Topik einer anderen Kultur
Rhetorische Regeln der Verständigung

Sprachliche Verständigung
Sprachliche Verständigung | Foto: Marc Wathieu, CC BY-NC 2.0, via Flickr; © Maria Nikonowa

Wenn Sie einen Russen darum bitten, dass er Ihnen seine erste Assoziation mit dem Wort „Vater“ nennt, dann werden Sie von 99% „Kinder“ zu hören bekommen. Was aber sagen Deutsche und Amerikaner? Die Dozentin der Philologischen Fakultät der MGU W.W. Smolenkowa hat erzählt, wie man in Äußerungen eines Fremden Werte und Prioritäten des Sprechenden erkennen kann und bei dieser Gelegenheit vorgeschlagen, wie man Panik um den Absturz des Rubels leicht abwenden kann.

Das fehlende gegenseitige Verständnis von Menschen oder Völkern ist praktisch immer axiologischer Natur. Ein Mensch oder eine Gemeinschaft handelt unter dem Einfluss von Emotionen oder Urteilen oder beidem gleichzeitig. Unsere Emotionen und unsere Urteile jedoch gründen sich auf Werte, also auf den Eigenschaften eines Gegenstands oder einer Erscheinung, die das Subjekt als für sich wichtig empfindet. Bildung beispielsweise ist ein Wert, da sie es uns erlaubt, intellektuell, geistig und körperlich zu wachsen und zu einer reifen Persönlichkeit zu werden. Eine solche emotionale Wahl ist schlussendlich auch der Grund dafür, dass wir uns aufgrund von bestimmten – auf unseren Werten basierenden – Eigenschaften zum Objekt unserer Liebe hingezogen fühlen: Augenfarbe, Güte, Humor usw.

Wir reden ständig von Werten und es gibt Analysemethoden, mit denen man in einem Text die Axiologie eines Menschen oder eines Volkes aufzeigen kann. Es reicht zunächst schon, wenn man sich die Themen anschaut, zu denen von verschiedenen Menschen und Völkern Texte geschrieben werden. Es ist auch sehr hilfreich, wenn man sich ansieht, in welche Rubriken die Hauptzeitungen, sonstige Nachrichtenmedien oder auch die Verfassung eingeteilt sind. Analysiert man die Verfassungen der Länder Europas, stellt man beispielsweise fest, dass für die Europäer die Freiheit des Menschen, Kultur, Gleichheit und die Familie universelle Werte sind, die in allen Texten auftauchen. Demokratie, Unabhängigkeit oder Eigentum wiederum tauchen bei weitem nicht immer auf, so wird Demokratie kein einziges Mal im belgischen Grundgesetz erwähnt (was nicht heißt, dass diese dort nicht geschätzt werden würde, aber das Fehlen hat eine Bedeutung).

Oder vergleichen wir doch zum Beispiel einmal die Neujahrsansprachen von Angela Merkel und Wladimir Putin. Auf den ersten Blick scheinen das diametral entgegengesetzte, sogar polemische Reden zu sein. Schreibt man sich jedoch die Themen und Werte heraus, die zwischen den Zeilen zu lesen sind, dann begreift man, dass die beiden Reden in ihren Zielen und Ideen doch recht ähnlich sind. Beiden Rednern ist es wichtig, auf die Grundlagen der Einheit der Nation zu verweisen (in der deutschen Version sind dies Bedrohungen, europäische Probleme, demokratische Werte; in der russischen die Familie und Traditionen), aber auch die Orientierung auf künftige Leistungen aufzuzeigen sowie die Fähigkeit mit vereinten Kräften zu siegen (Olympiade in Russland und der Sieg der deutschen Fußballmannschaft). Die Ursache dafür liegt zum einen in der christlich-antiken Basis beider Kulturen und zum anderen in dem Genre der Neujahrsansprache selbst.

