Aigul Kemelbayeva
Berliner Tagebuch

Bei den Kasachen gibt es ein Sprichwort, das besagt, das Schicksal des Menschen sei allein vom Allah vorbestimmt: „ Wenn der Allmächtige es will, verpasst du nichts, wenn Er es aber nicht will, schaffst du nichts“! Ich bin meinem Schicksal für die Möglichkeit sehr dankbar, dass ich mich nach dem Programm des Goethe-Instituts zwischen dem 15. Mai und dem 15. Juni dieses Jahres einen Monat lang in der deutschen Hauptstadt aufhalten konnte. Dabei habe ich mir von früh bekannte Literatureinrichtungen und- stätten angesehen, mich mit Fachleuten in diesem Bereich unterhalten und mich wiederholt überzeugen können, wie recht Johann Wolfgang von Goethe gehabt hatte, als er vor 190 Jahren, am 31. Januar 1827, bei einem Gespräch mit seinem Literaturdirektor Eckermann betont hatte: „Die Poesie ist ein geistiger Wert der ganzen Menschheit. Wir sind nun im Zeitalter der Weltliteratur“. Ich erinnere mich öfters an diesen  prophetischen Gedanken. Das naturphilosophische Wesen, die metaphysische Weltanschauung, die Fähigkeit, die Zukunft zu prognostizieren, die esoterische Stellungnahme von Goethe, diesem Großen der Weltliteratur, haben mich, eine kasachische Schriftstellerin, tief beeindruckt. Ich gehöre eigentlich zur Gruppe von Menschen, die die Welt durch esoterische Zeichen kennenlernen, daher weiß ich, dass diese geheime Anziehungskraft nicht umsonst ist.

Niemand kann irgendwie bestreiten, dass ich als Motto für meine zwei kleinere Erzählungen von 2016 Zitate aus dem Märchen von Brüdern Grimm „Die Wichtelmänner“ und aus Goethes Gedicht „ Erlkönig“ mit Absicht genommen habe, weil sie am besten geeignet waren, den Inhalt meiner beiden Erzählungen, ihre Idee dem Leser nahe zu bringen.

Ich möchte mich hiermit ganz herzlich bei dem Goethe-Institut bedanken, dass es mir ermöglicht hatte, über die goldene literarische Brücke zwischen den Völkern zu gehen. 

Als das Flugzeug Astana-Moskau-Berlin im Flughafen Schönefeld landete, wurde ich von Arailym, der Tochter meiner Schwester, abgeholt, weil ich kein Deutsch sprach. Sie studiert an der Magistratur in Deutschland und kam extra aus einer anderen Stadt angeflogen, um mich zu betreuen. Arailym brachte mich ins Haus der Literaten, das bei LCB, Am Sandwerder 5, Westberlin, am wunderschönen Wannsee lag. Diesmal habe ich besonders deutlich verstanden, wie es wichtig ist, eine Fremdsprache zu beherrschen. Denn die Sprache ist jener Weg, der durch das goldene Tor zu geistigen Verbindungen in der Zukunft führt.
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Vor mir lag der spiegelglatte Wannsee. Das imposante LCB-Gebäude am Strand, das zwar vor 130 Jahren gebaut worden war, aber seine Architektur zieht von weitem den Blick auf sich. In der Nähe eine Bootausleihstation und eine Fähre, ein  märchenhafter Wald ringsum. Von früh bis tief in die Nacht hinein singen die Vögel. Beim Abendspaziergang kann man unter den Büschen oft Igel treffen, ab und zu huscht auch ein Fuchs davon.

Am 17.Mai kam aus Tiflis georgischer Mitarbeiter des Goethe-Instituts Zurab Bolkvadze angeflogen, der die ganze Zeit unsere Gruppe betreut und begleitet hatte. Auch  Dolmetscherin Jekaterina Jevtusevskaja war stets bei uns.

Als Erstes besuchten wir das Haus, wo einst Oskar Preußer gelebt hatte und wo nun das Archiv vom Schriftsteller Theodor Fontane (1819-1898) untergebracht ist. Wie die Bibliothek so auch sein Archiv machte auf uns einen unvergesslichen Eindruck.

Berliner Reise verstärkte meinen Eindruck, dass das deutsche Volk ein großes Volk ist, das sein wertvolles Erbe, die eigene Kultur, seine Geschichte, seine besten Söhne und Töchter wie leuchtende Sterne am Himmel hoch zu schätzen weiß. Claude Adrien Helvetius` Worte „Nur die Freiheit erhebt den Geist des Volkes, und der Geist des Volkes ist der Geist seiner Schriftsteller“ charakterisieren die Atmosphäre im Land.

Als Fachmännin, die am Moskauer Gorki-Institut für Literatur die klassische Literatur führender deutscher Schriftsteller studiert hat, kenne ich die deutsche Literatur ganz gut. Dass große Länder ihre eigene Literatur hoch schätzen, kommt nicht allein von dem wunderbaren ästhetischen und dem geistigen Streben, das ist auch ein Zeichen des stark entwickelten Selbsterhaltungstriebs.  Die Fälsche, die Heuchelei und die Augenauswischerei sind Eigenschaften, welche den Deutschen fern sind. Der Selbstbetrug und der Verzicht auf edle Tugenden sind meines Erachtens eine Satanssache, die in die moralische Zerlegung der Gesellschaft führt. Wenn der Geist der Menschen im Sumpf steckt und unrein ist, sind dann alle Bemühungen vergebens.

