Charity Shop in Moskau
„Es geht uns weniger um die Sachen als um die Menschen“

Charity Shop in Moskau
© Elena Rostunowa

Warum ein Wohltätigkeitsgeschäft und kein Second-Hand-Laden? Muss man auf Menschen sauer sein, die gestopfte Trainingsanzüge bringen? Wer sortiert das Ganze und was passiert dann mit 40 Tonnen gespendeter Kleidung? Ist dieses Geschäft profitabel und schont es die Umwelt? Darja Alexejewa, Gründerin und Direktorin des Charity Shops in Moskau, berichtet von den vielen Facetten ihres Geschäfts.

Das „wahnsinnig viele“ Geld

Wir hatten gedacht, dass man bei uns Markenkleidung abgeben würde, die wir verkaufen und davon die Miete und die Gehälter der Angestellten zahlen würden, um das verbleibende Geld wohltätigen Organisationen zukommen zu lassen. Ich habe mich an den britischen Charity Shops orientiert, aber die zahlen praktisch keine Miete und in der Regel wird die Arbeit von Rentnern gemacht, also eine Art ehrenamtlicher Tätigkeit im sozialen Bereich, ausgeübt von Leuten, denen es ansonsten gut geht und für die das auch eine Art Treffpunkt ist. Und eingekauft wird in diesen Shops dann wiederum auch von ziemlich genau diesen Rentnern. Was das Geschäft in Moskau betrifft, so war ich sozusagen einem Irrtum aufgesessen. Es stellte sich nämlich heraus, dass nach den Kosten für Miete, Gehälter und die chemische Reinigung nur 7.000 Rubel übrigbleiben. Und natürlich ist es schon etwas befremdlich, 300.000 Rubel im Monat einzunehmen und von diesen dann nur 5.000-7.000 Rubel wohltätigen Zwecken zufließen zu lassen und zu erzählen, dass unsere Mission die Unterstützung von Wohltätigkeitsorganisationen sei. Dazu kam noch, dass die Journalisten, die über den Charity Shop berichteten, Einnahmen mit Gewinn verwechselt und es so dargestellt haben, „dass alle unsere Gelder in die Wohltätigkeit fließen“.
 
Zudem mussten wir die Erfahrung machen, dass die Menschen uns nicht ihre Markensachen zum Verkauf brachten, sondern ihre Spenden hauptsächlich als humanitäre Hilfe angesehen haben, sodass die Kleidung nicht neu und modern genug war, als dass man sie hätte verkaufen können. Buchstäblich nach zwei Monaten schon stellte sich die Frage: Wohin mit dieser Menge an Bekleidung? Wir begannen damit, sie an bedürftige Familien abzugeben, aber sobald wir das öffentlich gemacht hatten, bekamen wir gleich doppelt so viel. So wurde also aus unserer spontanen Aktion, Kleidungsstücke weiterzugeben, ein reguläres Programm. Zu diesem Zeitpunkt fingen wir an, mit großen Firmen zusammenzuarbeiten, wir haben mobile Sammelbehälter für Bekleidung fertigen lassen, die von Büros gemietet werden können, damit die Mitarbeiter ihre Kleidung direkt auf der Arbeit abgeben können und nicht nach den entsprechenden Organisationen suchen und die damit verbundenen Wege zurücklegen müssen.
 
Die Qualität der ersten Sammelbehälter war schrecklich. Wir haben sie in einer Fabrik bestellt, die Bienenkörbe herstellen, und bei uns kamen sie einfach als Schrott an. Ich habe geweint und sie gestrichen, und sie nochmal gestrichen und wieder geweint, aber besser ist es davon auch nicht geworden. Das war unsere erste Aktion, und wir konnten nicht mehr zurück, weshalb ich sie auch an das Büro einer großen Bank übergeben habe. Von der Bank kam dann natürlich ein Anruf, in dem mir mitgeteilt wurde, dass zwar alles schrecklich sei, aber man die Behälter doch aufgestellt hätte. Danach haben wir alle Container überholen lassen und die acht, die wir jetzt haben, konnten wir schon in 50 Büros aufstellen (Banken, Beratungs- und Werbefirmen, Betriebe und Werke, Verkehrsunternehmen), in einigen waren sie sogar schon mehrmals.
 