Wichtig ist auch, in welcher Reihenfolge und in welchem Kontext bestimmte Themen gebracht werden: die Nachricht, die uns als erstes in der jeweiligen Ausgabe präsentiert wird, hat immer eine höhere Bedeutsamkeit als die fünfte oder sechste Mitteilung, in der es normalerweise um die Geburt eines Tigerbabys in irgendeinem Zoo geht. Damit lässt sich hervorragend manipulieren: Bringen Sie die Nachricht vom Absturz der nationalen Währung an fünfter Stelle, dann wird dies weniger Panik hervorrufen.*

Am einfachsten kann man auf einen Wert zu verweisen, indem man ihn in einem Atemzug mit einem Adjektiv oder Verb mit positiver Semantik nennt: „Wir werden die Sicherung des Friedens in der ganzen Welt unterstützen“ u.ä. Ein häufiger angewandtes, aber von den Bürgern schlechter reflektiertes Verfahren besteht darin, Konjunktionen und Präpositionen des Zweckes und der Ursache zu verwenden: „im Namen“, „um … willen“ u.ä. Konstruktionen dieser Art sind ein deutlicher Hinweis auf Werte im Wertesystem des Sprechers. Eine hervorragende Methode, die eigenen Werte nachdrücklich zu formulieren, ist die Benutzung von Metaphern, die mit den Themen Leben und Sterben, Licht und Dunkelheit, männliches und weibliches Prinzip zu tun haben. Als erstes kommt einem hier das „Krebsgeschwür des Kommunismus“ in den Sinn - eine viel strapazierte Formulierung im amerikanischen Diskurs aus der Zeit des kalten Krieges oder auch die „Achse des Bösen“ aus der jüngsten Vergangenheit. Obwohl natürlich ein und derselbe Vergleich, der einer Metapher zugrunde liegt, von verschiedenen Völkern unterschiedlich aufgefasst wird. So ist beispielsweise der Bär in der russischen Volkskultur ein hoch geschätztes Tier – ist er doch der König des Waldes und Beschützer der Schwachen. Deswegen schlafen bei uns die Kinder mit einem Teddybären, war der Bär zweimal Symbol der Olympiade und ist sein Umriss auf dem Emblem der größten Partei des Landes zu erkennen. In der angelsächsischen Tradition hingegen empfindet man den Bären als ein äußerst gefährliches und aggressives Tier, mehr als Grislybär und weniger als behäbigen Braunbär.

Und dann gibt es da noch ein eigentlich rhetorisches Verfahren, das zur Aufdeckung von Werten benutzt wird: die Rekonstruktion von nicht ausgesprochenen, aber dennoch benutzten Botschaften in der Struktur des Arguments, ohne die die Beweisführung in sich zusammenfallen würde („Wenn du den Brei ist, dann wirst du so wie Papa“. Die ausgelassene Botschaft lautet „so wie Papa zu sein, ist gut“, „Papa“ ist ein Wert). Indem sie einen Text in dieser Weise analysieren, können Philologen und Sprachwissenschaftler den Wertekanon eines Autors erfassen, und wenn man sich gleich mehrere Texte anschaut, die nach einem bestimmten Prinzip zusammengehören (Epoche, Kultur, Thematik), kann man die Besonderheiten der Axiologie der einen oder anderen Gemeinschaft verstehen.

Hierarchie und nicht inhaltliche Aufzählung

Ein Vergleich der Inhalte der Werte verschiedener Epochen und Kulturen offenbart, dass sie einander stark ähneln: alle möchten gesund, geliebt und satt sein (etwas anderes zu denken, ist ja geradezu unsinnig). Die Menschen und Völker unterscheiden sich nicht so sehr durch die Inhalte der Werte, sondern durch deren Hierarchie und die Art ihrer Verbindung. Sowohl auszuschlafen als auch rechtzeitig zur Arbeit zu erscheinen sind zwei Dinge, die wohl jeder ohne zu zögern unterschreiben würde, aber jeder Mensch trifft jeden Morgen die Wahl, welchem dieser für ihn wichtigen Werte er den Vorzug gibt.

