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Architektur der Freiheit
„Wir leben in einer Zeit, in der Politik plötzlich sehr wichtig geworden ist“

David Mulder van der Vegt ist einer der Gründer des Architekturbüros XML, dessen Interesse sich von der Saalgestaltung des Europarats bis hin zu der von winzigen Vitamin-Shops erstreckt. Der Architekt stellte sich immer schon die Frage, ob politische Orientierungen sich in der Aufmachung von Gesetzesorganen widerspiegeln. Im Ergebnis dieser Überlegungen entstand das Buch Parliament, eine Analyse von 193 Parlamenten in unterschiedlichen Ländern der Welt. Van der Vegt berichtet im Gespräch davon, warum es nicht möglich ist, einen Algorithmus für Demokratie zu entwickeln, und wie politische Systeme sich gegen Veränderungen sträuben oder diese annehmen.
 

Von Marina Anzipjerowa

Sie zitieren oft einen Satz von Churchill: „Erst formen wir unsere Gebäude, und dann formen die Gebäude uns.“ Welchen Einfluss hat Architektur Ihrer Meinung nach heute auf uns?
 
Unsere Überlegungen haben mit einer ganz einfachen Beobachtung begonnen: Wir schauten uns das britische Unterhaus an und dachten darüber nach, wie sich politische Debatten in einem Raum entwickeln, in dem die Leute einander gegenübersitzen.

Wir haben das natürlich sofort mit dem holländischen Parlament verglichen, welches – wie viele andere Parlamente im kontinentalen Europa – im Halbkreis gebaut ist. Wenn man sich diese beiden Räume anschaut, kann man sich leicht vorstellen, dass die Atmosphäre darin vollkommen unterschiedlich ist. Wir wissen ja alle, dass die Atmosphäre eines Gesprächs eine andere ist, wenn man sich gegenübersitzt als wenn man nebeneinandersitzt.

Nachdem wir uns einige gesetzgebende Organe angesehen hatten, fand ich es interessant, darüber nachzudenken, wie deren Räumlichkeiten ein bestimmtes Referenzsignal für die Politik aussenden.

Das Buch „Parliament“ Das Buch „Parliament“ | www.parliamentbook.com Das führt uns zu einer sehr guten Logik-Frage: Was denken Sie, festigt ein Gebäude ein System, oder ist es andersherum?
 
Ich glaube nicht, dass es darauf nur die eine richtige Antwort gibt, aber natürlich beeinflusst die Architektur politische Prozesse. Wir haben begonnen, über Churchill zu sprechen, und ich fände es interessant, die ganze Geschichte bis zum Schluss zu erzählen: Während des Zweiten Weltkriegs wurde das Londoner Parlamentsgebäude zerstört. Es wurde viel darüber gestritten, ob man es nicht in Form eines Halbkreises wiederaufbauen solle. Und dann wandte sich Churchill an das Parlament und sprach diesen berühmten Satz. Das Gebäude des britischen Parlaments war 600 Jahre zuvor entworfen worden, und damals war es einfach eine Kirche gewesen, in der das Parlament begonnen hatte, sich zu versammeln.

Zwei Bänke, die sich im Gebäude eines Klosters befunden hatten, wurden zur Ausgangssituation für das britische politische System: Dieses bestand immer schon in einer Gegenüberstellung zweier Parteien.
Wenn aber dann irgendeine dritte Partei erstarkte, stellte sich jedes Mal die Frage, auf welche Seite man diese setzen solle. Die Architektur ermöglichte also lediglich die Entwicklung einer bestimmten Kultur; andere Varianten machte sie unmöglich.

Схемы устройства парламентов Bauschemen von Parlamenten in verschiedenen Ländern der Welt | www.parliamentbook.com Was meinen Sie: Wenn wir die Architektur der Duma verändern, kann das dann auch unser Land verändern?
 
Eher die Atmosphäre der Debatten: Sie ziehen in ein neues Haus um, und dadurch wird Ihr Leben anders organisiert. Selbst, wenn die Veränderung nur darin besteht, dass Sie in diesem neuen Haus am Fenster sitzen können, während Sie morgens Kaffee trinken, kann diese Umgestaltung sehr viele andere nach sich ziehen. Deswegen werden ja auch neue Bürogebäude gebaut: damit eine neue Atmosphäre entsteht.
Eine Veränderung in der Architektur eines Parlaments würde auf jeden Fall einen Wandel bewirken, aber ob sie gleich die ganze politische Kultur entscheidend beeinflusst … das glaube ich nicht. Allerdings kann eine im Resultat solcher Veränderungen entstehende Instabilität zu etwas Neuem führen.

