Elektronische Musik – Rückblick
Vom Post-Punk zu IDM (1985-2000)

Swuki Mu (Klänge von Mu)
Swuki Mu (Klänge von Mu) | Foto: cc by-sa Igor Muchin

In der UdSSR der 70er-Jahre existierten zwei Popmusik-Welten nebeneinander: der offizielle Sowjetpop und Pop aus der westlichen Musikwelt, und beide hatten wenig miteinander zu tun. Vinyl-Platten aus dem Westen waren eine große Rarität, man überspielte sie auf Tonbandkassetten, die wiederum keine Seltenheit waren.

Um die westliche Rockmusik entwickelte sich ein spezieller Kult, Musik wurde äußerst ernst genommen, zu ihren Helden blickte man auf. Die russischen Meister dieses Genres waren in jeder Hinsicht unterlegen. Cool konnte nur Musik aus dem Westen sein, und was immer du auch selbst fabriziertest – es war in jedem Fall zweitklassig.

Der Durchbruch des Punk Ende der 70er hätte dieser Situation ein Ende setzen sollen. Die Verbreitung der inzwischen wesentlich preiswerteren Synthesizer war ein zusätzlicher Stimulus selbstständig Musik zu machen und mit dem Mythos zu brechen, die Höhen des westlichen Rock seien unerreichbar.

Punk, den es nicht gab

Einen Durchbruch des Punk hat es in der UdSSR nicht gegeben. Die sowjetische Presse stellte Punk als neue, lächerliche Erscheinung bürgerlicher Dekadenz dar. Ihre Ausführungen zur Punkmode, zur Punkmusik und dem Verhalten der Punker waren umfänglich-detailliert. Was Post-Punk ist, war unbekannt, nicht einmal das Wort wurde gebraucht. Disco hingegen schlug in der UdSSR voll ein. Dabei es keine Clubs und Diskotheken, es fehlten die für Deutschland typischen Bierlokale, wie zum Beispiel der berühmte Ratinger Hof, der zu den Orten zählt, wo der deutsche Punk seinen Aufstieg erlebte. In der UdSSR tanzte man zu voll rhythmischer Musik auf Schulfeten, in Studentenwohnheimen und Kulturhäusern.

In den 80ern entstehen Beispiele selbstbestimmter musikalischer Produktionen fernab von staatlicher Kontrolle. Allmählich formiert sich der Underground nicht professioneller Musik. Der Ausdruck „Musik der Unbefugten“ war im Kreis von Faust, einer deutschen Band und Kommune, gebräuchlich. In Deutschland wurden oppositionell eingestellte Musiker allerdings nicht von der Polizei verfolgt, Rockgruppen gerieten nicht auf schwarze Listen und die Jungs, die eigenständig etwas machen wollten, hatten die Möglichkeit, das nach außen zu tragen.

Die Kälte der Synthesizer

Als Beispiel der neuen Kassettenkultur kann das Album Sneshny tschelowek (Schneemensch, 1985) des Projekts Sona aktiwnosti (Zone der Aktivität) dienen. Das ist unüberhörbar selbst gemachte Musik mit einem dünnen und flachen Knister- und Knacksound. Die Macher hatten keine Möglichkeit die Instrumente mit genügend Bass aufzunehmen. Ein dürftiges Phonogramm aus dem Synthesizer plätschert im Hintergrund der Gesangsstimme, rhythmisch gesehen ist das Boogie-Woogie und ein minimalistischer Hintergrund für das Rezitieren von Gedichten. Wirkung erzielt diese Musik vor allem dadurch, dass sie überhaupt existiert, dass in russischer Sprache von Liebe und Einsamkeit gesungen wird und dass die Musik ohne Hilfe und Einmischung seitens der staatlichen Plattenfirma Melodija aufgenommen wurde. (Unabhängige Labels gab es in der UdSSR nicht. Tonaufnahmen lagen in staatlicher Hand. Es gab eine Zensur, die Liedtexte mussten auf ihre ideologische und künstlerische Vertretbarkeit geprüft werden.) Am Sound wurde nicht sonderlich gearbeitet: Für den Rhythmus ist die Rhythmusmaschine verantwortlich, für die Melodien und Akkorde der Synthesizer. Eins zum anderen hinzugefügt ergab Musik.

