Gegenstand des täglichen Bedarfs
Die „Erfindung“ des Fahrrads

Fahrrad
Foto: Héctor Martínez © unsplash

Das Fahrradfahren war die erste Sportart, die eine grundlegende Änderung der gewohnten Lebensweise der Gesellschaft bewirkte, indem es der überwiegenden Mehrheit die Möglichkeit gab, sich nach eigenem Ermessen in beliebiger Richtung uneingeschränkt fortzubewegen, und auch den Frauen Mobilität und Zugang zum öffentlichen Raum sowie greifbare Aussicht auf die langersehnte Kleiderreform verschaffte.

Die Menschheit versuchte sich an der Erfindung des Fahrrads bereits seit Leonardo da Vincis Zeiten. Nach langen Jahren des Experimentierens wurden Dreirad und „Boneshaker“ in Europa, Amerika und Russland 1885 vom Modell des sogenannten Sicherheitsniederrades abgelöst, das ein Vorder- und Hinterrad von gleicher Größe besaß, einige Jahre später mit den berühmten Dunlop-Reifen ausgestattet wurde und die Welt rein aus dem Häuschen brachte. Ein Zeitzeuge schrieb: „Ohne Übertreibung kann man sagen, dass im April 1895 jeder, der es wagte Veloziped zu fahren, als Sonderling betitelt wurde, während Ende Juni sich das Blatt gewendet hatte: als Sonderlinge galten jene, die das noch nicht probiert hatten.“

Gegenstand des täglichen Bedarfs

Anfangs waren es nur Reiche und Berühmtheiten, die mit einem Stahlross prahlen konnten, aber bald nach den Zaren mit ihren Kronfürsten und -prinzessinnen traten in lärmender Menge all jene kräftig in die Pedale, die sich das neumodische Fortbewegungsmittel leisten konnten. Die russische Zeitschrift Now schrieb angesichts der allgegenwärtigen Begeisterung der Zeitgenossen für die stählernen Maschinen auf zwei Rädern: „Vom teuren Spielzeug, einem Gegenstand zur Vergnügung wohlhabender Müßiggänger, der es anfangs war, hat sich das Fahrrad sehr schnell zu einem aus praktischer Sicht äußerst nützlichen und wertvollen Apparat gewandelt, der dank allmählich sinkender Preise mehr und mehr in den allgemeinen Gebrauch kommt und beachtliche Dienste als komfortables Mittel zur schnellen Fortbewegung leistet. Jetzt dient das Fahrrad nicht mehr ausschließlich der Vergnügung, der Ertüchtigung und dem Sport, nunmehr wird es von Vertretern der werk- und geschäftstätigen beziehungsweise arbeitenden Schicht genutzt, angefangen bei Doktoren, Bediensteten jedweder Art, Studenten und anderen bis hin zu Kommissionären, Handelsagenten und Arbeitern. Auch wenn man vorerst noch nicht davon sprechen kann, dass es zu einem Gegenstand des täglichen Bedarfs geworden ist, wird das Fahrrad zu einem solchen aller Wahrscheinlichkeit nach sehr bald werden.“
 

Der Radfahrer ist der Mensch des Tages. Presse, Öffentlichkeit, Geistliche und Wissenschaftler – alle diskutieren über ihn. Sie reden über seine Gesundheit, seine Beine, seine Schuhe, seine Geschwindigkeit, seine Kopfbedeckung, seine Breeches, sein Lenkrad und seine Lager, seine Reifen und seinen Rahmen – kurz: über alles, was mit ihm zu tun hat, sogar seine Unterwäsche. <…> Er ist der KÖNIG der STRASSE.   
                    Aus der Zeitschrift „Korol dorogi“   
                    (deutsch: König der Straße, 1895)
 

Wichtig erscheint die Tatsache, dass sich das Fahrrad als eine wahre soziale Revolution erwies, die das bestehende Wertesystem in seinen Grundfesten erschütterte und die Menschen samt ihrer Vorstellungen von sich und der Welt veränderte. Es ist anzumerken, dass im Unterschied zu anderen Sportarten, die von den Frauen erst nach den Männern erobert wurden, der Radsport eine prinzipiell neue Betätigung für die Vertreter beider Geschlechter war. Die Frau radelte im wahrsten Sinne des Wortes ins 20. Jahrhundert hinein. Bis dahin hatte man mit zahlreichen medizinischen Abhandlungen versucht sie davon zu überzeugen, dass es mit ihrer Gesundheit nicht weit her sei und sie am sichersten zuhause aufgehoben sei fernab von Gefahren …

Die erzwungene Passivität der Frau wurde gestützt von wissenschaftlich „belegten“ Fakten hinsichtlich der physischen und emotionalen Schwäche des schönen Geschlechts, dessen wohlhabende Vertreterinnen zu idealen Patientinnen für ganze Heerscharen von Ärzten wurden, die miteinander wetteifernd einzigartige Heilmethoden und Wundertherapien feilboten. Die psychophysische Insuffizienz der Frau war Ausgangspunkt für die Herausbildung eines speziellen medizinisch-kommerziellen Komplexes und führte im Ergebnis zur Entstehung einer riesigen Industrie mit Kliniken, Sanatorien und spezialisierten Kurbädern, deren Funktion in der Bedienung der oftmals vermeintlichen Bedürfnisse eines ständig wachsenden Stroms von Patientinnen bestand.

