Literarische Leuchttürme
„Die Arbeit eines Schriftstellers gleicht der eines Bergmannes“

© Irina Posrednikowa
© Irina Posrednikowa

Im Mai und Juni 2017 waren auf Einladung des Goethe-Institutes drei Schriftsteller als Teilnehmer am internationalen Projekt „Literarische Leuchttürme“ Gäste des Literarischen Colloquiums. Im Interview äußerten sie sich über „ihr“ Deutschland, ihr Verhältnis zur russischen und deutschen Sprache und teilten mit uns nicht nur ihre Eindrücke von Berlin, sondern auch ihre Pläne für die Zukunft.

Am Gespräch nahmen teil:
 
Anna Kordzaia-Samadashvili (Tiflis, Georgien), Schriftstellerin, Übersetzerin, Professorin für Philologie, Dozentin an der Tschawtschawadse-Universität.
 
Aigul Kemelbayeva (Astana, Kasachstan), Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin, Drehbuchautorin, Leiterin der Literaturabteilung des Staatlichen akademischen kasachischen Schauspielhauses „K. Kuanyschbajewa“. Autorin von fünf Büchern, Trägerin des Staatlichen Jugendpreises von Kasachstan „Daryn“.
 
Azam Abidov (Taschkent, Usbekistan), Dichter, Übersetzer usbekischer Literatur in die englische Sprache.
 
Grigori Arosev. Ihren Biographien kann man entnehmen, dass Sie alle nicht nur Autoren, sondern auch eng mit anderen Sprachen verbunden sind. Welche Sprachen haben in Ihrem Leben welchen Platz?
 
Azam Abidov. Ich schreibe hauptsächlich auf Usbekisch, aber auch noch auf Englisch, in einer Sprache also, die für mich sehr wichtig ist, da ich ja usbekische Literatur ins Englische übersetze. Außerdem übersetze ich noch ins Usbekische, zum Beispiel aus dem Russischen, dem Türkischen, dem Spanischen und dem Französischen. Warum ich das mache? Erstens, weil ich sehr gern übersetze. Noch mehr jedoch liegt mir am Herzen, dass Menschen in anderen Ländern usbekische Literatur in ihrer eigenen Sprache lesen können. Die Situation ist ja momentan so, dass es zwar viele Übersetzungen aus anderen Sprachen ins Usbekische, aber umgekehrt nur wenige Übersetzungen aus dem Usbekischen in andere Sprachen gibt. Ich bemühe mich also, diese Lücke zu schließen, damit die Menschen sich ein Bild davon machen können, was usbekische Literatur ist und worum es in der klassischen zeitgenössischen usbekischen Dichtung geht. Angefangen habe ich mit Alisher Nawo, dem Vater der usbekischen Dichtung.
 
Aigul Kemelbayeva. Ich arbeite vorzugsweise in meiner Muttersprache, der kasachischen Sprache. Russisch habe ich erst gelernt, als ich zum Studium nach Moskau gegangen bin – ich bin ja Absolventin des Moskauer Gorki-Literaturinstituts und habe das Seminar der Schriftsteller A. G. Bitow und L. E. Beshin besucht. Prosa schreibe ich auf Kasachisch und übersetze das dann selbst ins Russische. Essays und Artikel hingegen schreibe ich meist auf Russisch. Unseren großen Dichter Abai Kunanbajew (Abai Qunanbajuly) verstehen selbst viele Kasachen nicht so richtig, ganz zu schweigen von allen anderen; er ist doch ein sehr tiefsinniger Lyriker und Denker. Abai sollte die Welt einfach kennen. So habe ich angefangen, über viele namhafte Autoren zu schreiben.
 
Übrigens, wenn ich Erzählungen zu historischen Themen schreibe, arbeite ich in der Regel lange am Text, suche nach Archaismen – vor dreitausend Jahren haben sich die Kasachen nämlich nicht so dürftig ausgedrückt wie heute; unsere Sprache war wesentlich reicher, kristallklar. Die Arbeit eines Schriftstellers gleicht der eines Goldschürfers oder vielmehr eines Bergmannes – man muss ständig weitersuchen.
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Ich schreibe in meiner Muttersprache, auf Georgisch. Und obwohl ich von einer Deutschen erzogen worden bin, also einer Deutschen aus Tiflis, habe ich doch Deutsch nie gelernt, weder in der Schule noch an der Universität. Es hat sich einfach ergeben, dass ich angefangen habe Deutsch zu sprechen. Und ich übersetze auch aus dem Deutschen ins Georgische und wahrscheinlich hat das einen Einfluss darauf, was und wie ich schreibe. Deutsch und Georgisch sind meine Hauptsprachen. Mein Englisch lässt zu wünschen übrig, ich kann zwar Literatur lesen, den Text aber nicht wirklich beurteilen, dafür sind meine Kenntnisse nicht gut genug. Und aus demselben Grund kann ich vermutlich auch nicht aus dem Georgischen ins Deutsche übersetzen; es ist eben nicht meine Muttersprache.
 
