Heinrich von Kleist
Der Komet der Literatur

Der Komet der Literatur_Magazin
Amphitryon im Nationaltheater Budapest | Foto: Nemzeti Színház

Wo ich sein Werk auch aufschlage, Kleist trifft mich wie ein Stromschlag. Wenn man sich im Mittelalter etwas prophezeien lassen wollte, öffnete man die Bibel oder Vergils Aeneis und zeigte mit geschlossenen Augen auf irgendeine Zeile. Die Bedeutung dessen, was man dort las, wurde niemals angezweifelt. Ich will nun, während ich diese Zeilen schreibe, dasselbe mit Kleist versuchen. Ich will mir nicht prophezeien lassen, ich will wissen, ob ich wirklich einen Stromschlag verspüre.

Ich schlage den zweiten Band der letzten Kleist-Ausgabe von Sembdner auf und mein Zeigefinger hält auf der Zeile: „Sie wandte sich, und hob ihr Jüngstes auf, das hinter ihr auf dem Boden spielte ...“ Der Satz, genauer Satzteil, stammt aus Michael Kohlhaas und setzt sich noch fort, und zwar immer verschlungener: „..., Blicke, in welchen sich der Tod malte, bei den roten Wangen des Knaben vorbei, der mit ihren Halsbändern spielte, auf den Roßkamm, und ein Papier werfend, das er in der Hand hielt.“ Es ist Lisbeth, die Frau von Kohlhaas, die ihren Mann so anschaut, als sie erfährt, dass er, ohne sie vorher davon zu unterrichten, seinen Besitz zu verkaufen beabsichtigt. Aber nicht nur der Blick der Frau bedroht in diesem Moment den Mann, auch die Sprache steht am Rand des Abgrundes. Noch ein untergeordneter Satz, noch ein Verb oder Adjektiv, und das Ganze würde in Unverständlichkeit ausarten. 

Es balanciert ohnehin schon am Rand des Verständlichen und Erträglichen. Und stürzt doch nicht ab. Schließlich trifft der Satz mit der Genauigkeit einer Gewehrkugel ins Ziel. Er ist tödlich genau, genauso tödlich wie die Blicke der Frau. Und genauso versengend. Er verbrennt nicht den Sinn, nicht die Verständlichkeit, sondern das An-den-Dingen-Vorbeireden, die Höflichkeitsfloskeln. Deshalb lässt sich trotz der Komplexität des Satzes keinen Augenblick von Umständlichkeit sprechen. Wie auch Kleist nie umständlich war – was nicht heißt, dass er unkompliziert gewesen wäre. 

Dieser beliebig gewählte Satz ist wie Kleists ganzes Werk. An welcher Stelle man es auch aufschlägt, auf welchen Satz man auch zeigt, nie findet man ein überflüssiges Wort. Als hätte Kleist im Voraus gewusst, dass ihm nur ein kurzes Leben beschieden sein würde: er machte keine Zugeständnisse, schloss keine Kompromisse mit der Allgemeinverständlichkeit. Er hörte ausschließlich auf das, was ihn im Innersten bewegte. Deshalb lodert die Leidenschaft auch in seinen kältesten, berechnendsten Sätzen noch mit höchster Intensität. Und er lässt nie zu, dass sie erlischt. Das verleiht seinen Sätzen, aber auch den Handlungen seiner Geschichten ihr dichtes Gewebe. Alles daran ist versengend.

Als Gegenprobe genügt es, ein Wort oder auch nur ein Komma, einen Gedankenstrich auszustreichen. Der Satz bricht kraftlos in sich zusammen. Kleists Herausgeber strichen die vermeintlich überflüssigen Kommas, Strichpunkte und Gedankenstriche zu Hunderten aus. Die Geschichten blieben zwar verständlich, aber sie wirkten wie Papier, das man seines Wasserzeichens beraubt hatte. Sie verloren ihre Spannung. Als hätte man sie glattgebügelt. Sie begannen den Erzählungen Fontanes oder des jungen Thomas Mann ähnlich zu werden. Nicht, dass die in ihrer Art nicht vollkommen wären. Aber sie ähneln einander. Ihnen ist gemeinsam, dass nicht Kleist sie geschrieben hat. Kleist ähnelt nämlich niemandem sonst. Im Vergleich zu ihm bilden die anderen Schriftsteller ein großes Heer – das Heer der Literaten. Kleist steht außerhalb dieses Heeres. Manch ein zeitgenössischer Kritiker bezweifelte sogar, ob man bei ihm überhaupt von einem Schriftsteller sprechen konnte. Wenn die Literatur ein riesiges Planetensystem darstellt, in dem das Gesetz der Gravitation alle Planeten, und mögen sie noch so unterschiedlich sein, in einer festgelegten Bahn hält und kein Ausscheren aus ihrem harmonischen Zusammenspiel erlaubt, dann ist Kleist mit einem Kometen vergleichbar. Auch ein Komet hat eine streng bemessene Bahn – aber er richtet sich nach nichts anderem. Er beschreibt seine eigene Bahn, bis er schließlich verglimmt. Sein Anblick verursacht begreiflicherweise stets größere Aufregung als der der Planeten. Natürlich gibt es auch viele Kometen; aber sie sind alle einsam, einmalig, besonders. Wie Kleist. Oder Kafka. Oder Trakl. 