Im Unterschied zu anderen nichtkommerziellen Projekten werben wir keine Spenden ein, um die Kosten für alle Prozesse zu decken, sondern verdienen das Geld für unsere „wohltätigen“ Programme selbst, indem wir ungefähr 20% der Kleidung verkaufen. Mir scheint, dass das nachhaltiger ist, da wir weder von Unternehmen abhängen noch von der jeweiligen finanziellen Situation der Menschen – in Krisenzeiten geben die Menschen weniger Geld für wohltätige Zwecke aus und die Unternehmen kürzen ihre Mittel dafür. Aber preiswerte und qualitativ gute Bekleidung im Second-Hand-Laden wird weiterhin gekauft, mehr noch, in solchen Zeiten kleiden sich wesentlich mehr Menschen hier ein. Ein solches Geschäftsmodell führt dazu, dass einige der Meinung sind, wir würden wahnsinnig viel verdienen. Aber dem ist nicht so. Wir haben ein Lager von fast 600 Quadratmetern, in dem 15 Menschen arbeiten, die Kleidung sortieren und die Pakete für die bedürftigen Familien packen. Nicht unerhebliche Summen werden auch von den Verbrauchsmaterialien verschlungen – ein Beutel kostet 6 Rubel, und im Monat kaufen wir 10.000-15.000 davon. Im Endeffekt arbeiten wir fast für plus/minus Null, also so, dass sich die Infrastruktur trägt und weiterentwickelt wird, aber ohne jegliche Einkünfte „für uns selbst“.

Der Kleiderberg

Von außen betrachtet, sieht man nur unsere kleinen Wohltätigkeitsläden, in die die besten Sachen gelangen, aber das Herz unseres Projekts ist unser Lager, wo die Kleidung entgegengenommen, sortiert und verteilt wird. Wann wie viel ins Lager kommt, ist nicht vorhersagbar. Im vergangenen Monat haben wir ca. 120.000 Tonnen Kleidung angenommen. In einem Kilogramm sind ungefähr 5 Kleidungsstücke enthalten; ein Mensch kann pro Tag nicht mehr als 200 kg durchsehen.
 
Ein Teil der Sachen kommt, wie gesagt, aus großen Büros. Wenngleich das prozentual auch nicht viel ist, so gefällt uns doch die Zusammenarbeit mit bekannten Firmen, die wir dadurch besser kennenlernen und für gemeinsame Aktionen gewinnen können. Auf diese Weise wird Vertrauen aufgebaut und an der Festigung der Beziehungen gearbeitet. Auf Facebook kann ich dann lesen, dass jemand auf seine Frage, was er mit Bekleidung machen soll, die er nicht mehr braucht, die Antwort erhält, die Sachen im Charity Shop abzugeben, den man von der Arbeit her kennen würde. So spricht sich das herum. Letzten Frühling haben wir eine gemeinsame Aktion mit Uber gemacht, das heißt, die Fahrer sind durch die ganze Stadt gefahren und haben die Kleidung kostenlos direkt von zu Hause abgeholt. In wenigen Stunden hatten wir ca. drei Tonnen zusammen und es kam noch mehr hinzu, da die Menschen von dieser Möglichkeit erfahren hatten und sie gut fanden.
 
Die anderen Sachen bringt man uns entweder in die Geschäfte oder schafft sie zu den Kleidersammelcontainern. So wurden beispielsweise im März Sammelcontainer für Bekleidung in den Mega-Märkten aufgestellt. Von dort werden die Sachen mehrere Male in der Woche abgeholt. Jetzt bereiten wir eine ganze Reihe von eigenen Containern für die Aufstellung vor, damit die Leute ihre Kleidungsstücke dort abgeben können, wo es für sie am bequemsten ist. Das heißt, wir brauchen nicht nur für die Herstellung der Container Geld, sondern auch für den Ausbau der Infrastruktur und die Optimierung der Abläufe.
 
Wie sich gezeigt hat, ist es genauso schwer, Kleidung im großen Maßstab zu verteilen, wie sie an Einzelne auszugeben. Wir überlegen uns immer ganz genau, für welche Bedürfnisse wir welche Kleidungsstücke auswählen. So darf man in ein Frauenstraflager keine hellen oder festlichen Sachen schicken, in ein orthodoxes Mädchenheim keine zu kurzen Kleidchen und an Obdachlose sollte man nur saisonale Kleidung ausgeben, das heißt Shorts brauchen diese immer nur im Sommer und Winterjacken ausschließlich im November. Eine Sache ist, einige Tonnen Kleidung auf Lager zu haben – das lässt sich leicht aufteilen und in kleinen Mengen von jeweils 200-300 kg verteilen. Aber was ist, wenn es sich um Hunderte von Tonnen handelt? Man braucht schon ein gut funktionierendes System, damit die Kleidung dorthin gelangt, wo sie wirklich gebraucht wird, und das Ganze auch schnell geht, denn Lagerplatz ist knapp. Da die Hilfe überwiegend in den Regionen gefragt ist, haben wir regionale Hilfezentren eröffnet und übergeben die Kleidung tonnenweise an die Zentren für Sozialfürsorge in den Dörfern und Kreiszentren in den Gebieten Nischni Nowgorod, Twer, Jaroslawl und Smolensk. Päckchen gehen in zwanzig Regionen des Landes, angefangen von dem Gebiet Rostow bis hin nach Transbaikalien.

