Stefanie Peter im Gespräch
In Nowosibirsk habe ich Russland richtig kennengelernt

Stefanie Peter
© Alexey Poljakow

Im August 2017 verlässt die Leiterin des Goethe-Instituts Nowosibirsk Stefanie Peter ihren Posten in der sibirischen Millionenstadt. Im Interview erinnert sie sich an die wichtigsten und größten Projekte der vergangenen vier Jahre und teilt ihre Eindrücke über Sibirien und seine Bewohner.

Frau Peter, die Arbeit einer Kulturorganisation hängt in vieler Hinsicht davon ab, welche programmatischen Akzente gesetzt werden. Was waren unter Ihrer Leitung die thematischen Schwerpunkte des GI Nowosibirsk?

Ich würde gerne vier wichtige Schwerpunkte nennen, die wir gemeinsam mit unseren lokalen Partnern besonders stark akzentuiert haben. Zunächst die Musik. Obwohl ich schon vorher ein großer Musikfan gewesen bin, ist Nowosibirsk in dieser Hinsicht zu einer echten Inspirationsquelle geworden. Die Musikszene hier ist wirklich vielfältig und abwechslungsreich. Im Jahr 2013 habe ich hier zum Beispiel das avantgardistische Musikerkollektiv „Echotourist“ kennengelernt. Bald darauf entstand die Idee des Musikfestivals „CTM Siberia“, einer Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Partys und Workshops. Das Festival fand in Nowosibirsk und Krasnojarsk statt und präsentierte europäische sowie russische Musiker. Viele davon haben dadurch übrigens einen großen Schub für ihre weitere künstlerische Entwicklung bekommen. Wir haben mit Formen und Genres gearbeitet, die ein völlig neues Publikum angesprochen haben. Das war ein wirklich wichtiges und aufregendes Ergebnis unserer Arbeit.
 
Wie ist Ihnen das gelungen? Wie genau haben Sie es geschafft, Leute zu begeistern, die hier sonst normalerweise nicht bei solchen Kulturveranstaltungen auftauchen?

Das war tatsächlich eine anspruchsvolle Aufgabe. Denn mehr noch als in Europa klafft ja in Russland – und in Sibirien noch einmal in besonderem Maße – ein tiefer Graben zwischen der offiziellen und der inoffiziellen Kultur. Ein Künstler, der vielleicht etwas seltsam aussieht, weil er zerrissene Jeans trägt (und zwar nicht aus modischen Gründen zerlöcherte, sondern wirklich zerrissene) wird es in dieser Region schwer haben, von der Kulturpolitik ernst genommen zu werden. Deshalb wird eine ganze Zielgruppe, so gebildet und kreativ sie auch ist, leicht übersehen. Auf solche Leute wollten wir aufmerksam machen, in dem wir sie in unsere Projekte integriert haben. Das Festival ”CTM Siberia”, die Ausstellung “Geniale Dilettanten”, die performative Installation “Gespräche aus der Dunkelkammer” haben sehr dazu beigetragen, ein neues Publikum auf die Beine zu bringen. Übrigens auch hier wieder mit dem Effekt, dass immer mehr junge Künstler in den offiziell organsierten Kulturkontext der Stadt einbezogen werden. Gleichzeitig organisieren wir aber auch Veranstaltungen eher klassischer Natur. Formate wie das traditionelle deutsche Filmfestival oder unsere vielen Fotoausstellungen sind dem Publikum bereits vertraut, auch das Musikfestival „Siberian Seasons“. Die Literatur ist uns ebenfalls sehr wichtig. Deshalb haben wir schon viele Begegnungen zwischen russischen und deutschen Schriftstellern organisiert, auch literarische Lesungen mit einheimischen Schauspielern.
 
Normalerweise reagiert unser Publikum eher zurückhaltend auf neue Formate. Weshalb wagen Sie sich trotzdem an künstlerische Experimente heran?