Ein Riesenerfolg des Post-Punk waren nicht nur die Texte in russischer Sprache, sondern auch der Bruch mit dem Wertesystem des „echten Westrock aus einem professionellen Studio“. Das Album Utro (Der Morgen, 1987) der Gruppe Megapolis zeugt von einem wesentlichen Schritt nach vorn. Die Musik ist unkomplizierter geworden und mit einem Sound ausgestattet, der in Anlehnung an westliche Vorbilder - dem neuesten Stand entsprechend - entstanden ist. Dies ist melancholischer und kühler Pop aus dem Synthesizer. In dessen Sprache lassen sich auch sowjetische Schlager übertragen, die dann genauso stilvoll und international klingen, wie die übrigen Titel des Albums. Allerdings befanden sich Megapolis Ende der 80er an der Peripherie eines großen Durchbruchs, des Durchbruchs der neuen Stilrichtung Dance Pop.

Zärtlicher Dance

Die sowjetische Popmusik der 80er bediente sich der gleichen Instrumente und des gleichen Stils, wie sie damals für U-Musik in Europa typisch waren. Das elektronische Schlagzeug dröhnte schrill, basslastig und laut (in den 70ern verwendete man in der sowjetischen U-Musik Jazz-Schlagzeuge, die kaum zu hören waren und seit den 50ern unverändert geblieben waren). Der Klang des Schlagzeugs, das nun in den Vordergrund trat, mutete unverschämt antisowjetisch an, ähnlich wie die Filme über James Bond. Und plötzlich wurde dieses laute Schlagzeug zur Norm, zu einer Selbstverständlichkeit und niemandem schien aufzufallen, dass die U-Musik noch bis vor kurzem um 20-30 Jahre hinter dem westlichen Mainstream hinterhergehinkt hatte. Wie auch immer, Gitarristen und große Unterhaltungsorchester (die an das Orchester von Max Raabe erinnern) verschwanden. Die Stars verjüngten sich, waren jetzt süß, betont sexy und sangen Play-back.

Die Gruppe Laskowy mai (Zärtlicher Mai) fegte mit ihrem riesigen und durchschlagenden Erfolg die gesamte Konkurrenz hinweg. Mit ihr konnte es keiner aufnehmen. Bedingt wahrgenommen wurden im Widerschein des Glanzes von Laskowy mai nur die Gruppen Tschernila dlja pjatowo klassa (Tinte für die 5. Klasse), Mirasch (Fata Morgana) und Forum. Aus der Sicht alteingesessener Musikfans und der großen Zunft verdienstvoller Musiker sowie der Sicht eines jeden intelligenten Menschen standen Laskowy mai für Kitsch, der ins Absurde gesteigert wurde. Jedes ihrer Lieder wurde augenblicklich zum Hit. Offensichtlich entstand zeitgleich mit der „zärtlichen Manie“ in der UdSSR eine unabhängige Musikbranche oder, wenn Sie so wollen, eine neue Musikmafia.

Aus jedem klapprigen Tonbandgerät barmte mit näselnder Stimme der Sänger von Laskowy mai Jura Schatunow. In überfüllten Stadien singen Mädchen mit hochgestylten Frisuren und junge Männer mit kurzgeschorenem Schopf unter Tränen die Texte ihrer Lieblingslieder mit. Welche Musik haben sie vorher gehört? Scheinbar gar keine. Für sie begann das Musikhören mit Laskowy mai, vorher gab es auf der Welt keine Musik und keine Lieder über die Liebe.

Höchstwahrscheinlich orientierten sich die Producer der Gruppe an Modern Talking. Obwohl es durchaus denkbar ist, dass dieser Sound ganz von selbst mithilfe der neuen Generation von Synthesizern entstand. Das Publikum bekam den standardmäßigen Beat zu hören und durchlebte wahre existenzielle Abgründe: Schneetreiben, gebrochene Herzen, weiße Rosen. Die Spielregeln hatten sich geändert. Musik war nun zum Tanzen da, hatte starkwirkende Eigenschaften und musste ausschließlich von heute sein. Die Vorgeschichte, die Berge von Schallplatten der Musikfans, die westlichen Pendants und die Rockenzyklopädien – all das hatte jegliche Bedeutung verloren.

