Aigul Kemelbayeva
Berliner Tagebuch (Teil 3)

Herr Lutz Dietrich erzählte uns, dass Gerta Müller es zu ihrer Lebenssache gemacht hatte, ein Emigrationsmuseum zu gründen. So entstand der Fonds „Flucht und Vertreibung“. Die Nachkommen der durch den Faschismus Verfolgten sind für ethnische Deutsche besonders notwendig. Wie das kasachische Staatsprogramm „Heimkehr“ ist es ein Versuch, die Emigrierten ins Land zurückzuholen und sie zu rehabilitieren. Der Vater von Gerta Müller gehörte zu denen, die von der SS verfolgt worden war. Die grausame Geschichte des 20. Jahrhunderts hat fast alle Länder getroffen. Mein Großvater war auch Opfer der Repressalien, wurde verhaftet und als Volksfeind erschossen.

Die deutschen sagen Herta, aber da es diesen Laut und Buchstaben im Russischen nicht gibt, wird es wie „Gerta“ ausgesprochen. In der kasachischen Sprache gibt es- wie im Deutschen und Französischen- eine Reihe von Lauten wie „h, ғ, ұ, ү, і“, warum sagen und schreiben wir dann nicht „Һофманн, Һэссе“? Meine Reise nach Berlin hat mich auf diesen Gedanken gebracht.

Im Erdgeschoß des Literaturhauses an den Fasanenstraße gibt es eine Buchhandlung. Wie alles bei den Deutschen so gut durchdacht ist! In dieser Buchhandlung habe ich mit Scholpan für 28 Euro die Sammlung «Glückliche Wirkungen». Eine literarische Reise in bessere Welten“ gekauft. Was für uns interessant war, fanden wir- Azam Abidov, Anna Kordzaia-Samadashvili und ich - auch unsere Erzählungen. Scholpan hat sich darüber sehr gefreut, denn davor konnte sie diese Sammlung in mehreren Buchhandlungen nicht gefunden. Sie war bereits im März ausverkauft, was von großem Interesse der Leser zeugt. Natürlich verpasste sie die Gelegenheit nicht, von uns allen Autogramme zu bekommen.

Nun nahmen wir eine Fähre, um eine Seefahrt auf dem Wannsee zu unternehmen. Auf dem Weg sahen wir einen Schwan, und auf dem Rückweg begleiteten uns zehn braune Gänse.

Am 27.Mai schloss sich Markus Kedziora aus dem Moskauer Goethe-Institut uns an. Am Sonnabend besichtigten wie das Brecht-Haus. Neben dem Museum gab es einen Friedhof, innen voller Blumen, Denkmäler und Büsten. Hier waren viele bekannte Personen, Staats- und Gesellschaftsfunktionäre beerdigt.

Von 1933 bis 1948 war der bekannte Dramaturg Bertold Brecht in der Emigration. 1948 kam er nach Berlin zurück und gründete hier sein Theater. Gotthold Ephraim Lessing hat mal geschrieben: „ Es gibt nur eine Bühne, die die Herzen des einfachen Volkes, die Öffentlichkeit erreichen kann, Das ist das Theater“. Lessing spricht hier von der Macht des Theaters, die sowohl auf Aristokraten als auch auf analphabetische Bauern und Arbeiter denselben Eindruck macht, wie die Zeichnungen des berühmten Künstlers Gustav Dore.
In der Hausbibliothek von Brecht gibt es sehr viele antiquarische Bücher. Sein Lieblingsbuch war die Bibel. Der Marx-Anhänger Brecht war nicht in der kommunistischen Partei. In seinem Arbeitszimmer stehen sieben (!) Schreibtische, jeder für ein Genre, für verschiedene Manuskripte bestimmt!  Einer für Poesie, der andere für Prosa, der dritte für Übersetzungen usw. Je nach seiner Stimmung und der Notwendigkeit setzte er sich an den dafür bestimmten Tisch, so hat er sich eine passende Arbeitsatmosphäre geschaffen.