Wenigstens würden in unserer Duma weniger Leute schlafen – und es könnten sich endlich alle gegenseitig sehen.
 
Ich kann eine Anekdote zu diesem Thema erzählen: Viele europäische Parlamente werden gerade umgebaut – sie befinden sich in Gebäuden, die im besten Fall im siebzehnten Jahrhundert errichtet wurden. Damit es seine Arbeit während der Renovierungsarbeiten nicht unterbrechen muss, wird das Parlament während dieser zeitlich begrenzten Umbauarbeiten ausgelagert, und es ist erstaunlich, dass am neuen Ort die Ausstattung der alten Säle bis ins kleinste Detail nachempfunden wird. Das unterstützt meine Hypothese, dass die Architektur eine politische Struktur in sich aufnimmt: Sobald man beginnt, etwas zu ändern, destabilisiert sich diese Struktur, und Politikerinnen und Politiker versuchen sie mit allen nur möglichen Mitteln zu erhalten.

Whitestore. Ein Vitaminshop in Amsterdam mit einer Fläche von 50 Quadratmetern. Whitestore. Ein Vitaminshop in Amsterdam mit einer Fläche von 50 Quadratmetern. | www.x-m-l.org/ Man sieht bei uns – selbst in neuen Gebäuden, in denen sich Regierungsstrukturen befinden – oft alte Teppiche. Was meinen Sie, was sollte man da machen: den Leuten, metaphorisch gesagt, den Teppich unter den Füßen wegziehen?
 
Oder darüber nachdenken, was dieser Teppich symbolisiert und wie man seine Bedeutung erhalten, aber in einer moderneren Form damit arbeiten kann. Wie das zum Beispiel im neuen Gebäude des Museums Garage gemacht worden ist: Die Details des alten Restaurants wurden beibehalten, jedoch dem Ganzen eine neue Struktur gegeben, die ihm auch einen neuen Sinn verleiht.

Und was die Parlamentsgebäude betrifft – wir haben ja 193 Gebäude in der ganzen Welt analysiert – war es für uns eine erstaunliche Entdeckung, dass zwar jedes von ihnen sich für einzigartig hielt, im Grunde genommen aber nur fünf verschiedene Typen auszumachen sind: Entweder sind die Bänke einander gegenüber, im Halbkreis oder in Hufeisenform ausgerichtet. Und dann gibt es noch eine Hybridform der ersten beiden Typen, den Kreis, und die „Schulform“, in der alle dasitzen und zum Lehrer hinschauen, so wie in Ihrer Duma.

All diese Typologien hat man im 19. Jahrhundert entwickelt – und seitdem nicht mehr verändert. Aber heute, so kommt es mir jedenfalls vor, sind diese Strukturen offener geworden, und Architektinnen und Architekten können an ihrer Veränderung mitwirken. Die Architektur vereint viele gemeinsame Kräfte: wirtschaftliche, politische und so weiter. Es kann eine nicht ganz einfache Aufgabe sein, dieses Experiment zu wagen, kollektiv genutztem Raum einen neuen Sinn zu verleihen.
 
Gibt es für Architektinnen und Architekten Regeln für den Aufbau einer Demokratie?
 
Ich glaube, dass es unmöglich ist, hier einen klaren, geraden Fahrplan zu entwerfen. Die politische Kultur eines jeden Landes besteht aus sehr spezifischen Komponenten. Ja, wir haben zwar fünf Typen von Parlamenten, doch diese sind mit unterschiedlichen Symbolen aufgeladen. Wenn Sie mich fragen, wie man die Architektur eines Gebäudes gesetzgebender Organe umdeuten könnte, dann schlage ich Ihnen vor, es nicht zu groß und flexibel zu machen, damit man es an verschiedene Situationen anpassen kann.
 
In Europa wurden Parlamente wie Häuser für die Regierungseliten gebaut – und in gewisser Weise wirkten sie wie Theater. Aber je komplizierter die Politik wird, desto mehr verkomplizierten sich auch diese Gebäude, und in ihnen entstehen neue Räumlichkeiten für unterschiedliche Formen von Zusammenkünften.
 