Von Zurückhaltung kann gar keine Rede sein. Unsere Beobachtung war vielmehr, dass das Publikum sehr neugierig auf Neuerungen reagiert. Das Interessante, noch nicht Gesehene, scheint eine hohe Anziehungskraft zu haben. Auch geraten wir darüber ständig in einen Dialog mit dem Publikum. Ich denke da an die Diskussionen im Rahmen des Filmfestivals oder die «Gespräche aus der Dunkelkammer», eine performative Theaterinstallation zum Thema Zensur. Durch die vielen beteiligten lokalen Experten, darunter Wissenschaftler, Unternehmer und Kulturschaffende, war das Projekt gut in der Nowosibirsker Zivilgesellschaft verankert. Im Internet fand eine rege Diskussion über das sogenannte Gespenst (ein Kunstobjekt, das in einer Unterführung in Nowosibirsk als Ergebnis einer Künstlerresidenz entstanden ist) statt. Es wären aber auch die höchst intensiven abendlichen Diskussionen über El Lissitzky zu nennen, der eine Legende der russischen Avantgardekunst war. Und, ach – so vieles mehr: Die Aufzählung würde hier den Rahmen sprengen.
 
Sehr häufig richten Sie sich an Kinder und Jugendliche.

Die gewinnbringende Wahrnehmung von Kunst setzt eine Beschäftigung mit ihr voraus, die schon in der Kindheit beginnt. Deshalb ist kulturelle Bildung eine so wichtige Aufgabe für uns. Das Potenzial bei jüngeren Leuten ist hier in hohem Maß vorhanden. Es kommt aber auf die richtige Ansprache an. Wenn junge Menschen heute in der digitalen Welt heranwachsen, kann man ihnen nicht einfach so etwas über das Weltkulturerbe erzählen. Man muss ihr Interesse für Themen mit zeitgemäßen Mitteln wecken. Deshalb auch unsere Workshops für Lehrer — unsere Referenten wollen ihnen dabei helfen, ihren Schülern Filme, Bücher und Kunst so zu vermitteln, dass sie nicht nachher einfach autoritäre Lehrmeinungen nachplappern. Ein sehr gutes Beispiel dafür: Das Projekt „Woche der Veränderungen“ – es findet im Herbst 2017 in einer Schule im Nowosibirsker Stadtteil Dzershinsk statt. Hier werden Lehrer und Schüler gemeinsam mit deutschen Künstlern und Architekten die Schulgalerie umgestalten. Wir finden, das ist ein tolles Experiment an der Schnittstelle zwischen Kultur und Bildung.
 
Wenn wir schon das Thema Bildung angesprochen haben: Wie steht es um den Sprachunterricht am Goethe-Institut Nowosibirsk? Das Institut bietet ja seit Kurzem endlich auch Deutschkurse an.

Als das Goethe-Institut sein drittes Haus in Russland hier in Nowosibirsk eröffnet hat – das war im Jahr 2009 –, gab es zwei Hauptaufgaben: Unterstützung der Kulturentwicklung und Bildungsarbeit, also Kooperationen mit Universitäten und Schulen, in denen Deutsch unterrichtet wird, und Weiterbildung für Deutschlehrer. Eigene Sprachkurse hatten wir damals nicht — wir unterstützten aber zwei zertifizierte Sprachlernzentren in Akademgorodok und an der staatlichen Technischen Universität von Nowosibirsk. 2016, also fast acht Jahre nach Arbeitsbeginn des Goethe-Instituts Nowosibirsk, haben wir die Entscheidung getroffen, die Struktur des Instituts zu überdenken. Mit dem Effekt, dass wir nun sehr erfolgreich unsere eigenen Deutschkurse initiiert haben und darauf hoffen, das Angebot auch noch zu erweitern. Ab August bieten wir solche Kurse in unseren eigenen Räumen an.
 
Das Goethe-Institut Nowosibirsk hat viele Partner, und es werden immer mehr. Wie sollte die Kooperation mit lokalen Instituten und Kulturschaffenden im Idealfall funktionieren?