Am 29. Mai führte uns Scholpan ins Kurt-Tucholsky-Museum. Die Mitarbeiter des Goethe-Instituts Markus Kedziora und Iwan Uspenski warteten bereits auf uns. Das war früher Palast des preußischen Königs. Vor dem Museum liegt ein See, und um ihn herum ist ein Wald. An den hölzernen Balken haben die Schwalben ihre Nester gebaut, daraus stecken Küken die Köpfe heraus. Ich habe mehrere Schwalben gesehen, die ein und ausflogen. Kronprinz Friedrich las die Bücher von Niccolo Machiavelli. 1740 schrieb er: “Der König ist nicht der Herrscher des Reiches, er dient dem Volk!“ Als er zum König geworden war, schenkte er den Palast dem jüngeren Bruder Heinrich. Zu Lessings Zeit bestand Deutschland aus 365 kleineren und größeren Fürstentümern. Zu einem einheitlichen Staat wurde es erst später zurzeit von Bismarck formiert.

Kurt Tucholsky war ein Schriftsteller, der vieles getan hatte, um zwei befeindete Völker- deutsche und französische- zu versöhnen. Er selbst war jüdischer Abstammung. Tucholsky war gegen den Krieg, konnte aber vorhersehen, dass es zum Krieg kommen wird. Seine Bücher wurden verboten und verbrannt. Als Europa vom schwarzen Nebel bedeckt wurde, beging er im Alter von 45 Jahren vor Enttäuschung Selbstmord.

Am 30. Mai gab der leitende LCB-Mitarbeiter Jürgen Becker den aus verschiedenen Ländern angereisten Schriftstellern zu Ehren ein Mittagessen. Die Gäste fühlten sich frei wie Mitglieder einer Familie, alle waren lustig, unter ihnen war ich wohl die einzige, die keine Fremdsprache beherrschte. Alle konnten Englisch, während ich einen Dolmetscher brauchte. Laura Ott, ein sympathisches, äußerst freundliches Mädchen am LCB, hat extra für mich Hirse mit Hammelfleisch, Kürbissen und Tomaten in der Küche zurückgelegt, mit einem Zettel „Für Aigul“, weil ich bei der muslemischen Fastenzeit erst beim Einbruch der Dunkelheit essen durfte. Das hat mich an die Tradition der Kasachen erinnert, vom Festessen für einen Spätgast ein Stückchen zurückzulegen. Ich war ihr für ihre Fürsorge und ihr Taktgefühl sehr dankbar.

Beim Essen erzählte uns Herr Becker über die Geschichte des LCB. Dieses imposante Haus wurde 1885 für die Familie eines sehr reichen Mannes gebaut worden. Es hatte auch verschiedene Etappen der Stadtgeschichte über sich gehen lassen, bis es 1963 es der Regierung übergeben wurde. Um 11 Uhr kam Grigorij Arossjew, Chef-Redakteur der  russischsprachigen Zeitschrift in Berlin „Berlin. Ufern, um mich, Anna und Asam zu interviewen. Es erscheint bald in dieser Zeitschrift in Berlin.

Um 20.00 Uhr lasen wir, die eingereisten Schriftsteller, vor einem großen Publikum Auszüge aus unseren Werken vor, die ins Deutsche übersetzt worden waren. Jeder Schriftsteller hatte nur 30 Minuten Zeit. Als Erste hatte die polnisch schreibende Ukrainerin Zhanna Stoniowska das Wort. Sie sprach zwar englisch, aber der Auszug aus ihrem Roman wurde deutsch vorgelesen. Dem folgten Auszüge aus zwei Werken der Schriftstellerin Anna Kordzaia-Samadashvili, die ebenfalls aus dem Georgischen ins Deutsche übersetzt worden waren.