New Wave

Ender der 80er war die UdSSR durchaus keine von der Außenwelt abgeschottete Musikwüste. Mitunter waren im Fernsehen ausgedehnte langatmige E-Mixe zu hören. Studenten der Geistes- und Sozialwissenschaften hörten natürlich Depeche Mode, aber auch die russische „neue Welle“. Hierzu zählten solche Bands wie Kino, Swuki Mu (Klänge von Mu), Weschliwy otkas (Höfliche Ablehnung), Zentr (Zentrum), Nikolai Kopernik (Nikolaus Kopernikus). Im Mittelpunkt dieser Gruppen stand jeweils ein charismatischer Frontmann, die Musik klang mehr oder weniger minimalistisch und entrückt. Der Sound war nicht elektronisch, es wurden Gitarren benutzt, von herausragender Bedeutung war der eigenwillige und provozierende Text. All diese Gruppen waren sehr verschieden. Aus heutiger Perspektive erscheint die New-Wave-Epoche der späten 80er als ein verlorenes Paradies, ein goldenes Zeitalter. Bei YouTube sind in den letzten Jahren Aufzeichnungen minimalistischen selbstgemachten Rocks aus den späten 80ern und frühen 90ern, darunter Wohnungskonzerte oder einfach nur Aufzeichnungen, eingestellt worden, die dokumentarische Filmaufnahmen aus jener Zeit untermalen. Scheinbar haben alle, die zu jener Zeit den Entschluss fassten Musik zu machen, etwas zustande gebracht, das ich als genial bezeichnen möchte.

Die 90er

Die drei Säulen der 90er sind die Gruppen Technologija (Techologie), Karmen (CarMan) und Maltschischnik (Junggesellenabschied). Technologija nahmen ein einziges Album auf und trennten sich danach. Sie waren das russische Pendant zu Depeche Mode mit ihrer Industriethematik und dem Tanz mit einem Hauch von Trauer. In den Randbezirken der Großstädte gab es provisorisch eingerichtete Fitnesshallen, in denen kurzgeschorene Jungs Gewichte stemmten, um ihre Muskelmasse zu vergrößern. In diesen Sälen dröhnten Technologija, was möglicherweise dem raubeinigen Äußeren der Bandmitglieder geschuldet war. Karmen, die sich anfangs Exotik-Pop-Duett nannten, nehmen Kurs auf das positiv Absurde. Dann kommt die Zeit, in der sie mit ihren Klängen jeden Dancefloor zum Beben bringen. Allerdings ist das Potenzial der Gruppe schnell erschöpft und sie löst sich auf.

Maltschischnik machten Hip-Hop, bei dem sie das gesamte Arsenal von Plattheiten und Flüchen einsetzten, das unter Jugendlichen bekannt war. In der sowjetischen U-Musik, in Filmen und sogar im intellektuellen Underground-Rock war Fluchen nicht angesagt. Die Woge des Unanständigen erzielte Schockwirkung und wurde als Stimme der Wahrheit empfunden. Schüler versteckten die Kassetten der Gruppe vor ihren Müttern und kannten die Texte aller Lieder auswendig. Sie wollten reden wie Maltschischnik, denken und sich kleiden wie sie, rauchen und generell schlecht sein. Der russischsprachige Hip-Hop hatte viele Feinde, auf Häuserwände und Zäune wurden Graffitis gesprüht, die den Rap-Fans Schimpf und Schande antaten.

Mitte der 90er verlieren sowohl die Texte als auch die Performance ihren existenziellen Charakter. Die Pop-Projekte gehen nicht mehr zu Herzen, stehen nicht mehr für das Herausschreien des Schmerzes und der Wahrheit. Pop wird zur Musik von Eintagsfliegen, das Fließband der kommerziellen Musik, gemacht speziell fürs Radio, wird in Gang gesetzt. Der Pop verliert seinen Status als Musik mit topaktuellem Bezug, die die Seele berührt. Diese Rolle übernimmt die Clubkultur.

Raves

Die Entwicklung der Clubkultur kam in Petersburg und Moskau etwa 1993 in Gang. Die wenigen Clubs waren sonderbare Locations: Hitze, Schweiß, ekstatisches Füßestampfen. Wer zum ersten Mal diese Clubs besuchte, erlebte eine Offenbarung. Das war eine unvergleichliche Erfahrung, ein ekstatisches Erlebnis über viele Stunden hinweg, ein völliges Losgelöstsein vom Leben jenseits des Clubs. Eine Rave-Party schottete sich ab, wollte weder von Rock noch von Stars und Bekanntheiten der Pop-Musik etwas wissen. Die manischen Tänze bedeuteten für viele ein neues Leben, man gab sich der Clubmusik bewusst hin.

