Interview mit Sergej Letow
„Für mich ist das Bild auf der Leinwand ein weiterer Partner bei der Improvisation“

Sergej Letov
Sergej Letov | Foto: Vladimir Lupowskij

Am 3. November 2016 eröffnete das Filmfestival des Goethe-Instituts BLICK ’16 mit einer Sondervorführung des Kultfilms „Berlin –Sinfonie der Großstadt“ von Walther Ruttman; musikalisch live begleitet von Sergej Letow. Weltweit bekannt ist Letow als unermüdlicher Improvisationsmusiker, der bereits mit Legenden der Jazzmusik, wie Matthew Ship, Akira Sakata, Joe Morris und anderen zusammen auf der Bühne stand. Sein erstes großes Debüt hatte er 1982 mit dem orthodoxen Schlaginstrumenten-Ensemble von Mark Pekarski. Danach folgte eine enge Zusammenarbeit mit Sergej Kurjochin, dem mystisch-magischen Multiinstrumentalisten, Komponisten und Bandleader der legendären Band „Pop Mechanics“.

Sergej, während Ihrer beruflichen Laufbahn haben Sie mit einer ungeheuer großen Zahl von ausländischen Musikern zusammengespielt. So waren Sie beispielsweise im Jahre 2000 bei der Aufzeichnung des Albums der Jazzrockband „Embryo“ mit dabei, die ja den Status einer Ikone hat. Außerdem sind Sie zusammen mit Tobias Delius und Klaus Kugel aufgetreten, und mit Vlady Bystrov (ein deutscher Saxophonspieler, der in Russland geboren ist – „Anm. der Red.“) haben Sie das gemeinsame Projekt „Elektronischer Atem“ ins Leben gerufen. Gibt es eine Verbindung zwischen der russischen und der deutschen Improvisationsschule?

Es fällt mir schwer, an den deutschen Improvisationsmusikern, mit denen ich zusammen aufgetreten bin, gemeinsame Züge zu finden. „Embryo“ ist ja doch eher eine Rockgruppe, Klaus Kugel ist ganz klar ein Free-Jazz-Schlagzeuger und Vlady Bystrov ist bedeutend näher an der zeitgenössischen Kunstmusik. Wenn wir von einer Schule sprechen, dann existierte diese als solche eher in der DDR, wo freie Improvisation und Free Jazz vom Staat klar gefördert wurden. Wenn man dagegen freie Improvisationsmusiker aus Russland bzw. der UdSSR betrachtet, so kann man im Vergleich mit den westeuropäischen Musikern sagen, dass erstere in geringerem Maße Individualisten sind und mehr darum bemüht sind, für den Zuschauer eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, während man im Westen eher aus der Motivation heraus agiert, gegen die Konsumgesellschaft, den Kapitalismus usw. zu protestieren.

Sie beschäftigen sich ja schon lange mit der Vertonung von Stummfilmen: zu verschiedenen Zeiten schufen Sie Tonspuren zu „Faust“ von Friedrich Murnau, zu „Metropolis“ und „Frau im Mond“ von Fritz Lang sowie zu „Golem“ von Henrik Galeen und Paul Wegener. Warum haben Sie gerade diese Filme jener herausragenden deutschen Regisseure ausgewählt?

Genau diese Filme habe ich gar nicht selbst ausgesucht. Entweder haben meine Partner bei der Vertonung die Wahl getroffen – in den meisten Fällen war das Vlady Bystrov – oder aber die Organisatoren. Sagen wir mal so, der einzige deutsche Film, für dessen Auswahl ich mehr oder weniger verantwortlich bin, ist „Tabu“ von Friedrich Murnau. Ich habe eine Vertonung dieses Films in Moskau gehört und bekam Lust darauf, etwas Eigenes zu probieren. Der deutsche Film hatte im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zweifellos eine führende Rolle in der Welt, und eine solche Erscheinung wie der Expressionismus hat gerade im Film bedeutende Spuren hinterlassen. Es waren eben deutsche Filme, die ich mir als erstes vornahm, als ich auf Initiative des Goethe-Instituts vor 20 Jahren mit der Vertonung von Stummfilmen begann. Und bis zum heutigen Tag sind es auch die deutschen Filme, die die Basis meines Filmrepertoires bilden.
 
Gibt es einen prinzipiellen Unterschied zwischen der Vertonung eines Spielfilms und der eines Dokumentarfilms?


An deutschen Dokumentarfilmen habe ich noch nicht gearbeitet, aber ich habe viele Erfahrungen sammeln können bei der Vertonung von Filmen von Dziga Wertow. Ich hoffe, dass mir das weiterhilft. Einige seiner Filme habe ich zusammen mit dem Schlagzeuger Wladimir Nelinow vertont, der nicht nur bei der Arbeit mit Filmen mein Partner ist, sondern auch im Theater; seit nunmehr rund 15 Jahren spielen wir gemeinsam im Taganka-Theater („Marat und der Marquis de Sade“ in der Inszenierung von Juri Ljubimow) und im Theater-Studio „Mensch“ (Stück „Entre Nous/Unter uns“ nach Daniil Charms und Eugène Ionesco – Regisseur Christophe Feutrier). Wladimir spielt nicht nur auf Trommeln und Becken, sondern verwendet eine Vielzahl unterschiedlicher Percussion-Instrumente.

Was ist das Wichtigste bei der Erstellung einer Tonspur für einen deutschen Film – seine Dynamik, die Handlung oder die Ideen und Lösungen des Kameramanns?