Um 21 Uhr war ich dran. Zuerst stellte Scholpan Kysaibajewa mich vor, dann las eine dafür extra eingeladene junge Frau einen Auszug aus meiner Erzählung „Schaschty“ sehr ausdrucksvoll vor. Gerade in diesem Moment rief im nahe liegenden Wald der Kuckuck. Es war das zweite Mal seit ich nach Berlin gekommen war. In dieser Erzählung historisch-epischen Charakters geht es um das Schicksal der zehnten Vorfahren von Mustafa Shokay, der in Berlin begraben liegt. Der Verleger hatte mich dabei stets im Auge. Meine Antworten auf Russisch wurden von Anna übersetzt. Ich hatte den Eindruck, als höre das Publikum aufmerksam zu, später hat Scholpan es bestätigt. Da ich und Azam aus Zentralasien waren, schien es mir, das die Zuhörer uns als Autoren für sie neuer Themen aufgenommen hatten.  Aus den literarischen Treffen, die in diesem Haus öfters stattfanden, habe ich die Schlußfolgerung gemacht, dass die aufrichtige Liebe der deutschen Gesellschaft beachtenswert ist. Der grüne Garten des Landes, das versteht, die Kultur hochzuschätzen, wird nie verwelken.

Am 31.Mai besuchten wir das Haus für Poesie, ehemals Literaturwerkstatt Berlin. Frau Kristina Lange erzählte über die Tätigkeit dieser Institution. Sie hatte 6 Mitarbeiter, außerdem gab es mehrere nicht fest angestellte Mitarbeiter. Eines der Projekte war der Lyrik gewidmet, an dem 140 Dichter teilgenommen hatten. Das Haus für Poesie veranstaltet jährlich im Sommer das Poesiefestival „Europa. Fata Morgana“. Es popularisiert die Dichter wie Jan Wagner, Dagmara Kraus, die derzeit zu den beliebtesten gehören. „Es ist sehr kompliziert, solche Dichter wie Dagmara Kraus zu übersetzen,- sagte Kristina Lange. Sie schreibt in drei Sprachen: Französisch, Deutsch und Polnisch. Sie gleicht einem Bergarbeiter, der tief unter der Erde wühlt“.

In Deutschland leben Schriftsteller und Dichter davon, dass sie verschiedene Lesungen machen. Dazu gehören solche Werte wie Kunst und Talent. Mit solchen Fragen, wie Talente aufzudecken, sie zu popularisieren, befassen sich extra geschulte Personen. Außerdem vergibt sie eine Vielzahl von Stipendien und Ausschreibungen. Es gibt viel mehr Preise für Prosawerke als für Poesie. Ich komme gerade aus dem Iran. Dort gibt es die Tradition, am Grabe von  Hafis  in Schiras ihre Lieder zu lesen. Jeden Abend kommen Hunderte von Menschen und lesen die Gedichte der großen Dichter vor. Darüber habe ich mich sehr gewundert. So eine Tradition gibt es in Deutschland nicht.“ Hodsha Hafis war Sufist, Derwisch, sein ganzes Leben lang lebte er unter ärmlichen Verhältnissen in einer Hütte. Er war ein Dichter, der den Menschen seine unsterblichen Gedichte hinterlassen hatte.

Berlin ist ein Kulturzentrum. Da finden oft Zusammenkünfte der Jugendlichen statt. Wovon leben sie denn diese jungen Dichter? Sie leben hauptsächlich von ihren Gedichten und Lesungen im Haus für Poesie. Es werden für junge Autoren und Übersetzer literarische Wettbewerbe und Workshops organisiert. Diese eigenartige Institution hat ihre eigenen Methoden entwickelt: nach Möglichkeit werden Sprachen der Welt und die ausgewählte Musik verwendet. Sie befasst sich auch mit der künstlerischen Ausbildung. Es werden jeweils zwei junge Autoren eingeladen, die über ein bestimmtes Thema diskutieren.