Ein Wort zu den Mitarbeitern

Für unser Lager stellen wir nur Menschen mit einer schwierigen sozialen Geschichte ein. Was das in der Praxis heißt? Momentan arbeiten 16 Menschen aus sozial nicht geschützten Gruppen bei uns, die woanders keine Arbeit finden würden. Einer unserer Mitarbeiter hat zum Beispiel in der Investitionsbank gearbeitet, hat – wie ich auch – die Finanzuniversität abgeschlossen und bekam mit 28 Jahren die Diagnose Schizophrenie. Seine Arbeit hat er daraufhin sehr schnell verloren. Einen anderen haben möglicherweise schwarz agierende Makler betrogen, ein Dritter hat vielleicht einfach nur Pech gehabt. Noch ein anderer wiederum kann sich auf dem freien Markt nicht behaupten, weil er schlecht sozialisiert ist. So arbeiten bei uns beispielsweise Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten, ehemalige Zöglinge von Kinderheimen, Obdachlose. Wenn man in Teilzeit als Lagerarbeiter oder beim Sortieren der Kleidung arbeitet, verdient man ungefähr 20.000–25.000 Rubel im Monat, was reicht, um die Miete für ein Zimmer oder einen Wohnheimplatz und das tägliche Essen zu bezahlen.
 
Für mich ist die Vermittlung eines Arbeitsplatzes für einen Menschen ein wesentlich wichtigeres Thema als die Sammlung und Verteilung von Kleidung. Dadurch, dass die Menschen ihre Kleidungsstücke bei uns abgeben, bekommen andere Menschen die Chance auf ein neues Leben. Jeweils 200 kg Bekleidung bedeutet für irgendjemanden einen Arbeitstag. Aber nur mit der Arbeitsplatzvermittlung allein ist es nicht getan. Zu uns kommen die verschiedensten Menschen mit den unterschiedlichsten Einstellungen und sozialen Problemen. Einige machen sich gleich wieder aus dem Staub, andere wiederum bleiben, fügen sich gut ein und fühlen sich wie zu Hause.
 
Vor kurzem ist auf Empfehlung einer kostenlosen Kantine ein Mann zu uns gekommen, der total betrunken wirkte. Er roch zwar nicht nach Alkohol, bewegte sich aber seltsam, konnte keinen Sack anpacken, ohne den Inhalt zu verteilen, selbst eine Tasse konnte er kaum in den Händen halten, ohne den Tee darin zu verschütten. Natürlich bin ich zu ihm hingegangen und habe ihm gesagt, dass wir nicht bereit sind, ihn einzustellen, woraufhin er antwortete, er sei nicht betrunken, er würde bloß im Bahnhof schlafen und hätte vor Jahren einen Schlaganfall gehabt und keinerlei medizinische Hilfe bekommen. Außerdem würde er schon seit etlichen Tagen seine Schuhe nicht mehr ausziehen, die Schuhe aber seien nicht in seiner Größe und deswegen würde der ganze Körper schmerzen und er hätte größte Schwierigkeiten sich zu bewegen. Als wir das gehört haben, beschlossen wir, ihm eine einwöchige Probezeit einzuräumen.
 
Momentan fehlt uns ein Sozialarbeiter, der sich um solche Fälle kümmern könnte. Deswegen muss ich das selbst übernehmen. Um die Risiken gering zu halten, nehmen wir Menschen auf Empfehlung von Wohlfahrtsorganisationen, die die Betreffenden schon lange kennen. Das hilft uns dabei, absolut unpassende Kandidaten von der Straße herauszufiltern. Und dennoch sind die Risiken sehr hoch, man muss ständig auf der Hut sein. Sobald wir Zweifel oder reale Problem mit jemandem haben, rufe ich bei der Organisation an und frage den jeweiligen Betreuer, was Sache ist und ob er etwas Verdächtiges bemerkt hat. In den ersten Wochen des Projekts, als ich noch recht ahnungslos war, welche Abenteuer uns erwarten würden, habe ich zufällig mitangehört, wie ein Mitarbeiter einen anderen darum gebeten hat, die Folie von der Schokolode nicht wegzuwerfen, weil er damit sein Essen abdecken würde, um es zu erwärmen. Ich habe mich umgedreht und zu ihm gesagt: „Aber dein Essen deckst du bitte nicht hier ab.“ Und er hat sofort verstanden, dass ich Bescheid wusste. Letztlich haben wir uns von ihm nicht wegen der Drogen getrennt, sondern weil er gestohlen hat. 

