Fotografie
Die besten deutschen Fotobücher 2015

Frank Sperling
Frank Sperling | Foto: © Frank Sperling

Der Fotobuch-Boom in Europa setzt sich fort - praktisch jeder junge Fotograf ist bestrebt, sein eigenes Fotobuch herauszugeben. Die Konkurrenz in diesem Bereich ist groß, denn in Deutschland gibt es nicht wenige Hochschulen, die professionelle Fotografen ausbilden, beispielsweise die Fachhochschule Dortmund, die OSTKREUZSCHULE für Fotografie in Berlin, die Hochschule für Künste in Bremen, wo ein Fotobuch nicht selten das Ergebnis der Studienarbeit eines Studenten ist. Die besten von ihnen treten dann auf Fotobuchfestivals in Erscheinung, bekommen Auszeichnungen und werden dann, wenn sich auch alle anderen Umstände günstig fügen, in einem bekannten Verlag publiziert. Wir haben die aus unserer Sicht sechs interessantesten Fotobuchprojekte junger deutscher Künstlern aus den Jahren 2014-2015 ausgewählt.

“Arkanum”, Aras Gökten

Das Buch Arkanum des deutschen Fotografen türkischer Herkunft Aras Goekten wurde im Oktober 2014 im Selbstverlag in einer Auflage von 250 Exemplaren herausgegeben. Der vom Film Alphaville von Godard inspirierte Autor fotografiert deutsche Nicht-Orte (frz. non-lieus, engl. non-places nach Marc Auge): Flughäfen, Einkaufszentren, Messen, Outlets, Parkplätze u. ä. Der reale Raum deutscher Großstädte wird in seinen Fotografien (wie bei Godard, der seinen Film über die Zukunft im unveränderten Paris der Gegenwart gedreht hat) zum Stoff, aus dem er fantastische Landschaften einer futuristischen Novelle schafft. Die „unerträgliche Logik deutschen Seins“ unterstreicht Gökten durch hartes Kunstlicht, das keinen Raum lässt für Halbschatten und Andeutungen. Dadurch wird die Realität zu einer Art 3D-Raum. In den Arbeiten des Fotografen wird der Mensch als Teil eines vorgegebenen Schemas in das so konstruierte geometrische Ornament eingefügt, und zwar ohne jeden Psychologismus oder Emotionalität. Die wie lackiert erscheinenden Hochglanzabbildungen im Buch zeigen die Welt der Zukunft als technogene und damit kalte, sterile, unmenschliche, gleichzeitig aber auch faszinierende Welt.
 

Letzte Generation Ost, Kristin Trüb

Die Herausgabe des Buches Letzte Generation Ost von Kristin Trüb wird im französischen Verlag Editions Bessard vorbereitet. Die von der 28-jährigen Deutschen aufgenommenen Bilder im mittleren Format erinnern atmosphärisch erstaunlicherweise an die osteuropäische und russische Fotografie. Die visuelle Sprache des Projekts hat nichts mit der sehr „deutschen“ kalten, distanzierten und bis in die kleinsten Details genauen Fotografie der Düsseldorfer Schule gemein, die als die Visitenkarte der hiesigen erfolgreichen Fotografen gilt. Im Gegenteil, die kontrastarmen, leicht verschwommenen und gleichsam atmenden Aufnahmen von Kristin erscheinen wie frisch gewaschene Wäsche, die - wie zu Sowjetzeiten üblich - ganz friedlich auf dem Hof trocknet, in trauter Nachbarschaft zu den schlichten bunt bemalten Figuren auf dem Spielplatz. Eine junge Frau kehrt in ihre kleine Heimat zurück, in das Städtchen Hagenow (Mecklenburg-Vorpommern) und trifft dort auf neun junge Menschen als Vertreter der letzten in der DDR geborenen Generation, die sie an ihren Erinnerungen an die Vergangenheit teilhaben lassen. Zu den Porträts von Kristins Helden findet man im Buch deren zum Teil auch widersprüchliche Äußerungen: „Ich bin froh Ossi zu sein“, aber auch: „Ich sage immer, dass ich nichts von der DDR in mir trage.“

Dominas, Max Eicke

Im Buch Dominas von Max Eicke , das 2015 vom Autor herausgegeben wurde, geht es um die Erforschung von Macht als einem abstrakten Phänomen. Sehr konkret hingegen sind seine Bilder: Eicke macht Porträts von jungen Frauen, die Sexdienstleistungen erbringen, wobei sie jeweils in der Rolle der Domina agieren. Als er in München an seiner Diplomarbeit gearbeitet hat, hat Eicke auf der Suche nach Modellen für das Projekt ganz Deutschland bereist. Von 170 Frauen, die er zur Teilnahme bewegen wollte, bekam er 146 Absagen. Die Porträts der übrigen Heldinnen und die anonymen Interviews, die der Fotograf mit ihnen geführt hat, wurden in dieses Buch aufgenommen. Immer wenn Max seine Modelle aufgesucht hat, hatte er seine Großbildkamera und ein Buch der holländischen Fotografin Rineke Dijkstra dabei, dessen visueller Stil in seiner Kühle, Direktheit und gleichzeitigen verhaltenen Leidenschaft den Fotografen bei Porträtaufnahmen inspiriert hat. Im Buch verbindet der Fotograf die ästhetischen inszenierten Fotografien, die er selbst im Studio aufgenommen hat, mit Darstellungen, die er im Internet zum Suchwort „Domina“ gefunden hat, wobei er die übliche Vorstellung von solchen Frauen den Ergebnissen seiner eigenen Untersuchungen gegenüberstellt und damit dem Zuschauer die Möglichkeit eröffnet, seine eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen.