Ab 1990 gewinnt die Poesie immer mehr an Aufmerksamkeit: „Lyrik-line“- ein Abend für die Lyrik. Im Jahr 2000 wurde das erste Poesiefestival mit verschiedenen Konzerten durchgeführt. Für dieses Jahr ist in der Akademie der Künste das 18. Festival geplant. Seit 2008 werden hier Filmfestivals durchgeführt, denen Lieder und Gedichte zugrunde liegen. Dazu trägt der You-Tube- Kanal bedeutend bei. Hier gibt es einen wunderbaren Liederbestand, der keine Seinesgleichen in der Welt hat. Im Portal „Lyrik“ sind 1189 Gedichte der Autoren aus der ganzen Welt gesammelt und aufbewahrt. Diese Zahl wächst mit jedem Tag. Wir haben die Stimme des verstorbenen Nazim Hikmet zu hören bekommen, der seine Lieder selbst vorliest. „Man nennt es Archiv der Lyrik der Welt, die sind in keinem Buch zu finden. Jeder unserer Autoren bietet hier seine ausgewählten 10 Gedichte. Viele Gedichte aus dem Bestand sind in über 70 Sprachen geschrieben und gesprochen. Das Internet ist für die Poesie eine besonders gut geeignete Möglichkeit. Die lebendige Stimme des Menschen ermöglicht das authentische Verstehen der Gedichte. Viele Autoren haben ihre eigene Sendung. Das Projekt ermöglicht den Autoren, ihre Lieder in der Muttersprache vorzulesen. Bei einigen wird auch deren Übersetzung mit angeboten“, - erzählte Frau Cristina Lange.

Am 4.Juni flog Scholpan nach Almaty zurück, von nun an übernahm die Führung, somit auch die Zuständigkeit für das Projekt, Frau Nigora Abdukodirova, eine Mitarbeiterin des Goethe-Instituts aus Taschkent.

Am 5. Juni kam aus Brüssel Frau Zaure Batajeva mit ihrem Mann, um mit mir zu sprechen. Mit Zaure stand ich seit langem im elektronischen Briefwechsel. Als sie 2003 zum Studium nach Amerika abflog, gab ihre Hochschullehrerin in Almaty Wera Saweljewa ihr drei Bücher mit, die das Stipendium des Kasachstan-Soros-Fonds gewonnen hatten. Ich war Autor eines von diesen Drei. Obwohl Sauresch heute in Westeuropa lebt, ist sie eine Person, die vieles für die Popularisierung der kasachischen Literatur im Ausland tut. Sie ist eine gute Übersetzerin, Literturwissenschaftlerin, beherrscht einige Sprachen. Sie hat meinen Roman „Das Minarett“ interlinear ins Englische übersetzt. Sie war sowohl Mäzen, als auch eine interessierte Person und Übersetzerin. Sie hat Herrn Schelly dafür gewinnen können, den Text zu redigieren. Den Druck „Edited by Shelley Fairweather. Translated by Zaure Batayeva“ hat Zaure selbst finanziert! Hoffentlich wird dieser Roman bald in der Zeitschrift «Words without bonders» und dann in der Zeitschrift „Amazonas-Magazin“ erscheinen. Ein amerikanischer literarischer Verlag hat wohl großes Interesse an Autoren gezeigt, insbesondere an Autorinnen aus Zentralasien, denn unsere Literatur ist dort so gut wie unbekannt, ein „weißer Fleck“ sozusagen.

Konrad und Zaure führten mich durch das Neue Museum in Berlin. Wie mir Zaure erzählt hat, kommen jährlich über eine Million Touristen aus der ganzen Welt, um den Kopf von Nofretete zu sehen. Die Statue hat mich tief beeindruckt, es ist, als lebe sie noch. Die Meisterschaft des Bildhauers hatte keine Ihresgleichen. Auch Zaure wollte das Bildnis lange nicht verlassen. Man konnte ihr ansehen, dass Nofretete für sie von einem unschätzbaren Wert ist. Mir schien, als hätte dieses kasachische Mädchen in seiner Zartheit und weichen Zügen etwas Ähnliches mit Nofretete.