Lassen wir doch für einen Augenblick mal Ihren persönlichen Werdegang beiseite und sprechen wir darüber, wie es um die russische Sprache in Ihren Ländern bestellt ist: Liest und spricht man denn bei Ihnen Russisch?
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Ich lehre jetzt das achte Jahr an der Staatlichen Universität in Tiflis, der Tschawtschawadse-Universität. Meine Studenten können nicht Russisch lesen und selbst russische Literatur wird auf Georgisch gelehrt. Die ältere Generation liest selbstverständlich Russisch, aber bei uns wird jetzt sehr viel Literatur übersetzt, sodass die Notwendigkeit wegfällt, Bücher aus Russland zu kaufen. Der Buchmarkt bietet genug Auswahl an Literatur in der Muttersprache und auch die ältere Generation liest hauptsächlich Bücher in georgischer Sprache.
 
Aigul Kemelbayeva. Die russische Sprache wird in Kasachstan wahrscheinlich von neunzig Prozent der Bevölkerung beherrscht, die jungen Leute eingeschlossen. Die Bücher in den Geschäften sind fast alle aus Russland und entsprechend auch in russischer Sprache. Obwohl wir natürlich möchten, dass die Kasachen auch ihre Muttersprache sprechen. Das ist schon ein Problem. Bei uns schreiben selbst die Schriftsteller, die selbst Kasachen sind, oft auf Russisch, weil sie die kasachische Sprache nicht beherrschen. Der kasachische Wortschatz ist eine echte Quelle der Weisheit und Philosophie, der Seelentiefe und Poesie! Ein solches Gut darf man nicht vernachlässigen, das ist meine persönliche Meinung.
 
Azam Abidov. Wie es um die russische Sprache bestellt ist, dass hängt von dem konkreten Ort in Usbekistan ab. In Taschkent beispielsweise sprechen und schreiben viele Russisch und überhaupt gibt es auch sehr viele Russen in der Stadt. Es gibt nicht wenige usbekische Dichter und Schriftsteller, die auf Russisch schreiben. Aber in den ländlichen Gebieten beherrschen nur wenige die russische Sprache. Obwohl es russischsprachige Schulen in allen Regionen des Landes gibt. Wenn man früher an allen Schulen ab der ersten Klasse Russisch unterrichtet hat, so wird heute ab Klasse eins Englisch gelehrt. Und ich habe den Eindruck, dass in unseren Bücherläden neunzig Prozent aller Bücher auf Usbekisch und nur zehn Prozent auf Russisch sind. Und wenn in der Familie gewünscht wird, dass die Kinder Russisch können, dann müssen die Kinder an eine russische Schule gehen oder entsprechenden zusätzlichen Unterricht nehmen.
 
Spielen die deutsche Sprache und Literatur irgendeine besondere Rolle in Ihrem Leben? Gibt es eine Geschichte zu „Ihrer“ deutschen Sprache bzw. „Ihrem“ Deutschland?
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Ich bin in Tiflis geboren und aufgewachsen und der Stadtbezirk, in dem ich damals gelebt habe, war von Deutschen gegründet worden, die vor zweihundert Jahren nach Georgien gekommen sind. Das heißt, in diesem Jahr begeht der Staat Georgien sein zweihundertjähriges Jubiläum der gemeinsamen Geschichte mit den deutschen Siedlern – also zweihundert Jahre Deutsche in Georgien. Außer von Mama und Papa bin ich auch noch von einer deutschen Frau großgezogen worden; wir haben sie Tante Ninab genannt, sie entstammte dem Geschlecht der Paals. Vertreter dieses Geschlechts haben in Tiflis eine große Rolle gespielt, und überhaupt ist das eine sehr lange Geschichte. Übrigens geben wir gemeinsam mit der Heinrich-Böll-Stiftung in Kürze ein Buch darüber heraus, wer die Vertreter des Geschlechts der Paals waren. Aus diesem Grund also waren mir die deutsche Kultur und Sprache nie fremd. Wissen Sie, es ist sehr angenehm, eine Sprache zu beherrschen, in der so viele Bücher herausgegeben werden. Das ist schon ein Teil von mir geworden und wahrscheinlich sogar der wichtigste Teil. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich schon zu deutschpatriotisch bin. Mit dem Übersetzen habe ich in den neunziger Jahren angefangen und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Es ergab sich die Möglichkeit, auf diese Weise Geld zu verdienen; die Zeiten damals waren schrecklich. Dann stellte sich heraus, dass dies ein wunderbarer Beruf ist und so bin ich bei der deutschen Literatur geblieben.
 