Früher hat man uns angesprochen und gesagt: «Lasst uns was zusammen machen, allerdings wissen wir noch gar nicht genau, was». Wir bekamen so viele Anfragen dieser Art, dass wir gar nicht auf alle reagieren konnten. Auch hatten wir kaum die Kapazitäten, sehr schwammige Konzepte so auszuarbeiten, bis sie schließlich überzeugend waren. Aber es hat sich einiges geändert. Mittlerweile kommen immer mehr potenzielle Partner mit sehr konkreten Vorschlägen zu uns. Ich führe das darauf zurück, dass sich unsere Kooperations- und Netzwerkarbeit immer weiter verbessert hat. Im Herbst planen wir gemeinsam mit Spielentwicklern und Game Designern aus Akademgorodok und dem wichtigsten Nowosibirsker Kino ein Ausstellungsprojekt zum Thema Computerspiele. Das wird unseren Publikumskreis noch einmal erweitern und insbesondere in Nowosibirsk neue Synergien schaffen: Die Stadt hat schließlich weltberühmte Mathematiker hervorgebracht und besitzt heute eine starke IT-Branche. Es geht darum, dauernd im Dialog zu sein und voneinander zu lernen. Durch die Kulturentwicklung in Sibirien und dem Fernen Osten entstehen Fragen, die wir nur gemeinsam beantworten können.
 
Sie haben Ihre Bemühungen erwähnt, die kulturellen Netzwerke zwischen weit voneinander entfernt liegenden sibirischen Städten wie Krasnojarsk, Omsk, Tomsk und Wladiwostok zu stärken. Wie sieht der Austausch mit den Nachbarländern und mit Osteuropa aus?

Das Goethe-Institut Nowosibirsk ist an zahlreichen Projekten unserer Region „Osteuropa-Zentralasien“ beteiligt. Ende vergangenen Jahres haben wir hier am Institut ein journalistisches Projekt gestartet: die dreisprachige Webplattform für junge Leser „Konverter“ – mit Beiträgen von Autoren, Bloggern und Fotografen aus Russland, Zentralasien, dem Kaukasus, der Ukraine und Belarus. Wir möchten damit den Austausch zwischen den Ländern unserer Region und Europa intensivieren. Alle Texte erscheinen auf Deutsch, Russisch und Englisch.
 
Wie werden Sie Sibirien in Erinnerung behalten?

Ich habe hier sehr viele wunderbare Menschen kennengelernt. Wobei mich eine gewisse Distanz beim allerersten Treffen auch immer wieder verwirrt hat. Dann allerdings haben sich viele Kontakte unglaublich warm und herzlich entwickelt. Ich glaube, man muss hier immer nur ein bisschen warten und manchmal auch die ersten Schritte machen.

Man kann Sibirien vielleicht nicht treffender beschreiben als mit einem, sehr viel gehörten Satz: „Das ist hier nicht Moskau!“. Und es stimmt ja auch: Nowosibirsk ist wirklich nicht Moskau. Einerseits kann man sich darüber freuen, dass hier Dinge möglich sind, die in der Hauptstadt niemals möglich wären. Andererseits gibt es auch negative Aspekte: Die starke Zentralisierung Russlands und die Ausbeutung anderer Regionen durch Moskau war schon immer ein großes Problem. Aber, um ehrlich zu sein: Ich bin sehr froh darüber, dass ich Russland durch die „Hintertür“ kennenlernen durfte. Von Nowosibirsk aus betrachtet lernt man die kulturellen Möglichkeiten, die Moskau und St. Petersburg bieten, ganz besonders zu schätzen. Zugleich habe ich aber auch ein konzentriertes Leben kennengelernt, das es in dieser Intensität wohl nur in der Provinz gibt. Das klingt jetzt wahrscheinlich sehr pathetisch: Aber ich bin Nowosibirsk sehr dankbar dafür, dass ich hier die Chance bekommen habe, Russland wirklich kennenzulernen. Und da unser Goethe-Institut nicht nur in Nowosibirsk, sondern in ganz Sibirien und dem Fernen Osten aktiv ist, konnte ich auch an den östlichsten Punkt Russlands reisen, nach Wladiwostok. So hab ich wirklich den ganzen kulturellen und geografischen Reichtum der Region kennengelernt.
 
Wie geht es für Sie nun weiter? Werden Sie Ihre Kollegen aus Nowosibirsk vermissen?

Seit ich das Goethe-Institut Nowosibirsk leite, ist unser Team sehr gewachsen, und zwar nicht nur, was die Mitarbeiterzahl betrifft. Wir haben zusammen viele Krisen gemeistert und Erfolge erlebt. Es ist traurig, dieses Team nun zu verlassen. Ich werde zuerst nach Deutschland zurückkehren und in München in der Zentrale des Goethe-Instituts arbeiten. Und 2018 geht es für mich wieder ins Ausland. Ich werde also neue Orte entdecken und neue Leute kennenlernen.