Das Fahrrad als Motor der Emanzipation

Das Fahrrad stellte das Leben der Frau buchstäblich auf den Kopf. „Der Tag bricht an … die Stunde der Befreiung der Frau hat geschlagen – dem Fahrrad sei Dank! Indem die unabhängige junge Frau von heute eine wunderbare Welt für sich entdeckt … und in die Pedale ihres Fahrrads tritt, kräftigt sie ihre Gesundheit und entwickelt ihren Verstand … Wie beschränkt erscheint doch das Leben, bis das Fahrrad kam!“ Die Menschen in jener Zeit waren überzeugt, dass „das Fahrrad weitaus mehr für die Emanzipation der Frauen bewirkte als dies die Anstrengungen von Journalisten und Gesetzgebern taten.“ Schon allein deswegen, weil das Fahrradfahren im Unterschied zu anderen Sportarten grundsätzlich in der Öffentlichkeit stattfindet. Während man Tennis im Garten spielen, ein Bad im Badezimmer nehmen, zum Turnen die Halle nutzen und Kricket auf einem leeren Platz üben kann, ist das Umherfahren mit dem Rad in einem abgegrenzten Raum langweilig und ohne jeden Sinn. Die Straßen in Stadt und Land wurden von den Frauen in Besitz genommen.
 

Ich war gestern entsetzt! Als ich Ihre liebe Schwester sah, wurde mir schwarz vor Augen. Eine Frau oder ein junges Mädchen auf dem Fahrrad – das ist entsetzlich!  

             A. Tschechow. Der Mensch im Futteral (1898) 

Trotz alledem warnten die in der Zeit des Fahrradbooms entstandenen einschlägigen Zeitschriften die Damen unermüdlich vor Fahrten ohne Begleitung, die – um Himmels willen! – nicht ungefährlich seien, da aggressiv gestimmte Gegner des sich unter den Frauen ausbreitenden neumodischen Hobbys oftmals äußerst rabiat auf die Radlerinnen reagierten und mitunter von verbalen Beleidigungen zu Handgreiflichkeiten übergingen: Zur Strafe für die Missachtung des Gendergleichgewichts warfen sie mit Steinen nach den Frauen oder zerrten sie am Rock vom Rad. Das mechanische Ross war ungeeignet für den schicklichen Damensitz wie beim Reiten; eine Fahrt mit ihm förderte zu deutlich ans Licht, dass eine Frau Beine besitzt, deren bloße Erwähnung zur damaligen Zeit bereits als unschicklich galt.

Rock oder Pumphose?

Es sei ergänzt, dass sich mit dem Aufkommen der neuen Leidenschaft die Frage nach geeigneter Kleidung stellte, umso mehr als die langen Röcke und die Absätze der Radlerinnen Ursache für viele, nicht selten schwerwiegende Unfälle auf den Straßen waren. Die Kleidung der Männer war hervorragend geeignet für Fahrradausflüge. Für die Radfahrerinnen (und Sportlerinnen generell) jedoch war bequeme Kleidung vonnöten, die sich von der alltäglichen unterschied. Das Fahrrad machte die Reform der Frauenkleidung zu einer Frage von oberster Priorität und trieb diese letztendlich voran. Als Kluft für eine Fahrt mit dem Rad wurde eine Kleidung empfohlen, deren Beschreibung sich auf den Seiten der russischen Zeitschrift Veloziped (Nr. 106, 1894) findet: „Die vorherrschende Art der Kleidung ist auf dem Bild dargestellt: Sie besteht aus einer Jacke mit Revers, die über einem farbigen Hemd mit Schlips getragen wird, und weiten Pumphosen, die man auf den ersten Blick auch für einen kurzen Rock halten könnte.

Dazu farbige Strümpfe und leichte Schuhe, Hüte von vielfältigster Fasson. Bezüglich der Pumphosen gehen die Geschmäcker und Meinungen auseinander. Die einen halten solche Kleidung für höchst unanständig und geschmacklos, während andere wiederum das Imitieren des Kleidungsstils der Damen aus dem islamischen Orient als originell und schön empfinden. Was sich durchsetzen wird – Rock oder Pumphose – ist momentan noch schwer vorauszusagen ... .“ In Wahrheit trat in den hitzigen Debatten über Röcke und Pumphosen, Absätze und Korsetts die zentrale Streitfrage der Epoche zutage: Welche Rolle und welcher Platz in der Gesellschaft gebührt der Frau, die allmählich, teils mithilfe des Sports (lies: des Fahrrads!), in die öffentliche Sphäre des städtischen Lebens drängte.
 

Ljudmila Aljabjewa – Chefredakteurin des Magazins „Theorie der Mode: Kleid, Körper, Kultur“. Seit 2010 unterrichtet an der Britischen Hochschule für Kunst und Design, und an der Hochschule für Ökonomie, Moskau. Forschungsschwerpunkte von Ljudmila Aljabjewa umfassen Literaturwissenschaft, Alltagskultur, Modegeschichte und – Theorie, städtische Lebenswelten und Lebensräume.