Aigul Kemelbayeva. Ich habe sehr viele deutsche Autoren gelesen – von Hans Sachs bis Dürrenmatt und Patrick Süskind. Meine Lieblingsautoren sind Goethe, Hoffmann, Chamisso und Hesse. Und der Faust wurde 1969 von Medeubai Kurmanow vom Original ins Kasachische übersetzt, und zwar auf einem sehr hohen qualitativen Niveau. Ich habe auf Kasachisch ein zwanzigseitiges Essay „Goethe und Abai“ (geschrieben im Jahr 2005). Ich selbst kann kein Deutsch, obwohl ich es in der Schule hatte und ich demnach eine Basis habe. Sobald ich dafür Zeit habe, werde ich mich der deutschen Sprache widmen. Meine vier Erzählungen sind ins Deutsche übersetzt worden und ich plane noch einige Artikel zur wechselseitigen Verbindung von deutscher Folklore und kasachischer Literatur zu schreiben.
 
Azam Abidov. Deutsch habe ich vor zwölf Jahren gelernt, als ich das erste Mal nach Deutschland gekommen bin. Ich habe drei Monate lang einen Deutschkurs besucht, dann aber, ehrlich gesagt, alles wieder vergessen. Mit der deutschen Sprache hatte ich erst wieder zu tun, als ich an der internationalen Anthologie „Die Sprache der Vögel“ gearbeitet habe, die 2013 erschienen ist. Damals habe ich angefangen, Gedichte auf Deutsch zu lesen und die Originale mit Übersetzungen ins Usbekische zu vergleichen. Inzwischen denke ich darüber nach, selbst deutsche Gedichte in meine Muttersprache zu übersetzen. Hier in Berlin bin ich dazu gekommen, einige Gedichte deutscher Dichter ins Usbekische zu übersetzen. Großes Interesse hatte ich beispielsweise an der Dichtung Kurt Tucholskys. Ich hoffe, dass ich direkt aus dem Deutschen übersetzen kann und nicht den Umweg über die russische Sprache nehmen muss.
 
Haben Sie das Gefühl, dass Berlin eine besondere Stadt für Deutschland, für Europa und vielleicht auch für Sie persönlich ist?
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Ich bin das erste Mal nach Berlin gekommen, als die Stadt noch sehr jung war; das war 1995. Damals hat jemand, der dann wahrscheinlich zu meinem besten Freund in Berlin geworden ist, gesagt, dass es doch interessant ist zu beobachten, wie sich die Stadt sozusagen vor Deinen Augen entfaltet und im Wachsen und Werden begriffen ist. Er meinte, ich wäre Teil dessen, was Berlin ausmacht. Ich verstehe schon, dass das sehr ambitioniert klingt, aber mir hat das gefallen, sogar sehr! Und jedes Mal, wenn ich wiederkomme, was ein- oder zweimal im Jahr der Fall ist, sehe ich voller Freude, wie die Stadt vor meinen Augen wächst, mein geliebtes, wunderbares Berlin. Ich liebe diese Stadt wirklich sehr und für mich persönlich spielt sie eine ganz große Rolle. Aber auch im übrigen Deutschland ist alles ganz großartig.
 
