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Eugen Ruge im Interview
Ich versuchte den uralischen Slang ins Deutsche zu übersetzen

Eugen Ruge
Foto: © Mitja Vachedin

2009 erhielt Eugen Ruge für In Zeiten des abnehmenden Lichts den Alfred-Döblin-Preis. 2017 kommt der preisgekrönte Roman ins Kino.
 
Eine Frage, die ich schon lange mit mir trage: Wie war das Verhältnis der Menschen in der DDR zur Sowjetunion und zu allem Russischen? In einer Szene Ihres Romans rauchen Ihre Figuren “Belomorkanal” als Zeichen der Coolness.

 
Unter "Genossen".
 
Ja, unter "Genossen".
 
Ich habe Russland aus einer sehr eingeschränkten Perspektive erlebt. Meine Mutter war ja Russin und ein Teil meiner Identität ist russisch. Die offizielle Propaganda war sehr russlandfreundlich. Und ich habe mich sehr gewundert, als ich als Kind zum ersten Mal mitbekommen habe, dass es in Deutschland Menschen gibt, die die Russen als Besatzer begreifen.
 
Worum handelt es sich bei dem Städtchen "Slava" im Buch? Ist es nicht Soswa im Ural, wo Sie geboren wurden?
 
Genau. Als meine Geburtsurkunde übersetzt wurde, da konnte der Übersetzer “Soswa” offensichtlich nicht richtig lesen und hat in die deutsche Geburtsurkunde “Salva” reingeschrieben. Salva ist natürlich Quatsch - weder gibt es so einen Ort, noch hat es irgendeinen Sinn. Es hat mich aber auf die Idee gebracht die beiden Buchstaben zu vertauschen, dann entsteht “Slava” (Russisch: “Ruhm”) und das verleiht einen ironischen Sinn. Dieses Drecksnest heißt dann plötzlich “Slava”. Ich fand es witzig. Das kriegen die meisten Deutschen gar nicht mit, wie auch insgesamt Leser gar nicht alles mitkriegen.
 
Meine Mutter ist 70 Kilometer von Soswa geboren.
 
Wo denn?
 
In Serow.
 
Serow. Ja, das ist die nächstgrößere Stadt. Früher fuhr man mit dem Zug nach Serow und dann mit dem Auto nach Soswa, da gab es keine Zugverbindung. Ich glaube, Soswa ist “Sverdlovskaja Oblast” und “Serovskij rajon”. Serow ist der Name eines Gebietes, in dem Soswa liegt.
 
Wenn ich die Szenen von der Reise des kleinen Protagonisten nach Slawa lese, dann merke ich als Russe, dass es da Details gibt, die man sich nicht ausdenken kann.
 
Stimmt, ich war genau dreimal da. Das letzte Mal mit neun Jahren. Da wohnte meine russische Großmutter, und meine Mutter ist dort zusammen mit mir zu Besuch gewesen. Mein Vater durfte damals schon nicht mit, er wollte auch nicht mit, hatte keine Lust mehr.

Das war wohl ein riesiger Kontrast zum geordneten Leben in Babelsberg.
 
Ja, natürlich. Für mich war das der Ausflug ins Dorf und in Verhältnisse, die für ein Kind eigentlich ideal waren. In Soswa gab es Kühe und Schweine, man konnte aufs Dach klettern, einen Hund gab es da auch - diesen berühmten Hund, den ich im Roman “Druzhba” (russisch: “Freundschaft”) genannt habe. Ich habe es als Abenteuer erlebt!
 
Hatten Sie dort Freunde?
 
Ja, schon, klar.
 
Waren Sie für sie ein Ausländer?
 
Ja, glaube ich schon. Mein Sprachniveau ist nicht besonders hoch, aber mein kindlicher Wortschatz ist intakt. Ich kann mich gar nicht an irgendwelche Schwierigkeiten in der Kommunikation erinnern. Ich hatte eine Freundin dort, sie hieß Olga und wohnte direkt gegenüber.
 
Der Monolog von “Babuschka” (Russisch: “Oma”) klingt sehr authentisch. Wie haben Sie das erreicht?
 