Es wäre interessant, einen flexiblen Raum zu entwerfen, der sowohl für Plenarsitzungen als auch für kleinere Treffen geeignet ist. Wichtig wäre auch, darüber nachzudenken, wie notwendig es eigentlich ist, sich immer am selben Ort zu treffen – die Gründung eines „mobilen Parlaments“ könnte aber ebenfalls das Konzept der Macht destabilisieren.
Das neue Interieur eines der Sitzungssäle im Europarat. Das Projekt wurde 2016 umgesetzt und ist das Ergebnis langer Überlegungen von Architektinnen und Architekten dahingehend, wie ein Parlamentssaal in einer demokratischen Welt aussehen müsse: Ein wandelbarer Raum aus 28 einzelnen Möbelstücken (also der Anzahl der europäischen Länder) kann für kleinere Sitzungen genauso genutzt werden wie für Vollversammlungen.

Das neue Interieur eines der Sitzungssäle im Europarat Das neue Interieur eines der Sitzungssäle im Europarat | www.x-m-l.org/ Wie kam es dazu, dass Sie eine Reihe politischer Projekte realisiert haben – etwa den Entwurf des UN-Gebäudes in Bonn und den Sitzungssaal im Europarat?
 
Architektur ist für uns ein Ansatz, auf die Welt zu blicken, der sich in unterschiedlichen Formen ausdrücken kann. Manchmal sind das Gebäude, manchmal Ausstellungen oder Bücher. Es ist für uns interessant, uns darüber Gedanken zu machen, welche Kräfte die Architektur heute prägen, was es heißt, heute zu leben, und in welcher Form wir das tun können.

Mir scheint, dass wir in einer Welt leben, in der die Politik plötzlich sehr wichtig geworden ist – und darum ist in unseren Projekten die Politik auch so präsent. Doch wir arbeiten nicht nur mit der UN oder mit dem Europarat, wir bauen auch Nachtclubs oder projektieren neue Geschäfte. Uns interessiert, wie Architektur neue Räume erschließen kann, in denen Menschen miteinander interagieren.

Sie haben gesagt, dass die Politik in unserer Zeit sehr wichtig geworden ist und dass man sie nicht ignorieren darf. Aber ist denn die Beziehung zwischen Architektur und Politik nicht ein seit Ewigkeiten thematisiertes Problem?
 
Schon, aber in den 1990er-Jahren hatten viele Leute das Ende der Geschichte und das Ende der Marktwirtschaft kommen gesehen. Ich glaube, dass wir heute in einer anderen Ära leben und dass das Gespräch darüber, wie man anders auf die Gesellschaft blicken kann, heute so aktiv geführt wird wie nie.

Entwurf des UN-Gebäudes in Bonn. Die Fassade ist so gestaltet, dass sie die ersten Sonnenstrahlen widerspiegelt und sich im Sommer nicht aufheizt, und der kleine Garten vereint symbolisch alle Länder: Jede/r Delegierte soll hier nach dem Plan des Architekten-Teams eine eigene Pflanze einsetzen. Entwurf des UN-Gebäudes in Bonn. Die Fassade ist so gestaltet, dass sie die ersten Sonnenstrahlen widerspiegelt und sich im Sommer nicht aufheizt, und der kleine Garten vereint symbolisch alle Länder: Jede/r Delegierte soll hier nach dem Plan des Architekten-Teams eine eigene Pflanze einsetzen. | www.x-m-l.org/ Für Ihr Buch über das Parlament haben Sie Ihre Studie ganze fünf Jahre laufen lassen – welche Umstände haben es Ihnen erlaubt, ein so langes Forschungsprojekt durchzuführen, und wie hat es Sie verändert?
 
Die pragmatische Antwort ist die, dass es uns gelungen war, Stiftungen davon zu überzeugen, uns zu unterstützen. Und das Projekt selbst bestand aus verschiedenen Teilen – Workshops mit Studierenden, der Teilnahme an der XIV. Architektur-Biennale und einer Reise durch Dutzende Länder, um uns anzusehen, wie die Parlamente auf der ganzen Welt gebaut sind und wie sie funktionieren.

Unser Traum ist es nun, ein Parlamentsgebäude zu bauen. Das wäre ein wunderbarer Abschluss für unser Buch. Aber wir haben während dieser Studie auch für uns viel mitgenommen: wie Menschen miteinander interagieren, und wie die Architektur sie dabei beeinflusst. Das Parlament ist ein Extrembeispiel, doch es versinnbildlicht de facto eine universelle Auseinandersetzung damit, wie öffentlicher Raum gestaltet werden kann.
 
David Mulder van der Vegt reiste für die Teilnahme an der Diskussion „Architektur und Freiheit“, die gemeinsam von der Friedrich-Naumann-Stiftung, dem Goethe-Institut Moskau und der Architekturschule MARCH organisiert wurde, nach Moskau.
 

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