Zwei Tage waren die Gäste aus Brüssel mit mir zusammen. Wir besichtigten mehrere Kulturstätten. In einer Berliner Buchhandlung kaufte Zaure 4 Bücher in der russischen Sprache: ausgewählte Werke von Dostojewski, Tschechow, Nabokow und Brodsky. Und Konrad  wählte für sich die gut illustrierte Erzählung „Shamila“ von Tschingis Aitmatow. Er war ein Mann aus der Familie eines Intellektuellen, der seine kindliche Reinheit, Höflichkeit und Güte nicht verloren hatte. Am nächsten Tag machte Zaure mit mir ein Video-Interview. Es ging um meine Erzählung „Kindererzieherin“, die sie selbst übersetzt hatte. In ihr waren die kasachische Gastfreundlichkeit und westliche Sachlichkeit verkörpert. „Die Leser brauchen keine überflüssigen Informationen“, - sagte sie. Das Interview fand im LCB-Konferenzsaal statt und wurde von Alexander aus der Ukraine aufgenommen, der zurzeit in Warschau (Polen) lebt. Mit Zaure sprachen wir lange über literarische Themen, über die kasachische Literatur. Der Abschied fiel uns beiden sehr schwer.

Am 7. Juni besuchten wir das Literaturhaus und das Institut für Literatur in Leipzig. In jeder dieser Institutionen gibt es Leute, die für die Arbeit mit Besuchern und ausländischen Gästen zuständig sind. Leipzig ist eine Buchstadt. Im Literaturhaus werden oft Ausstellungen der Kinderliteratur, ihrer Illustrationen und Literaturabende veranstaltet. Es gibt mehrere Verlage. Monatlich werden hier bis 12 Veranstaltungen durchgeführt. Da werden verschiedene Autoren eingeladen, sie sind oft Gäste auch in den Schulen, das trägt zur kulturellen Erziehung der Kinder beträchtlich bei. Große thematische Buchmessen werden 6-mal im Jahr durchgeführt. Sie werden von verschiedenen gesellschaftlichen Fonds und vom Staat finanziert.

Im Jahre 2016 nahmen an der Leipziger Buchmesse über 3 000 Autoren teil, überall in der Stadt lasen sie Auszüge aus ihren Werken vor. In Deutschland ist seit Frühzeit die Illustration der Kinderbücher populär. Die Künstler werden über Verlage zur Mitarbeit herangezogen. Sie müssen sich erst Namen machen, dann erhalten sie Aufträge. Die Ausstellung braucht stets neue Bücher. Die deutsche Öffentlichkeit besucht gern deutsche Aussteller.

Bei der Leipziger Universität existiert das Institut für Literatur. Professor Josef Haslinger erzählte uns über die Gründung des Instituts in der DDR, wie es nach der Vereinigung des Landes geschlossen und wieder geöffnet worden war, über das Studium und begabte Autoren. Die Aufnahme der Studenten in dieses Institut ist ein verantwortungsvoller und komplizierter Prozess, sie müssen bei einer harten Prüfung ihr Talent beweisen können. Wir wurden von dem jungen Schriftsteller Matthias Jügler begleitet, der das Studium am Literaturinstitut abgeschlossen hatte. Er war nach dem Projekt „Literarische Pfade“ des Goethe-Instituts zum Schriftsteller-Austausch einen Monat lang in Taschkent und empfing Nigora wie seine Verwandte. Inzwischen wurde sein zweites Buch herausgegeben. Er unterstrich dabei, dass der Aufenthalt in Usbekistan einen günstigen Einfluss auf sein Schaffen gemacht hatte. An der Universität schauten wir uns Bücher und Illustrationen aus der Reformationszeit an.