Die Musik entsprach dem, was damals in Europa gespielt wurde, vor allem in London. Jungle, Techno, House, Trance, Breakbeat, Hardcore. Mitte der 90er begann man Happy Hardcore zu spielen, später kamen Electro und eFunk hinzu.

Meist war die Musik importiert, aber einiges wurde auch in Russland produziert. In einer Clubatmosphäre des schwindenden Verstandes und der sich öffnenden Seelen nahm man den Unterschied zwischen importierten und heimischen Tracks nicht wahr, aber beim Hören aus heutiger Perspektive stellt man einen erheblichen Unterschied zwischen der in Russland in den 90ern produzierten elektronischen Musik und der westlichen fest. Man hat den Eindruck, dass die russischen Producer die aus den Tracks verschwundene Gesangsstimme vermissen. Scheinbar hat die Musik Angst vor der Leere und möchte nicht emotionslos erscheinen. Sie ist mit Klängen überfrachtet, mit Synthesizerpartien und Samples, der Producer fügt in den Track mehr und mehr neue Komponenten ein. Das ist emotionales und pathetisches „Gedröhne“.

Vor diesem Hintergrund schien die Musik des Projekts Solar X (Roman Beljawkin) kühl, entrückt und konzeptuell, zumindest extrem durchdacht. Roman benutzte alte sowjetische Synthesizer, die man im Westen nicht kannte, aber das Spezifische seiner Musik lag in ihrem aggressiven Minimalismus. Der Producer wählte für den Track einige Klänge aus, entwickelte aus ihnen eine akustische Idee und variierte diese im Laufe der Entwicklung des Tracks. Zu den Helden der 90er zählen DJ Groove und Kompas Wrubel. Als legendäre Location galt Mitte der 90er der Moskauer Club Ptuch. Die gleichnamige Zeitschrift widmete sich der Propagierung der neuen Kultur des Trance.

Trance

1995 geht der Moskauer Radiosender Stanzija 106.08 auf Sendung, wird zum Trendsetter für elektronische Musik und jagt rund um die Uhr Techno, Trance, Jungle und Ambient durch den Äther. Ein Jahr später startet die Sendung Model Dlja Sborki (Modell zum Zusammenbauen), in der psychedelische Literatur, zum Beispiel Viktor Pelewins Roman Tschapajew i pustota (Tschapajew und die Leere / in Deutschland erschienen unter dem Titel: Buddhas kleiner Finger) untermalt von Psytrance und Ambient gelesen wird. Trance ist auf dem Vormarsch und wird zum aktuellen Trend, ganz einfach zu zeitgemäßer Musik. Zeitgleich stürmt Trance in Deutschland die Hitparaden.

1997 sind Trance und psychedelische elektronische Musik noch immer in Mode, an Bedeutung gewinnt jedoch die sogenannte „gerade Bassdrum“, sprich: Techno und Deep House, während Jungle allmählich als moralisch veraltet und unerwünscht gilt, etwa wie Punk.

1998 geraten Downtempo, Lounge, Chill und Softtrance in den Fokus: langsame, entspannende Musik, frei von Aggressionen. Die Clubgänger bevorzugen Chill-Out-Zonen und haben nicht das Bedürfnis ihre wundersame Selbsthingabe auf dem Dancefloor zur Schau zu stellen. „Intellektualismus“ kommt in Mode, IDM, intelligenter Breakbeat, überhaupt alles, was man so oder so als „intelligent“ bezeichnen kann. All das bleibt wie gehabt Musik für Insider, für jene, die von dieser Musik besessen sind. Alle anderen halten die Fans der Tanzmusik für eine Art Geistesgestörte, sogar Björk wird als inhumane Avantgardistin wahrgenommen.

1999 geht die Geschichte der Clubmusik zu Ende: Trance gilt plötzlich als Musik der Drogensüchtigen und Asozialen. Psychotrance bleibt auf die 90er beschränkt, die Trends des Tages heißen Minimal Techno und Deep House. Noch ein paar Jahre später wird die Zeit der verrückten Raves endgültig vorbei sein, sie bleiben dem Schülermilieu vorbehalten. Die Szene der elektronischen Musik in Russland beginnt ein neues Leben im Internet.