Autolose Autoreifen in der Ukraine, David Schikora

Der Fotograf David Schikora untersucht in seinem Buch Autolose Autoreifen in der Ukraine neue Herangehensweisen an die Dokumentarfotografie, wobei er den Dienst Google Street View verwendet. Sein Interesse an der Ukraine ist bereits im Jahr 2012 erwacht, als dort die Fußballweltmeisterschaft stattfand. Die Werke des „Volksdesigns“ im postsowjetschen Raum, also einer intelligenten Umgestaltung alter Dinge hin zu einem neuen Verwendungszweck, wurden für den jungen Deutschen zu einer Offenbarung. Ganze drei Monate hat der begeisterte Schikora der Suche nach Reifenmotiven im städtischen Umfeld von Charkow, Donezk, Odessa und Lwow gewidmet, als er seine virtuellen Reisen durch die Weiten der Ukraine unternahm. Noch sinnhafter wurde das Fotoprojekt nach dem Euromaidan, in dessen Verlauf die Reifen für den Bau von Protestbarrikaden verwendet wurden. Schikora ist der Meinung, dass ein Fotograf heutzutage nicht mehr unbedingt physisch vor Ort sein muss zum Fotografieren: Computertechnologien machen es möglich, das Motiv von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten, die Aufnahme selbst zu machen und sie anschließend zu bearbeiten. Bei dieser Methode unterscheidet sich das Bild in keiner Weise von einer Arbeit, die direkt am Ort des Geschehens entsteht. Als Beispiel für eine ähnliche Herangehensweise kann hier die Verwendung von Aufnahmen der Raumfahrtbehörde NASA durch den bekannten deutschen Fotografen Thomas Ruff angeführt werden.

“Wolfsmuehle”, Frank Sperling

Anstoß für das schwierige und vielschichtige Projekt Wolfsmühle des Fotografen Frank Sperling gab der Videokanal des von ihm auf Youtube gefundenen Bloggers Private Hermann. Auf den nicht besonders populären Blogger war der Fotograf zufällig gestoßen, da dessen exzentrische Videomonologe sein Interesse geweckt hatten. In einem qualitativ schlechten Heimvideo äußert sich ein dunkelhaariger, etwa dreißigjähriger Mann über das psychiatrische System in Deutschland, Glauben und Politik - und seine eigene biopolare affektive Störung, unter der er schon seit vielen Jahren leidet. Sperling hat den Blogger ausfindig gemacht und ihn über ein Jahr lang in regelmäßigen Abständen fotografiert, wobei er mit ihm gemeinsam verschiedene visuelle und „pseudotherapeutische“ Experimente gemacht hat: zum Beispiel, indem er im Zimmer seines Helden ein Fotostudio eingerichtet und dessen unterschiedlichste Emotionen im Bild festgehalten hat. Der Fotograf räumt ein, dass er im Buch bewusst eine Parallele zwischen dem Videoblogger und einer der handelnden Personen aus dem Roman von Samuel Beckett Murphy aufzeigen wollte, indem er einige Stellen aus dem Roman zitiert hat, während die kräftig gelben Seiten des Fotobuches eine Metapher für den Kopf als gelbes Zimmer sind.

Kurfürstenstraße, Kathrin Tschirner

Die Schülerin der bekannten deutschen Fotografin Ute Mahler Kathrin Tschirner hat sich bei der Schaffung ihres gleichnamigen Fotobuches von der Berliner Kurfürstenstraße inspirieren lassen, die seit langem Zufluchtsort für die „Bordsteinschwalben“ ist. Kathrin selbst arbeitet seit über einem Jahr als Volontärin im Frauentreff Olga, wo die Straßenprostitutierten übernachten und psychologische Hilfe bekommen können. In ihren anonymen Geschichten offenbaren die Frauen (die in der Regel aus den postsowjetischen Republiken und Osteuropa stammen) ihre persönlichen Erlebnisse und heimlichen Träume – sie erzählen von den in der Heimat zurückgelassenen Kindern, dem fehlenden eigenen Bett, aber auch von einem Ort, an dem sie Kraft schöpfen, - dem Möbelgeschäft an der Ecke Kurfürstenstraße, in dessen beleuchtete Schaufenster sie manchmal schauen und sich dabei vorstellen, dass diese wunderschönen Einrichtungsgegenstände in ihren eigenen Wohnungen stehen. Und wenn Max Eicke in seinem Buch, das einem ähnlichen Thema gewidmet ist, den Schwerpunkt auf die Ästhetik der visuellen Darstellung des Konzeptes von Macht legt, dann betritt Tschirner hier politisches Terrain, indem sie Kritik daran übt, wie weit die öffentlichen Diskussionen über die Probleme der Prostitution von den alltäglichen Problemen und Bedürfnissen derjenigen losgelöst sind, die von den Umständen gezwungen worden sind, sie auszuüben.