Der Verkauf

 Als alles angefangen hat, habe ich selbst im Geschäft gearbeitet. Vier Tage war eine Verkäuferin da (die inzwischen zwei Geschäfte leitet) und an drei Tagen stand ich im Laden. Weil wir kein Schild hatten und sich meine Vorstellungen von Werbung auf die Gemeinschaft bei Facebook beschränkten, habe ich mich sehr aktiv darum bemüht, Kleidung über Gruppen von jungen Frauen zu verkaufen, die Dinge, die nicht mehr gebraucht werden, tauschen oder verkaufen. Kurios war, dass niemand ein Kleid von Lanvin für 7.000 Rubel kaufen wollte, wenn derjenige erfuhr, dass es in unserem Second-Hand-Laden auf der Nowokusnezkaja Straße im Stadtzentrum verkauft wurde, aber in den weit außerhalb gelegenen Bezirk Otradnoje kamen sie sehr bereitwillig auch noch um 11 Uhr abends, um dasselbe Kleid bei mir zu Hause anzuprobieren. Damit wurde uns schon in den ersten Wochen klar, dass, wenn wir den Verkauf über Second-Hand-Läden ausbauen wollen, wir das stilvoll machen müssen. Das heißt, es muss gute Musik laufen und die Verkäufer müssen zuvorkommend sein. Und wir müssen Sachen verkaufen, die uns auch selbst gefallen, und nicht nach dem Prinzip „es wird sich schon ein Käufer dafür finden“.
 
Heute besteht das Team nur noch aus den besten Mitarbeitern, die wir haben. Seit etwa anderthalb Jahren gibt es einen festen Kern, an den ich jede Aufgabe delegieren kann. Unsere Verkäuferinnen sind für mich eine wahre Freude. Einige von ihnen sprechen Englisch, Deutsch oder Spanisch.  Einmal kam eine Gruppe von zwanzig Kubanern, die zum Studium nach Russland gekommen waren, zu uns in den Laden. Und natürlich war der Winter, wie immer, ganz überraschend gekommen. Sie hatten wohl kaum damit gerechnet, dass sie im Second-Hand-Laden von einer Verkäuferin auf Spanisch bedient werden würden und haben letztlich für 26.000 Rubel eingekauft.

Die Kleidung

Inzwischen nehmen wir alle Kleidungsstücke, unabhängig davon, in welchem Zustand sie sind und welche Jahreszeit gerade ist. Ich bin der Meinung, dass wir auf der Seite des Spenders sein müssen und lassen deshalb nicht durchblicken, wenn etwas nicht in Ordnung zu sein scheint, selbst wenn man uns löchrige Socken bringt. Socken werden übrigens nicht weggeworfen, sondern umgearbeitet. Die Menschen bringen uns das, was sie haben, und sie müssen nicht wissen, ob die Sachen noch etwas taugen. Das zu entscheiden, gehört zu den Kompetenzen der empfangenden Seite. Wenn eine alte Oma beispielsweise auf „Echo Moskau“ von uns gehört hat und ihr Bündel gepackt hat, um durch ganz Moskau zu uns zu kommen, dann sind wir ihr zutiefst dankbar, selbst wenn alles, was sie mitgebracht hat, nach Naphthalin riecht und nur noch als Putzlappen verwendet werden kann.
 
Wir müssen uns so verhalten, dass der Mensch, der uns die Sachen bringt, zufrieden und glücklich ist und auch weiterhin bereit ist zu geben. Außerdem habe ich den Eindruck, dass die Menschen zu viele Kontakte zu anderen Menschen haben; sie wollen sich nicht mit den Taxifahrern unterhalten und klären, wie viel die Fahrt kostet (deswegen wurde Uber erfunden), sie wollen nicht in ein Restaurant gehen und in einem überfüllten Raum sitzen und manchmal deswegen auch gar nicht aus dem Haus gehen (das ist der Grund dafür, dass Essen nach Hause geliefert wird). Deswegen wollen wir die Kleidersammlung über Container verstärken. Mit Containern musst du kein Gespräch anfangen, du legst einfach deine Sachen hinein und gehst ansonsten deinem Tagwerk nach.