Innerhalb der Rhetorik gibt es ein besonderes Wissensgebiet – die Topik, die das Wertesystem, darunter auch die Prioritäten der einen oder anderen Gemeinschaft erforscht. Die antiken Rhetoriker haben damit angefangen, zu erforschen, in welche Richtung sich unsere Gedanken bewegen, wenn wir zu dem einen oder anderen Thema eine Rede halten wollen: über die Liebe, die Freundschaft, über Krieg usw. Und diese in der jeweiligen Gemeinschaft tradierten Gedankengänge nannten sie Topos, wörtlich übersetzt: „Orte“, „Plätze“. Sie meinten damit Orte, die unser Denken aufsucht auf seiner Suche nach überzeugenden oder für das jeweilige Publikum annehmbaren Überzeugungen. Jedem Topos oder Ort liegen zwei aufeinander bezogene Kategorien zugrunde, die aufgrund von Erfahrungen von Vertretern einer bestimmten Kultur erzeugt worden sind. Und genau deshalb, weil die Erfahrungen von verschiedenen Ethnien gleich sind, sind eben die Verknüpfungen das, was in den verschiedenen Traditionen unterschiedlich ist. Wenn Sie beispielsweise ein beliebiges russisches Publikum darum bitten, Ihnen eine erste Assoziation mit dem Wort Vater zu nennen, dann werden Sie von 99% „Kinder“ zu hören bekommen. Das geschieht deshalb, weil jeder russische Mensch in seiner Schulzeit in jedem Fall den Roman Väter und Söhne [im Original „Kinder“ – Anm. d.Ü.] von Iwan Turgenjew gelesen hat. Wenn ich dieselbe Frage einem amerikanischen Publikum stelle, dann rufen diese im Allgemeinen „Gründer“ aus vollkommen auf der Hand liegenden historischen Gründen, und die Chinesen wiederum sagen „Großväter“. Einige der befragten Deutschen taten sich entweder schwer mit der Antwort oder erwiderten „Mütter“. Das bedeutet nicht, dass im russischen Bewusstsein die Väter nicht mit den Müttern oder Großmüttern verknüpft sind, solche Verknüpfungen gibt es natürlich auch, aber sie haben nicht die gleiche Priorität wie in anderen Kulturen.

Einen Europäer wie einen Chinesen lesen

Wie begreift man die Logik eines fremden Kulturcodes, wenn man nicht Sprachwissenschaftler oder Kulturologe ist? Vor allem muss man sich in Schlüsseltexte der Träger dieser Kultur einlesen. Das ist deshalb erforderlich, weil diese Texte das Wertesystem nicht nur widerspiegeln, sondern auch erzeugen. Die Schlüsseltexte werden bei den allermeisten Kulturen in der Schule behandelt. Wenn Sie beispielsweise ein Journalist sind, der über ein bestimmtes Land schreibt, dann sollten Sie unbedingt die für das Fach Literatur vorgeschriebene Schullektüre dieses Landes lesen. Die Hochschule für Orientalisten in Russland, die als eine der besten der Welt anerkannt ist, verlangt zum Beispiel von ihren Studenten, dass sie während ihrer Studienzeit neben den anderen Studienfächern all jene Texte, Lieder, Gedichte Mathematik-,Naturkunde- und andere Lehrbücher liest, die ein Chinese, Japaner, Araber in seiner Vorschul- und Schulzeit hört und liest. Die Aufgabe besteht eben darin, sich das System der Topoi der fremden Kultur in seiner Gesamtheit zu erschließen.