Für mich ist der Filmschnitt ein wesentliches Element. Das Problem der Vertonung besteht darin, dass die Musik einerseits autonom ist und ihrer eigenen Logik folgen muss, andererseits jedoch die Wirkung der Darstellung verstärken soll. Und dann muss es noch ein Zusammenspiel mit dem Partner geben. Das heißt, das Bewusstsein des Improvisationsmusikers ist bei der Vertonung eines Films gleichzeitig mit der Lösung mehrerer Aufgaben beschäftigt.

Wie wichtig ist es, den Zeitgeist in einem Soundtrack zu erhalten – muss man bei der Vertonung moderne Technologien, Elektronik einsetzen?

Es ist nicht mein Bestreben, dem Zuschauer einen Film in musealer Weise vorzuführen. Ich will ja von Anbeginn an den Zuschauer von heute ansprechen. Die Wahl des Partners für die Vertonung und die Auswahl der Instrumentierung sind vermutlich die wichtigsten Komponenten der Komposition. Ende der 90er-Jahre habe ich nur Saxophon, Bassklarinette und Flöte verwendet. Später dann elektronische Blasinstrumente und in den letzten Jahren meistens – abgesehen von den Blasinstrumenten – ein Notebook und einen MIDI-Controller. Es kommt vor, dass ich das Saxophon weglasse, obwohl der Zuhörer dann unter Umständen enttäuscht ist.
 
Was denken Sie, muss sich der Ton den Leinwandbildern in jedem Fall unterordnen?


Ich tendiere zu der Meinung, dass er sich teilweise unterordnen muss. Aber das ist nicht unbedingt gängige Praxis. Während der „Stummen Nächte“ in Odessa, dem größten Open-Air-Festival für die Live-Vertonung von Stummfilmen, habe ich beobachtet, dass das Musikstück sozusagen über den Film gelegt wurde. Mit anderen Worten, die Musiker haben vorbereitete Stücke gespielt, die chronometrisch nicht besonders gut zu dem gepasst haben, was gerade auf der Leinwand lief. Mir liegt ein solches Herangehen fern. Ich versuche, dem Bild bestmöglich zu folgen. Für mich ist das Bild auf der Leinwand ein weiterer Partner bei der Improvisation, und auf diesen Partner muss ich auf die eine oder andere Weise reagieren, unbedingt. Ich bemühe mich darum, in der Regel den einzelnen Einstellungen zu folgen, obwohl das nach Meinung von Dziga Wertow nicht unbedingt erforderlich ist – die Musik kann in verschiedenster Weise mit dem Bild in Beziehung treten, beispielsweise kann sie ihm an bestimmten Stellen durchaus auch widersprechen.
 
Erzählen Sie uns, wie bei der Vertonung eines Stummfilms das Wechselverhältnis zwischen unmittelbarer Improvisation und vorher vorbereiteten Patterns ist? Die Filme von John Cassavetes beispielsweise bestanden zur Hälfte, wenn nicht sogar vollständig, aus improvisierten Szenen. Wobei jedoch nicht jeder Zuschauer dieses Verfahren verstanden hat – der Film bliebt in jedem Fall im Bereich des fiktionalen Erzählkinos.


In der Regel erstelle ich vorher eine große Soundbibliothek auf dem Computer, und zwar vom Umfang her wesentlich mehr, als für den Film eigentlich notwendig wäre, damit während der Filmvorführung genug zur Auswahl steht. Manchmal schreibe ich für mich ein Storyboard – das heißt, ich notiere mir auf dem Tablet die Abfolge und Länge der Szenen. Auf dem Bildschirm hebe ich dann die verschiedenen musikalischen Fragmente farbig hervor, damit schnell reagiert werden kann. Wenn es der Filmschnitt erlaubt, plane ich Solosequenzen auf dem einen oder anderen Blasinstrument mit ein. Mitunter muss ich Synthesizer programmieren, und zwar in den Fällen, wo für einen Film ein ganz bestimmtes Klangspektrum benötigt wird. Aber letztendlich wird diese ganze Vorbereitung während der Vertonung umgesetzt, als Improvisation. Als gründlich vorbereitete Improvisation. Und dann gibt es noch das Moment des Wetteiferns mit dem Partner.

Auf welche Tonspur sind Sie besonders stolz? Und welches ist Ihr Lieblingsstummfilm?

Besonders stolz bin ich wohl auf „Die Verteidigung von Sewastopol“ (Wassili Gontscharow und Alexander Chanshonkow, Russland, 1911), den ersten abendfüllenden russischen Film, den ich zusammen mit dem hervorragenden MIDI-Vibraphonisten Wladimir Golouchow vertont habe. Dieser wurde als einziger von mir vertonter Film von dem Föderalen Fernsehsender „Kultura“ gesendet. Und unbedingt zu nennen wären auch „Die Abenteuer des Prinzen Achmed“ (1923, Deutschland, Lotte Reiniger) – der erste der erhalten gebliebenen abendfüllenden Zeichentrickfilme, den ich gemeinsam mit Tejmur Nadir, einem aserbaidschanischen Sänger und Preisträger der Französischen Akademie für Tonaufzeichnung, vertont habe. Mit „Prinz Achmed“ haben wir in Russland das „Jahr Deutschlands“ eröffnet: in Rostow am Don, Saratow, Nishni Nowgorod, Jekaterinburg … Meine Lieblings-Stummfilme sind „Der Mann mit der Kamera“ und „Das elfte Jahr“ von Dziga Wertow.