Am 8. Juni fuhren wir mit der S-Bahn in die Stadt Wittenberg. Die Stadt beging den 500. Jahrestag der Reformation, die Martin Luther angefangen hatte. Am Bahnhof und in seiner Nähe hingen mehrere Porträts von Luther und Symbole, die mit der Reformation verbunden waren. Das Luthertum ist eine Abzweigung des Christentums, das seinen Namen trägt. Da kommt in den Gedanken ein Gedicht von Fjodor Tjutschew, das mit den Worten „Ich bin Lutheraner und liebe den Gottesdienst“ beginnt. Luther war Reformator, der Europa verändert hatte, eine große Persönlichkeit, Theologe, der keine Angst hatte, gegen den römischen Papa aufzutreten. Wenn Matthew Gregory Lewis` im herrlichen gotischen Roman „Der Mönch“ Ambrosio sein Begehren nicht bremsen konnte und mit dem Satan eine Alliance schloss, dann das Übel beging, so stand Mönch Martin Luther - nach dem er Rom besucht und die schlimmsten Seiten des katholischen Glaubens gesehen hatte- in der starken Opposition zur katholischen Kirche. Wenn es solche starken Personen und Erneuerer nicht gegeben hätte, hätte Europas Wissenschaft das heutige Niveau nicht erreicht.

Diese  Kleinstadt war voll von Menschen, die aus diesem Anlass aus allen Ecken und Enden nach Wittenberg gekommen waren. Man spürt gleich, wie sehr sie die Geschichte ihres Landes lieben. Die Fremdenführer hielten für Touristengruppen Vorträge vor den Häusern, die Fußspuren von Martin Luther und Lukas Kronach aufbewahrt haben.

Was mich in Wittenberg besonders beeindruck hatte, war die innere Ausgestaltung der Kirche. Es gibt keinen freien Platz an der Decke und an den Wänden: alles ist bemalt, es gibt viele Figuren. Muster der Baukunst, der Malerei und der angewandten Kunst, lauter Meisterwerke in der Heilstätte der bildenden Kunst. Der Glaube spielt auch eine konfessionelle Rolle. Dem Katholizismus ist die Gestaltung von Christus nicht in Form von Ikonenmalerei wie in den christlichen Kirchen, sondern in Form von Skulpturen typisch.
Rumi Muhammad war der Meinung, es sei im Sufismus nicht nötig, eine Glaubensrichtung zu wählen, um zu beten. Unter dem weiten Himmel sei jeder Platz geeignet, zu beten. Im Saal sitzend, betete ich für mein Land, die Heimat und die Literatur, für meine Kinder und Verwandten. Ich betete dafür, dass Kasachstan ein geistig gut entwickeltes, freies und zivilisiertes Land wie Deutschland wird. Ich hoffte aufrichtig, dass der Allmächtige mein Gebet annimmt, denn Wittenberg ist eine heilige Stadt, wo die Bibel übersetzt und herausgegeben worden war.

Nach der Rückkehr diskutierten wir im LCB über einen sozialen Roman von Frau Simone Singh, einer bengalischen Schriftstellerin, die in Paris lebt und französisch schreibt. Es kamen sehr viele Leser, und es wurde zu einem schönen Literaturabend. Als Autorin wurde Simona hoch geehrt. Da erinnerte ich mich an die Worte von Sauresch vor einigen Tagen: “ Für die westliche Literatur ist in der Literatur das Thema der Auseinandersetzungen in der Gesellschaft besonders interessant“.

Am 9.Juni führte uns Nigora in eine Bibliothek, wo eine Ausstellung von Komik-Büchern stattfand. Dieses Genre der Literatur gefällt mir eigentlich nicht so sehr. Das war eine große Bibliothek mit einem reichen Bücherbestand. Auch die Architektur des Gebäudes und die Innengestaltung waren schön. Unter den Büchern sah ich Bücher meines Lieblingsschriftstellers Umberto Eco in der deutschen Sprache. Er konnte bereits in den 80-er Jahren des vorigen Jahrhunderts vorsehen, dass das Interesse am Bücherlesen nachlassen wird, und verstand, den Glauben, die Philosophie und die Kriminalromane zu verbinden. Sein Kultusroman „Der Name der der Rose“ wurde zum Muster für einige moderne Schriftsteller und bewegte sie zum Schreiben. Im Roman „Mein Name ist Rot“ von Orhan Pamuk, in seiner Ideen- und Kompositionsgestaltung  kann man den Einfluss von Umberto Eco besonders gut sehen.