Azam Abidov. In Berlin bin ich das zweite Mal, allerdings war ich beim ersten Mal auf Durchreise und buchstäblich nur anderthalb Tage hier. Jetzt haben wir hier zwei Wochen verbracht – so lange war ich noch in keiner anderen Stadt Europas. Ich spüre, dass Berlin für mich eine ungewöhnliche Stadt ist, eine Stadt, die Freunde verbindet. So habe ich mich beispielsweise mit einem Dichter aus Mazedonien und einem aus Kroatien in Berlin getroffen. Die beiden sind eigens für dieses Treffen angereist. Aber ich weiß vieles auch noch nicht – sowohl über Deutschland, als auch über Berlin. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass viele Schriftsteller, Dichter und Übersetzer in Berlin lebten und leben und Berlin als eine so „inspirierende“ Stadt gilt. Ich hoffe, dass ich noch viele Male hier sein kann…
 
Aigul Kemelbayeva. Meine Eindrücke sind ausschließlich positiv und angenehm. Berlin ist eine sehr schöne Stadt, aber am Wichtigsten ist für mich, dass man hier die Literatur liebt und schätzt, dass die Menschen Bücher lesen. Das steht für mich an erster Stelle.
 
Fallen Ihnen kulturelle oder irgendwelche kulturologischen Unterschiede zwischen der Gesellschaft, in der Sie leben, und Deutschland und Berlin auf?
 
Aigul Kemelbayeva. Die Menschen lesen überall, in dieser Hinsicht ist es eher gleich. Aber ansonsten fällt mir natürlich einiges auf; Berlin ist für mich eine Art Fenster nach Europa, hier ist alles auf einem hohen Niveau, zivilisiert. Ich sehe hier einen echten Respekt vor der eigenen Geschichte. Das verdient höchstes Lob. Kasachstan ist noch ein sehr junger Staat, haben wir doch erst vor fünfundzwanzig Jahren die Unabhängigkeit erlangt. Wir sind noch im Prozess des Werdens.
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Die Unterschiede sind natürlich groß, aber das gefällt mir sehr. Je größer die Vielfalt, desto besser, finde ich. Es ist doch sehr langweilig, in eine Stadt zu kommen, in der alles genauso ist, wie in der, wo du selbst wohnst. Was mir besonders gefällt, sind die öffentlichen Lesungen, wo Menschen dichtgedrängt mehrere Stunden lang einem Autor lauschen. Für georgische Verhältnisse ist das ungewöhnlich. Sehr gut finde ich auch, dass Berlin so bunt ist, dass man hier so viele Sprachen hören kann – das ist wirklich toll!
 
Azam Abidov. Aus literarischer Sicht gefällt mir das System sehr gut, Archive von Dichtern und Schriftstellern einzurichten. So etwas gibt es bei uns in Usbekistan nicht. Wir haben Museumshäuser, aber keine Archive. Das hat mich sehr beeindruckt. Gefallen hat mir zudem das System literarischer Führungen; auch das kennen wir so nicht. Ich würde diese Idee gern nach Usbekistan bringen. Aus kulturologischer Sicht hat mich ein Erlebnis beeindruckt, das wir hatten, als wir auf einer Bank saßen und auf die S-Bahn warteten. Neben uns stand längere Zeit ein nicht mehr nüchterner Mann, bis unser Koordinator Scholpan fragte, warum er sich nicht hinsetzt. Woraufhin er zurückfragte „Haben Sie denn nichts dagegen?“ Wir haben einfach nur dagesessen und uns unterhalten und er hatte Angst uns zu stören.
 
Berlin ist unter anderen für seinen Begriff „Multikulti“ berühmt, das Multikulturelle hier, die äußerste Vielfalt in allem, unter anderem auch, was die Herkunftsländer seiner Bewohner betrifft. In Berlin, wie auch in Deutschland insgesamt begegnet man auf Schritt und Tritt russisch-italienischen oder russisch-französischen Familien, ganz zu schweigen von russisch- oder ukrainisch-deutschen. Die Kombinationen von Nationalitäten könnten vielfältiger nicht sein, und die Kinder dieser Familien werden hier in Deutschland geboren. Sie sind ja Vertreter vollkommen verschiedener Länder, verschiedener Gesellschaften und haben unterschiedliche geschichtliche Hintergründe. Meine Frage in diesem Zusammenhang ist: Was prägt und beeinflusst aus Ihrer Sicht heutzutage die kulturell-nationale Identität des Menschen?
 