Im Deutschen ist es noch schwerer als im Russischen, weil ich versucht habe, den uralischen Slang ins Deutsche zu übersetzen. Diese sich doppelnden Verben. Man kann so was nicht schreiben, wenn man keine russische Großmutter kennt. Man muss vielleicht keine haben, aber man muss eine kennen, man muss den Ton kennen. Man muss sie so gut kennen, dass man sich vorstellen kann, wie sie reagieren würde, wenn sie erführe, dass der Enkel in den Westen abgehauen ist. Da spielt aber auch der Instinkt eine große Rolle.
 
Haben Sie erwartet, dass "In Zeiten des abnehmenden Lichts" ins Russische übersetzt wird?
 
Ich dachte ja nicht, dass es so ein großer Erfolg wird. Ich dachte: das Buch ist gut, das du schreibst. Das dachte ich, das muss ich zugeben. Doch es war schon 20 Jahre nach der Wende, und ich dachte: du kommst ja viel zu spät mit allem. Alle Leute haben schon irgendwas dazu geschrieben, bloß du schreibst als Letzter ein Buch dazu.
 
Und es wurde ein Bestseller.
 
Dann habe ich natürlich gehofft, dass es auch in Russland erscheint. Doch das dauerte sehr lange, knapp 30 andere Sprachen waren vorher. Ich habe es dann darauf zurückgeführt, dass sich Russland offenbar für diese Art von Vergangenheitsrückblick nicht mehr interessiert. Russland denkt an die Zukunft, die seltsam ist. Ich erinnere mich, wie ich 2004 zu Recherchen in Russland war und riesige Plakate auf der Straße sah: ”Wann fahren Sie Ihren Bentley”. Es ist nicht nur Glückseligkeit, die man bei der Begegnung mit dem russischen Kapitalismus empfindet.
 
Es gibt jetzt einen Film zum Buch mit Bruno Ganz.
 
Es ist ein guter Film. Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase hat eine eigene Geschichte gefunden und erzählt. Atmosphärisch sehr stark. Es schmerzt ein bisschen, dass aus dem Epos ein Kammerspiel gemacht wurde. Ein sehr gelungenes Kammerspiel, doch dieser kleine Wermutstropfen bleibt.
 
Gibt es eine innere Verbindung zwischen allen Autoren mit DDR-Erfahrung oder seid ihr alle Einzelgänger?
 
Nein. Wenn es so etwas gibt, dann gehöre ich nicht dazu. Es liegt auch daran, dass ich in der DDR noch kein Autor war. Ich habe Mathematik studiert und später an Dokumentarfilmen gearbeitet. Ich habe erst drüben, im Westen, angefangen zu schreiben.
 
Von der Ost-Identität wollen Sie also nichts mehr hören?
 
Doch, schon. Ich fühle mich sehr klar als Ostdeutscher. Ich versuche, diese ostdeutschen Wurzeln auch nicht zu verdrängen. Aber es gibt zum Beispiel Autoren, die früher in der Prenzlauer-Berg-Community involviert waren und immer noch zusammen rumhängen. Aber ich habe zu der Zeit andere Dinge gemacht.
 
Gibt es nicht ein Konkurrenzgefühl seitens der etablierten Ost-Autoren, die den deutschen Markt Jahrzehnte mit Wende-Romanen versorgten?
 
Das kann sein, aber ich nehme es nicht wahr. Natürlich gibt es auch unter Autoren Konkurrenzgefühle. Das kenne ich auch selbst. Aber das hier liegt außerhalb meiner Wahrnehmung. Vielleicht klingt es arrogant, doch es ist so.
 
Apropos Konkurrenzgefühle. Wer schreibt heute die beste Prosa in deutscher Sprache?
 
Das ist eine schwere Frage. Es gibt Autoren, die ich wirklich für Schriftsteller halte. Und es gibt welche, die schreiben. Um einige zu nennen, die ich für Schriftsteller halte: David Wagner hat mehrere schöne Bücher geschrieben. Es gibt starke Geschichten von Thomas Melle oder Peter Wawerzinek. Michael Kumpfmüller ist zweifellos ein Schriftsteller. Damit endet die Reihe nicht, aber ich will hier auch keine Liste aufmachen.

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