Kurios ist folgendes Beispiel, das den Unterschied in den Wertesystemen von sich eigentlich nahestehenden europäischen Kulturen verdeutlicht. Anfang der 2000er Jahre ergab es sich, dass ich zum Studium in Schweden war. Während eines Seminars bat der Dozent jeden Studenten darum, erstens ein Wort zu sagen, das ihm spontan als Synonym für das Wort „Gesetz“ einfällt, und als zweites das Antonym dazu zu nennen; sie sollten also Paare von sich aufeinander beziehenden Begriffen nennen. Und so wurden zwei Spalten an die Tafel geschrieben: in der einen standen Wörter wie „Gesetz“, „Sicherheit“, „Ehrlichkeit“, „Entwicklung“, in der anderen Begriffe wie „Gesetzlosigkeit“, „Furcht“, „Stagnation“, Korruption u.ä. Als ich an der Reihe war, nannte ich, mich auf meine kulturellen Erfahrungen stützend, das Wortpaar „Barmherzigkeit und Gerechtigkeit“. Ein russischer Mensch, der im Geiste des „Wortes vom Gesetz und Segen“ des Metropoliten Illarion (16. Jh.), der Texte von Fjodor Dostojewski und Leo Tolstoi erzogen worden ist, wird immer dieses Wortpaar nennen. Der schwedische Dozent hat sich über diese Verknüpfung sehr gewundert und befremdet innegehalten. Dass sich „Gerechtigkeit“ in der Spalte Recht und Ordnung wiederfand, hat ihn nicht irritiert, aber wie konnte man „Barmherzigkeit“ in eine Reihe stellen mit „Kriminalität“ und „Angst“, dem nach seinen Wertvorstellungen negativen Pol? Er vermochte nicht die Hand zu heben, um das Wort an die Tafel zu schreiben. Ich war eine Erklärung schuldig und erzählte, dass in der russischen Kultur Gerechtigkeit nicht zu der höchsten Wertekategorie gehört. Sie ist schon ein positiver Wert, aber dem Wert der Liebe, der Barmherzigkeit und des Mitgefühls untergeordnet. Vor die Wahl zwischen dem alttestamentarischen „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ und dem neutestamentarischen „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die linke hin“, wird die orthodoxe russische Kultur traditionell immer Letzteres wählen. Sofort kommen einem zahlreiche russische Sprichwörter darüber in den Sinn, dass die Liebe über dem Gesetz steht, und auch die Zeilen von Alexander Puschkin über die Barmherzigkeit gegenüber den Gefallenen in dem Gedicht „Ein Denkmal schuf ich mir, kein menschenhanderzeugtes…“. Ein russischer Mensch, der diese Texte in der Schule gelesen hat und in ihrem Sinne erzogen wurde, trifft seine sittliche Wahl in der täglichen Praxis ausgehend von dieser Priorität. Ich erinnere mich auch an eine ganze Reihe von Gerichtsprozessen Ende des 19. Jahrhunderts, in denen der herausragende russische Anwalt F. N. Plewako, indem er an die über dem Gesetz stehende Barmherzigkeit der Geschworenen appellierte, ein ums andere Mal bei Gericht die Begnadigung von Mördern und Dieben erreichen konnte; es ist russische Tradition, sich um die Besiegten zu kümmern, aber auch den Fastensonntag (wörtlich: Sonntag des Vergebens) zu feiern und viele andere unserer Bräuche zu pflegen.

Erstaunlich ist auch die Tatsache, dass nach dem schwedischen Seminar eine Kommilitone zu mir kam, ein schwedischer Pastor, der begeistert davon war, dass ich, eine einfache junge Frau aus Russland so unerwartet wichtige Gedanken geäußert hatte. Er hat mir sogar die Hand geküsst und damit wiederum mich schockiert. Von all denen, die an dem Seminar teilgenommen hatten, waren wir beiden die einzigen gewesen, die die gleichen Topoi und Prioritäten im Wertesystem teilten und zwar deshalb, weil die Verbindung zwischen uns der Bibeltext war.

Somit hat jede Kultur ihren genetischen axiologischen Code, der nicht besser oder schlechter als andere ist, nur eben verschieden von diesen. Die Rhetorik lehrt, dass es erstens von mangelnder Bildung zeugt, wenn man eine Kultur mit den Maßstäben einer anderen misst, und zweitens, dass man den anderen nur verstehen kann, wenn man seine Topoi studiert, die verschlüsselt im kulturellen Erbe zu finden sind. Genau dieses Ziel, so scheint es mir, verfolgt die gute Tradition, parallel laufende Jahre der Kultur in den Ländern unserer vielfältigen Welt durchzuführen.

*Über die Methode, Bewertungen dadurch vorzunehmen, indem nicht im Zusammenhang stehende Texte nebeneinander gestellt werden, ist schon ziemlich viel geschrieben worden, z. B. A.A. Danilowa „Die Manipulation durch das Wort in den Massenmedien“, Moskau, 2009, J. Roka „Die Typologie des Stils von Texten in den Massenmedien“ (anhand von Beiträgen aus sowjetischen, ungarischen, englischen, amerikanischen und französischen Zeitungen): Diss. … Kandidat der philologischen Wissenschaften. Moskau: Staatliche Lomonossow-Universität Moskau, 1977.