Abends gingen wir in die Komische Oper Berlin, zum Stück Duato Shechter. Auf der Bühne waren sechs BalletttänzerInnen, deren Körper so gut trainiert waren, dass sie mich an Sportler erinnerten. Ihre Plastik war zwar gut, aber manche Körperbewegungen schienen mir zu grob, die Frauennatur beleidigend. Das Ballett machte daher auf mich den Eindruck, als wäre es irgendwie krampfhaft.

Auf dem Weg zum Theater, in der U-Bahnstation Berlin-Wannsee liefen über 20 Polizisten, unter ihnen auch Polizistinnen, hin und her, alle bewaffnet, als verfolgten sie jemanden. Später schlossen sich ihnen noch einige an. Es ist wie in einem Horror-Film. Es war, als suchten sie jemanden, der einen Terroranschlag verüben wollte. Ja, die Welt ist nun unruhig geworden, der Terrorismus hat einen internationalen Charakter genommen. Es gibt politische Kräfte, die Unruhe unter den Menschen säen wollen. Aber der Terror ist wie ein Bumerang, der zurückschlagen kann und wird.

An diesem Abend saßen wir lange auf der offenen Terrasse. Anna erzählte, dass sich hier Füchse und Wildschweine wohl fühlen. Als sie mit ihrer Landsmännin Lascha draußen saßen, lief an ihnen ein Fuchs vorbei. Da ich zu viel Kaffee getrunken hatte, konnte ich bis 4 Uhr nicht schlafen. Um 4 Uhr begannen verschiedene Vögel zu singen. Ich vernahm ihre Stimmen wie verschiedene Instrumente eines Orchesters: Gurgeln der Tauben, Nachtigallenschlag, die Stimme eine Kuckucks…

Am 12. Juni besichtigten wir das Haus der Kulturen der Welt. Mit der Übersetzerin Jekaterina Jevtusevskaja, einer sehr gebildeten Frau, trafen wir uns in der U-Bahnstation Weinhof. Im Haus der Kulturen der Welt empfing uns Cordula Hamschmidt, eine einfache und sehr freundliche Frau.

Das Haus fördert den Kulturaustausch zwischen den Völkern, daher ist hier die Kultur großgeschrieben. Die Kultur öffnet den Weg zur Völkerverständigung. Es werden Konferenzen veranstaltet, die Kulturschaffenden kommen zusammen. Hier werden auch internationale Literaturpreise vergeben. Privaten Mäzen unterstützt die Literatur, das ist ihr inneres Verlangen, dabei wollen sie unbekannt bleiben! Die Preisträger werden festgestellt. Bei einer Ausschreibung werden zwei Schriftsteller und deren Übersetzer ausgewählt, die offizielle Verleihung von Geldpreisen findet später statt. Da kommen verschiedene Kulturschaffende aus verschiedenen Ländern zusammen. Sie versuchen neue Tendenzen und ein neues Format zu entwickeln.

Cordula Hamschmidt ist Autorin und Koordinator neuer Projekte im Bereich Literatur und Wissenschaft. Unter den Nominierten war auch ein Roman von Anna Kordzaia-Samadashvili. Später erzählte sie mir mit umorHumorHumor, sie wäre glücklich gewesen, wenn sie unter 6 Autoren gewesen wäre, die aus 160 Schriftstellern ausgewählt worden waren. Vor 600 Lesern wurden an einem Abend 6 Bücher präsentiert, allein dies soll von großem Interesse der Öffentlichkeit für die Literatur zeugen.

Meine geistige Beute von der Reise war, dass vier Erzählungen von mir ins Deutsche übersetzt worden waren. 45 Seiten Text! Für mich ist der deutsche Leserkreis sehr wertvoll. Kann denn ein Schriftsteller ein größeres Ziel in der Welt haben als dies?! Hiermit möchte ich mich daher ganz herzlich bei allen bedanken, die mich auf diesem Weg unterstützt und begleitet haben!