] Witkowski – L[ucien] Nass: Le nu au théâtre depuis l’antiquité jusqu’à nos jours. Paris, Daragon, 1909, Seite 144. Adah Isaacs Menken war in Wirklichkeit nur eine späte Nachfahrin jener Mädchen und Frauen, die bereits fast hundert Jahre zuvor die Zirkusmanegen erobert hatten. Ende des 18. Jahrhunderts konnten Kunstreiterinnen im Zirkus nämlich bereits als gleichrangige Mitstreiterinnen ihrer männlichen Kollegen die mit Sand beziehungsweise später mit Sägemehl bedeckte Manege betreten – ja, mitunter waren sie sogar erfolgreicher. Sie verwendeten noch Damensattel, auf denen man nur im Seitsitz sitzen konnte, was eine bedeutend größere Herausforderung darstellte als die Arbeit auf dem Herrensattel. Diese Damen, die die Reitkunst auf meisterhaftem Niveau ausübten, waren nach heutigem Begriff echte Stars: Durch Artikel, Radierungen, Gemälde und literarische Werke wurden sie vor der Vergessenheit bewahrt, beziehungsweise nicht selten auch dadurch, dass sie unabhängig von ihrer Herkunft einen Mann höherer Klasse heirateten, wenn auch der Preis dafür war, dass sie das Zirkusreiten aufgeben mussten.
Für ein zirkusgeschichtliches Unikum unter den Kunstreiterinnen bestand diese „Gefahr” jedoch nicht: Ella Zoyora alias Miss Ella begann in den 1850er Jahren als junges Mädchen ihre Karriere in Amerika. Später, als sie durch Europa tourte, startete ihr Impresario eine professionelle Werbekampagne, infolge derer sich ein regelrechter Ella-Kult bildete, der in ihren Namen tragenden Mode- und Hygieneartikeln Gestalt annahm. Doch auch in der Manege überrundete sie ihre Konkurrentinnen: Sie präsentierte nicht nur Vorwärts- und Rückwärtssalti während des Reitens, sondern sprang auch sechzig Mal durch mit Seidenpapier bespannte Reifen, während sie in der Manege mit hoher Geschwindigkeit im Kreis ritt, was im Programmangebot der damaligen Zeit als wahrlich einzigartig galt. Allerdings hinterließ Ella in der Zirkusgeschichte allen voran deshalb einen tiefen Eindruck, weil sie in Wahrheit ein Mann war. Die Entscheidung des Impresarios, den Kunstreiter als Mädchen zu präsentieren, trug durchaus Früchte – Ella alias Olmar Kingsley zählte angeblich zu einem/einer der bestbezahlten Artisten/Artistinnen. Als sich zudem die Nachricht verbreitete, dass er, zurück in Amerika, geheiratet, genauer gesagt, seine Auserwählte zur Frau genommen hatte, entfachte die Begeisterung um seine Person erneut. Der Reiter tourte nunmehr weltweit als Mann, als Frau sowie als Transvestit. Wie bereits Menken, machte auch Ella Schule: Sam Wasgate gelang es zwanzig Jahre lang unbemerkt als Mademoiselle Lulu Trapezkunststücke darzubieten.
 
Menken und Kingsley sind nur zwei von vielen Fällen, welche die These des modernen Amazonentums belegen. Zu einer Zeit, in der die allgemeine Moral, ja, sogar das Recht die Frau am Herd sehen wollte, erkämpften sie sich Anerkennung in einem Milieu, das ziemlich weit entfernt von dieser Erwartung war. Obzwar Zirkus- und Wanderschaustellerinnen und -schausteller im Hinblick auf ihren rechtlichen und gesellschaftlichen Status im Vergleich zur „Außenwelt” zumeist im Nachteil waren, schuf der Zirkus dennoch ein Umfeld, das in vielerlei Hinsicht das vorwegnahm, was heute als moderne, urbane und globale Lebensform gilt. Ein Beispiel hierfür ist die sich aus der Natur des Zirkus ergebende Internationalität, welche bereits seit den 1780er Jahren die Zusammensetzung der Truppen sowie die Programmpolitik und das Marketing der Zirkusse prägte. Als vor einhundert Jahren, im Jänner 1919, im Budapester Kabarett Télikert – de facto noch unter Kriegsbedingungen – Artistiktage veranstaltet wurden, bezeichnete die Presse diese „wahre internationale Produktion im Zeichen des Friedens” gar als „Manifestation des Friedens”. Des Weiteren gehörte zum Zirkusbetrieb naturgemäß auch das wirtschaftlichen Gründen geschuldete Wandern dazu, welcher Begriff heute durch den immer negativeren Ausdruck „Migration” beziehungsweise durch den als positiv bewerteten Terminus „Mobilität” bezeichnet wird. Wie die Laufbahnen von Adah Menken und Miss Ella zeigen, konnte man zumindest temporär eine ernsthafte Existenz auf dem Wanderzirkusleben aufbauen. Auch ständiges Experimentieren und kontinuierliche Neuerungen bildeten einen organischen Bestandteil des Zirkusbetriebs, was nicht nur technische Innovationen umfasste (die absenkbare Manege diente als Vorlage fürs Theater), sondern auch das Ausloten der Grenzen der Geschlechterrollen, was allen voran den Status der Frauen betraf.
 
