Inklusives Projekt
Von der Psychiatrie auf die Bühne

Blaumeier-Atelier
© Mariann Menke

Das Blaumeier-Atelier ist das älteste inklusive Projekt Deutschlands. Seit 1986 treffen sich dort Menschen mit und ohne Behinderung in den Bereichen Theater, Musik, Malerei, Fotografie und Literatur. Ein 28-köpfiges Team hat im Rahmen des PROTHEATRE-Festivals in Moskau Shakespeares Drama Der Sturm aufgeführt. Die Regisseurin Imke Burma erzählt, wie man aus einem inklusiven Projekt ein professionelles Theater macht.

Wie ist das Blaumeier-Atelier entstanden? 

Das Blaumeier-Atelier wurde gegründet, als eine Psychiatrie aufgelöst wurde – damals ging es um die konkrete Freiheit, dass die Leute nicht mehr in einer geschlossenen Einrichtung leben sollten. Sie kamen zu Wohngruppen in Bremen, wo sie sich anders entfalten und ausleben konnten. Dort wurde das Künstlerangebot geschaffen. Man wollte gucken: Was kann jeder, was ist das Besondere an jedem? Aber wir haben in Blaumeier schon auch Ansprüche und machen keine Therapie, uns geht es ums Theaterstück, die Ausstellung, das Maskenspektakel. Alle arbeiten hart. 

Wer ist bei Euch im festen Ensemble?

Es sind elf Leute, sie spielen seit 13 Jahren zusammen. Man hatte bei Blaumeier irgendwann die Idee eines festen Ensembles, das tagsüber probt, an den Produktionen arbeitet, in große Häuser geht. Wir arbeiten inklusiv – behinderte und nicht behinderte Menschen zusammen. Leute fragen nach den Vorstellungen oft, wer von den Schauspielern behindert ist, und ich kann es selbst nicht mehr so sagen. Es ist für uns normal, dass Menschen unterschiedlich sind. Ich finde es super, wenn die Leute in die Vorstellung kommen und interessiert sind. Wir wollen aber nicht sagen: Behinderte Schauspieler sind genauso wie wir, das wäre Quatsch, sie müssen ihre Besonderheiten behalten dürfen.

Ist es den Performern immer bewusst, was sie gerade auf der Bühne machen? Können die den Kontext verfolgen?

Das sollte man bei jedem Schauspieler einzeln fragen. Ich weiß es manchmal wirklich nicht und traue es mir nicht zu, es zu beurteilen. Sie wissen, wer sie sind, welche Figur, wer ihr Partner ist. Der Sturm ist für mich eine unglaublich interessante, anstrengende Arbeit, die Geschichte ist sehr komplex. Shakespeare ist nicht gerade einfach, er hat diese großen Themen, großen Gefühle – diese Rache und Verzeihung, Verzweiflung und Sehnsucht. Und große Gefühle sind, sagt man, die Spezialität unseres Ensembles.

Blaumeier © Mariann Menke Ist Deine Vorgehensweise anders als bei der Arbeit in einem normalen Theater?

Ich arbeite auch mit professionellen Schauspielern am Staatstheater und der Ansatz ist nicht anders. Ich nehme den Schauspieler so an, wie er ist, und gucke, was ist es für eine Person, was braucht er, was muss ich ihm geben, damit er sich entfalten kann. Manchmal muss ich bei Blaumeier-Schauspielern anders kommunizieren, mehr Geduld haben, Umwege finden. Den Schauspielern aus dem Staatstheater kann ich irgendwann auch sagen: Das ist dein Job, deine Verantwortung, ich will das und das von dir, du findest den Zugang dazu selbst. Das würde bei Blaumeier nicht funktionieren. Ich müsste sagen: Lass uns gemeinsam gucken, wie du das machen kannst.

Das Blaumeier-Atelier ist das älteste und renommierteste inklusive Theater. Wie fühlt es sich an, unter diesem Label zu arbeiten?

Es ist toll! Vor dem Werk, das das Blaumeier-Atelier in mehr als 30 Jahren aufgebaut hat, habe ich große Hochachtung. Seine Gründer hatten eine zutiefst menschliche Motivation. Sie wollten, dass behinderte Menschen in die Öffentlichkeit treten, gesehen werden, eine Stimme bekommen. Und heute gibt es so unterschiedliche Richtungen, darunter auch sehr radikale, die vielleicht auch ästhetischen Vorstellungen und auch menschlichem Verständnis widersprechen. Das ist aber super, man kann darüber streiten. Dafür sind diese Theaterfestivals so toll. 

„Der Sturm“ nach Shakespeare © Mariann Menke

Man kooperiert aber nicht gerne innerhalb der inklusiven Szene, oder?

Ja, das stimmt. Ich glaube, das hat mit diesem Inklusionsgedanken zu tun. Man will raus aus der Nische. Man will dahin, wo man nicht ist, und es entstehen tolle Vernetzungen. Für mich ist Inklusion das Zusammenspielen von Leuten mit verschiedenen Eigenschaften.

Kann man sagen, dass das Projekt die gesellschaftliche Einstellung zu Menschen mit Behinderung geändert hat?

Von der gesellschaftlichen Freiheit, die ich mir wünschen würde, sind wir leider noch weit entfernt. Bei uns können unsere Schauspieler proben, präsentieren, was sie können, arbeiten ... und dann kommen sie raus, nehmen den Bus und werden wieder gedisst und komisch angeguckt.

Was würdest Du einem Zuschauer raten, der zum ersten Mal eine Blaumeier-Vorstellung besucht?

Die Ohren und die Augen aufzumachen, sich beeindrucken und schockieren zu lassen, offen und ehrlich mit sich selbst zu sein. Aber das würde ich generell für Theaterbesuche empfehlen.