Dem kasachischen Volk, das der Jahrhunderte lang gedauerten Irreführung und dem Genozid in der grenzenlosen Steppe nur dank dem hohen Geist und der Menschenliebe hatte widerstehen können, sind daher diese edlen Wurzeln wieder zu beleben.   

Am 19.Mai besuchte eine kleinere Gruppe, die aus dem usbekischen Dichter Azam Abidov, seiner Frau Nodira Abdullajeva, der georgischen Schriftstellerin Anna Kordzaia-Samadashvili bestand, die Humboldt-Universität zu Berlin. Wir machten unter der Führung des Schriftstellers und Literaturforschers, Herrn Michael Bienert einen literarischen Rundgang. Unser Projekt hieß „Poeten unter den Linden“. Herr Bienert hielt vor dem Brecht-Denkmal einen Vortrag.  Während des Zweiten Weltkrieges war Berlin total zerstört. Da hatte Brecht ein Theater gegründet. Das Theatergebäude war einfach, einfach war auch die Bühne. Das Publikum, vorwiegend Arbeiter, sah sich die Geschehnisse an, die auf der Bühne gezeigt wurden. Brechts Sprache war kurz und beeindruckend.

Ich brauche nicht zu sagen, dass das deutsche Volk durch seine geistige Verbindung und den hohen Geist die Herausforderungen überwinden konnte, welche ihm geschichtlich zuteil geworden waren. Herr Bienert zeigte uns die Linie an der ehemaligen Grenze, dem stummen Zeugen der Tragödie und der Leiden des Landes, das damals willkürlich geteilt worden war. Die Westberliner durften zwar nach Ost-Berlin kommen und ihre Verwandten besuchen, aber der Gegenbesuch war verboten. 1988 wurde in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik Ost-Berlin ein Bertold-Brecht-Denkmal errichtet, und nach einem Jahr verschwand die DDR aus der Weltkarte. Aber Brechts Worte: „Die Künstler sind vor der Gesellschaft nicht nur verantwortlich, sie ziehen die Gesellschaft auch zur Verantwortung“ haben an ihrer Bedeutung nicht eingebüßt.

Auch Bücher sollten die tragischen Jahre und Tage des zweiten Weltkrieges über sich gehen lassen. Wie die Katholische Kirche die Andersdenkenden als Ketzer verbrannt hatte, so steckten auch die Faschisten über 20 Tausend Bücher vor dem Universitätsgebäude ins Feuer, wo jetzt das «Autodafe-Denkmal“ steht. Die Menschheitsgeschichte kennt zwar solche Geschichten. Aber die Wissenschaft und die Kultur zu vernichten zu versuchen, ist die allergrößte Sünde.

Die Architektur des Gebäudes der Humboldt-Universität erinnert an gestapelte Bücherregale. Die Universitätsbibliothek trägt den Namen der Brüder Grimm. Sie hatten Muster der deutschen Folklore und der Linguistik gesammelt, die größtenteils in Berlin aufbewahrt sind. Dadurch stellten sie ein hohes Muster dar, wie man seinem Volk dienen muss! Ich wollte Werke von Jakob und Wilhelm Grimm, die den Grundstein der Germanistik gelegt hatten, kaufen, um sie später mit Hilfe der Wörterbücher im Original zu lesen, leider konnte ich sie in keiner Bücherei finden. Vielleicht  gibt es sie in der russischen Übersetzung. Ich habe als Literaturwissenschaftlerin einmal Belger, Gerold Karlowitsch, dem verstorbenen kasachisch-deutschen Volksschriftsteller, der in Kasachstan hohe Popularität genießt, versprochen, einen wissenschaftlichen Beitrag zum Thema „Deutsche Volksballaden und die kasachische Literatur“ zu schreiben. Ob die einzige Märchensammlung („Der Zauberberg“ von Grimm, Titel von Thomas Mann), die ich doch gefunden hatte, mir genug Materialien dazu liefern könnte?!

Das Hauptgebäude der Humboldt-Universität wurde im Jahre 1910 gebaut. Der Staat brauchte hochbegabte Fachleute, um Staatsreformen und Umgestaltungen in der Gesellschaft realisieren zu können. Die Gründung einer Universität, die die ganze Welt erfassen und als Beispiel für andere Länder dienen könnte, war die Umsetzung der Träume und der Ideen von Goethe über eine Weltliteratur!

An der Universität studieren junge Leute aus der ganzen Welt. Neben den Universitäten Oxford und Sorbonne ist sie eine der größten und anerkanntesten Bildungsstätten weltweit. Nicht weit von der Universität liegt der Hegel-Platz. In diesen Gebäuden sind nur Fakultäten für Germanistik untergebracht. Ich glaube, dass A. Tschechow den Begriff „Der ewige Student“ im weitesten Sinne des Wortes verwendet hatte. Meines Erachtens gehören die Schriftsteller zu dieser Kategorie, weil sie ihr Leben lang lernen müssen.
Die Zitate an der Gedenktafel für Heinrich Heine, die aus Eisen gegossen und auf den Boden gefestigt sind, stammen aus seinen Büchern, die zur Faschistenzeit verbrannt worden waren. Das ist eine Illustration für sein „Deutschland. Ein Wintermärchen“, die Gestalten erzählen über die Geschichte Deutschlands und ähneln denen, die aus Grimms Märchen bekannt sind. In Berlin gibt es zwei Heine-Denkmäler, das eine, das wir gesehen haben, war von blühenden Kastanienbäumen umgeben.