Neben den Kunstreiterinnen tauchten bald auch Clowninnen, Kraftakrobatinnen und Dompteurinnen auf, die dem Frauenideal des 19./20. Jahrhunderts erst recht widersprachen: Sie konnten weder die Erwartungen im Hinblick auf Zierlichkeit, Zerbrechlichkeit, Grazilität und dezente Kleidung erfüllen, noch der Rolle der sorgsamen Hausfrau und Mutter gerecht werden. Ebenfalls früh, bereits in den 1810er Jahren ergänzte sich die oben genannte Palette durch die Zirkusdirektorinnen: Die Luftakrobatin Madame Saqui leitete fünfzehn Jahre lang ihren eigenen Zirkus in Paris, Laura de Bach, die Frau des Gründers des Wiener Circus Gymnasticus, übernahm nach dem Tod ihres Mannes die Leitung des Ensembles. Auch die zeitweilige Wiener Muse des Dichters János Vajda, Gina (Georgina) Oroszy tourte mit ihrem eigenen Unternehmen. Diese Frauen forderten Raum für sich in von Männern dominierten Bereichen, und das deutlich früher als dies für sie als Frauen in anderen Berufen möglich gewesen wäre.
 
All das bedeutete jedoch noch lange nicht, dass man den Zirkus als aktiven Vorreiter der weiblichen Emanzipation hätte bezeichnen können, oder dass das Publikum und die Kritik diese Institution als solchen gefeiert hätten. Vielmehr kann hier von einer Dualität gesprochen werden, und zwar insofern, dass der Zirkus in den sich verbürgerlichenden, urbanisierenden westlichen Gesellschaften einerseits zu einer der strikt auf Kapitalbasis betriebenen Institutionen der aufblühenden Unterhaltungsbranche wurde, andererseits jedoch Sehnsüchten und Bildern Gestalt zu verleihen vermochte, die durch die Illusion der Freiheit, des Nonkonformismus und der Verspieltheit suggerierten, dass der Ausbruch aus dem alltäglichen Trott oder auch der gesellschaftliche Aufstieg möglich sind. So hätte beispielsweise Mitte des 19. Jahrhunderts die aus Mexiko stammende Julia Pastrana, die an übermäßigem Haar- und Gewebewachstum litt, sicherlich das Leben Marginalisierter gelebt, hätte sie nicht als Showdarstellerin im Zirkus die Welt bereist und währenddessen sogar geheiratet und ein Kind geboren.

Julia Pastrana, the Nondescript [Julia Pastrana, die Unbeschreibliche] Julia Pastrana, the Nondescript [Julia Pastrana, die Unbeschreibliche]. Lithographie. | Wellcome Collection Allerdings bedurfte es dafür natürlich eines nach exotischen Spektakeln und schauererregenden Phänomenen durstenden Publikums, welches noch dazu bereit war, für derartige Vorstellungen zu bezahlen. Freilich brauchte es auch die Fantasie des Direktors des ansonsten streng hierarchisch aufgebauten Zirkus sowie die Tatsache, dass er eine Geldquelle in dieser außergewöhnlichen Frau sah. Im modernen Amazonentum konnte sich demnach zwar die Kritik an der bestehenden gesellschaftlich-wirtschaftlichen Ordnung widerspiegeln, gleichzeitig beugte man sich aber auch den schonungslosen Gesetzen derselben.


 

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