Woher diese schreckliche Spannung? Ich denke, dass Kleist etwas Großes vorhatte. Er wollte zwei fundamental unterschiedliche, unvereinbare Ziele miteinander in Einklang bringen. Einerseits versuchte er, wie Goethe zu schreiben, die Welt als ein großes Ganzes festzuhalten, das Ganze zu erfassen. Er wollte dasselbe wie sein Zeitgenosse Hegel: Ganzheit erlangen, Werke schreiben, in denen alles enthalten ist. Ihm schwebte die Totalität vor. Wie dem Kurfürsten in Prinz Friedrich von Homburg. Er war sich andererseits aber auch im Klaren darüber, dass das Denken im großen Ganzen, in der Totalität einen schrecklichen Preis hat. Der Teil, das Einzelne wird im Getriebe der Totalität meist zu einem Krümel, geht verloren, löst sich in etwas anderem auf, wird zermahlen, verliert sein Recht auf Endgültigkeit. Kleist war mit jeder Faser seines Herzens bestrebt, dem Individuellen, dem Zerbrechlichen, dem Flüchtigen sein endgültiges, unveräußerliches Recht zukommen zu lassen. 

Er bestand darauf, dass Homburg genauso recht bekommt wie der Kurfürst. Er versuchte dem Augenblicklichen Endgültigkeit zu verleihen. Sein Schaffen stand im Bann des Ganzen, sein Interesse hingegen galt ganz und gar dem Teil, dem Einzelnen, dem Persönlichen, dem Individuellen, dem Unwiederholbaren. Er wollte die Ordnung und das Außerordentliche so miteinander in Einklang bringen, dass dabei beide unbeeinträchtigt blieben. 

Aus der Perspektive Goethes oder Hegels betrachtet untergräbt, zertrümmert Kleist alles. Er ist der Terrorist der Literatur. Goethe fand Kohlhaas „beängstigend“ und Kleist als Person natürlich ebenso. Für Kleist hingegen muss Goethes Bemühen am beängstigendsten gewesen sein, alles mit allem zu versöhnen. „Versöhnungsgeschäft“. Kleist selbst erfand dieses schreckliche Wort in seiner Erzählung Das Erdbeben in Chili. Vielleicht hatte er dabei Goethe im Sinn, der – wenn auch lange nach Kleists Tod – in seiner Schrift Nachlese zu Aristoteles’ Poetik (1826) – Katharsis als „aussöhnende Abrundung“ übersetzte. Nichts stand Kleist ferner. Goethe oder Hegel mögen Kleist wie Friedensrichter vorgekommen sein. Wie Adam in Der zerbrochne Krug. Jene dagegen erblickten in Kleist vermutlich einen Kamikaze.

Mehr Glück hatte Kleist aber auch mit der Gegenseite nicht. Den Romantikern mochte es ein Dorn im Auge gewesen sein, dass Kleist stets alles abschließen, zu Ende führen, stets irgendeine Lösung finden wollte. Es wäre ihm gar nicht eingefallen, mit Bruchstücken zu experimentieren; er hatte spätestens während seiner Kant-Krise, die für ihn die Schwelle zur Schriftstellerlaufbahn bedeutete, gelernt, stets nach dem Maximum zu streben – aus allem irgendeine Gewissheit herauszuquetschen, auch um den Preis, dass alles andere unter diesem Willen litt oder gar zugrunde ging. 

Selbst die schreckliche Geschichte des Michael Kohlhaas drehte und wand er so lange, bis seinem Helden das versöhnende Wissen zuteil geworden war, dass es sehr wohl eine Gewissheit gab – und so fehlt denn auch das Happy-End nicht. Wen kümmert es schließlich, dass Kohlhaas hingerichtet wird, wenn es ihm selbst nichts ausmacht: nichts glich „der Ruhe und Zufriedenheit seiner letzten Tage“. Dort wo infolge des radikalen Charakters seiner Figuren alles explodieren müsste, rettet Kleist die Situation (Die Marquise von O..., Prinz Friedrich von Homburg, Das Käthchen von Heilbronn, Die Hermannsschlacht). Aber selbst dort, wo er die Ereignisse ausarten lässt, sorgt er noch dafür, dass den Leser oder Zuschauer am Ende eine tiefe Ruhe überkommt (Die Familie Schroffenstein, Penthesilea, Die Verlobung in St. Domingo, Der Findling). Womöglich ist Amphitryon sein einziges Werk, das er offen enden lässt. Aber wer weiß. Man kann Alkmenes letzten Seufzer – „Ach!“ – auch als einen Aufschrei verstehen, in dem das Universum als Ganzes in Bruchstücke zerfällt. 

Es gibt nur das Ganze – während es doch nur das Fragment gibt. Kleist vereinte das Feuer und das Wasser und löste damit ein, was der alte Wieland von ihm erhofft hatte: dass er jenen leeren Platz einnehmen möge, den nicht einmal Goethe oder Schiller hatten ausfüllen können – das schmerzhafte Fehlen der Griechen oder eines Shakespeare in der deutschen Literatur. Mit persönlicher Abneigung allein ist Goethes grundsätzlich negative Meinung über Kleist nicht zu erklären. Viel eher schon mit seinem untrüglichen Sinn für Qualität. Er wusste genau, wer Kleist war. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass nur ein Shakespeare oder ein Racine ähnlich wie Kleist in der Lage waren, sowohl die Ganzheit unablässig im Blick zu behalten als auch ihre ganze Aufmerksamkeit darauf zu richten, die zerbrechlichen Einzelheiten zu hüten. Kleist war ein Komet, der am liebsten das Kreisen des ganzen Sonnensystems nach seiner eigenen außergewöhnlichen Bahn gerichtet hätte.