Aigul Kemelbayeva. In allererster Linie scheint mir das die Sprache zu sein. Bei uns ist es ja so: Ein Mensch, der von seiner Nationalität her zwar Kasache ist, aber kein Kasachisch spricht, ist auch kein Kasache mehr, da sein Denken, seine Mentalität und alles andere an ihm Russisch ist. Die Sprache ist das Wichtigste, wenn ein Volk seine Sprache verliert, dann verliert es sich insgesamt, obwohl wir durch andere Sprachen natürlich auch bereichert werden. Die Welt bietet eine ungeheure Fülle, aber jeder Mensch sollte sein Wurzeln kennen und schätzen. Wenn wir uns selbst lieben, lieben wir auch die anderen.
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Aigul hat völlig recht, wahrscheinlich ist entscheidend, in welcher Sprache man träumt. Und ansonsten kann ich, ehrlich gesagt, gar nicht sagen, was die Identität ausmacht, weil sich mir persönlich diese Frage noch nie gestellt hat, denn ich selbst bin ja durch und durch georgisch.
 
Azam Abidov. Wichtig ist nicht nur die Sprache; auch Religion und Glauben sind von Bedeutung. In Usbekistan wird es nicht immer als Normalität angesehen, wenn ein Usbeke eine Russin heiratet. Persönlich für mich ist das natürlich normal, aber die Gesellschaft nimmt das anders wahr. In Usbekistan hat die Religion eine große Bedeutung – ein Moslem kann niemanden heiraten, der einen anderen Glauben hat, es sei denn, derjenige konvertiert zum Islam. Hier in Deutschland hingegen ist alles schon miteinander verbunden, verschiedene Völker vereinen sich in den Familien. Für mich fühlt sich das völlig normal an.
 
Und wie werden solche Ehen in Kasachstan und Georgien aufgenommen?

Aigul Kemelbayeva. Die Kasachen sind ein sehr tolerantes Volk. Solche Ehen werden bei uns schon seit langem geschlossen. Manchmal wird das verurteilt, manchmal entspannt aufgenommen.
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. Tiflis war damals keine rein georgische Stadt. Ich habe das Bevölkerungsverzeichnis aus dem Jahr 1903 oder 1904 gelesen, wenn ich mich nicht irre, und ich hatte vorher gar nicht gewusst, dass es so viele Nationalitäten gibt.  Dementsprechend ist es den Menschen in Tiflis, also dem Ort, den ich ja am besten kenne, völlig unwichtig, welcher Nationalität dein Mann oder deine Frau ist. Und weil ich nicht religiös bin, kenne ich, ehrlich gesagt, keine einzige Familie, in der das irgendeine Rolle spielen würde. Wahrscheinlich ist es einfach nur angenehmer, wenn das neue Familienmitglied deine eigene Sprache spricht...
 
Finden sich Berlin oder Deutschland in Ihren Texten bzw. Büchern wieder? Oder gibt es diesbezüglich vielleicht Pläne für die Zukunft?
 

Azam Abidov. Wie schon erwähnt, habe ich damit begonnen, aus der deutschen Sprache ins Usbekische zu übersetzen. Außerdem bin ich gerade von der Idee inspiriert, in Usbekistan ein Zentrum künstlerischen Schaffens mit Nationalkolorit zu schaffen. Das ist sowohl für Usbekistan als auch für Zentralasien insgesamt sehr wichtig. Ich engagiere mich hier also nicht nur als Übersetzer, sondern werde auch als Organisator tätig.
 
Aigul Kemelbayeva. Ich begeistere mich für die Mythologie und auf dieser Basis werde ich auf jeden Fall eine Erzählung über Berlin schreiben. Mir haben immer schon die Bären in der Literatur sehr gefallen, beispielsweise in „Lokis“ von Prosper Mérimée, „Der Bär“ von William Faulkner, „Eisernes Fell“ von Iwan Bunin und Erzählungen von Rafik Schami – um nur einige der Klassiker zu nennen. Deswegen ist Berlin natürlich „meine“ Stadt. Ich sehe auch schon die Gestalt eines mythologischen deutschen Bären vor mir - Berlin.
 
Anna Kordzaia-Samadashvili. In kurzen Erzählungen habe ich wahrscheinlich sehr oft, fast zu oft, über Berlin geschrieben, aber das Wort „Berlin“ selbst gar nicht benutzt. Bei mir taucht lediglich die „Stadt“ auf. Nach „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin über Berlin zu schreiben, würde ich mich, ehrlich gesagt, nie wagen. In dieser Stadt bin ich sowieso nur ein außenstehender Beobachter. Schreiben kann ich über Tiflis, eine Stadt, die ich kenne. Ich denke, dass man darüber schreiben sollte, was man sehr gut, besser als andere, kennt. Berlin jedoch... Berlin ist einfach wunderschön.