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Interview mit Tatiana Zborovskaya
„Wenn ich an einem Werk arbeite, nehme ich immer mich selbst als Maßstab“

Tatiana Zborovskaya und Rüdiger Bolz
© Merck

Von Tatjana Socharjewa

2018 erhielt die Übersetzerin Tatiana Zborovskaya einen Goethe-Förderpreis. Im Interview berichtet sie, wie sich die Rolle von Übersetzerinnen und Übersetzern sowie professionelle Standards ändern – und von der Beziehung zum Self-Publishing in Russland und Deutschland.

Heute beschäftigt viele die Frage, wie man eine gute Übersetzung von einer schlechten unterschieden kann. Haben Sie den Eindruck, dass die Figur des/der Übersetzer*in im öffentlichen Raum stärker in Erscheinung tritt?
 
Ehrlich gesagt ist mir die Theorie des Übersetzens in ihrer klassischen Form fern. Ich habe sogar einen Artikel vorgelegt, der sich mit dieser Frage auseinandersetzt – er heißt Drei Probleme des Übersetzens – Zeit, Geld und Geschwafel. Es ist nämlich so, dass die Probleme des/der Übersetzer*in sich in der Realität nur sehr selten auf die Suche nach Synonymen für das eine oder andere Wort beschränken. Übersetzer*innen sind in der gegenwärtigen Welt Rundumtalente. Jeden Tag denken sie darüber nach, wie man eine maximale Anzahl an Aufträgen mit einer minimalen Menge an Freizeit vereinbaren kann, ohne dass die Qualität leidet. Im Vertrag mit dem Verlag ist immer festgelegt, wie lange der/die Übersetzer*in am Buch arbeiten soll – sagen wir, drei Monate. In der Realität geht aber diese ganze Zeit für die hauptsächliche Arbeit drauf und man nimmt weitere kleinere Aufträge an, um wenigstens auf die 35.000 Rubel im Monat zu kommen, die auch das Kassenpersonal eines Supermarktes bekommt. Übersetzer*innen der älteren Generation können es sich erlauben, unter normalen professionellen Standards zu leben und ein Buch im Jahr herauszubringen, nicht zwölf, wie das bei mir der Fall ist. Für mich war es immer ein Geheimnis, wie die Leute ihr Geld verdienen – wahrscheinlich habe ich mich deshalb für einen künstlerischen Beruf entschieden.
 
Verfolgen Sie die übersetzerischen Neuerscheinungen und die vielzähligen Diskussionen, die in sozialen Netzwerken geführt werden?

Merk_Pokal © Merk Ich versuche, mich nicht in diese Diskussionen einzumischen. In den letzten drei Jahren habe ich ausschließlich Deutschsprachiges gelesen und schaffe es nicht, zu verfolgen, was in der Welt übersetzter Literatur außerhalb der Grenzen meines Tätigkeitsbereichs passiert. Übersetzer*innen leben in der Regel in einem Kastensystem ihrer Erstsprache: wenn du zur Kohorte der Germanist*innen gehörst, dann wird das auch deinen Kompetenzbereich definieren.
 
Sollte man als Übersetzer*in eine eigene Kreativstrategie verfolgen?
 
Ich kann nichts über die Kolleg*innen sagen, die mit anderen Sprachen arbeiten, aber unter Germanist*innen gibt es eine eigene Strategie. Es gibt zum Beispiel Alexander Filippow-Tschechow. Er hat einen Verlag gegründet und betreibt den mit voller Energie – er übersetzt und publiziert die Bücher in den Versionen, die er für richtig hält. Ich kann mir vorstellen, welche Kraft es ihn kosten muss, diesen Berg zu versetzen. Aus dieser Perspektive sieht das Ganze wirklich aus wie ein Traumberuf, doch leider können es sich eben längst nicht alle leisten, in einem solchen Rhythmus zu arbeiten. Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Weg alleine bewältigen könnte. Meine Lebensumstände zwingen mich dazu, viel zu arbeiten, deswegen habe ich nicht die Möglichkeit, mich in einen Verlag zu verwandeln, aber ich beneide solche Leute auf eine gute Art und wünsche ihnen allen Erfolg. Es wäre toll, wenn in Russland mehr Fonds und staatliche Programme entstünden, die solche Initiativen unterstützen.
 
Einer der häufigsten Vorwürfe gegenüber Übersetzer*innen sind Abweichungen vom Original. Was meinen Sie – wo endet die Freiheit der Interpretation?
 
Alles hängt von der Qualität des Originaltextes ab. Wenn ich an einem Werk arbeite, nehme ich immer mich selbst als Maßstab – der entstandene Text soll für mich als russische Muttersprachlerin verständlich und angenehm zu lesen sein. Wenn es in ihm offensichtliche Mankos gibt, dann wird sich niemand damit auseinandersetzen, was im Original steht – schuld ist der/die Übersetzer*in. Deswegen ist die Situation, dass der/die Lektor*in gemeinsam mit dem/der Übersetzer*in Unschärfen des Originals eliminiert, welche die Autorenintention nicht entstellen, total normal. Aber es gibt auch Fälle, in denen dem/der Herausgeber*in einzelne Episoden oder Aussagen im Buch nicht gefallen, die er/sie unzumutbar findet und fordert, dass sie entfernt werden sollen. Wenn es der Autorenintention widerspricht, lasse ich mich nie auf so etwas ein – außer, der/die Autor*in selbst gibt das Einverständnis, etwas zu kürzen oder umzuschreiben. Solche Probleme treten am häufigsten in Verbindung mit dem russischen Jugendschutzgesetz auf. Die Deutschen schreiben viel über soziale Probleme, und solche Bücher fallen bei uns in der Regel unter die Kategorie „Ab 16 freigegeben“ oder „Ab 18 freigegeben“, gedacht waren sie aber für ein Lesealter von 12 Jahren. Einerseits verstehe ich den Wunsch des Verlags, das Buch um jeden Preis herauszubringen, doch andererseits kommt es dann zu Auslassungen, auf die man leider nicht eingehen kann, weil der/die Autor*in genau das gesagt hat, was er/sie sagen wollte.
 
Inwieweit sind deutsche Autor*innen offen für einen Dialog mit Kindern? Werden oft so komplizierten Themen in Büchern aufgeworfen?

 
Die Deutschen meinen, dass man vor Kindern nichts verbergen sollte, und mir scheint, dass sie das ganz richtig machen. Wenn ein Buch Kindern nichts von irgendwelchen strittigen Dingen erzählen darf, dann erfahren sie diese ohnehin aus einer anderen, weniger vertrauenswürdigen Quelle. Deswegen sind deutschen Autor*innen Tabus fremd. Sie verstehen Kinderliteratur überhaupt nicht als irgendeine besondere Strömung mit eigenen Grenzen: sie schreiben über das Leben, und im Leben kann ja alles Mögliche passieren. Sie würden es auch nicht verstehen, wenn in Kinderbüchern irgendwelche idealen Menschen auftauchen würden, die denen, die wir jeden Tag zu Gesicht bekommen, nicht ähneln. Die Deutschen wollen ihre Kinder so großziehen, dass diese die reale Welt ohne Probleme interpretieren können.
 
Mussten Sie schon einmal ein Buch ablehnen?

 
Ablehnen nicht, aber ich hatte einen Fall, in dem mein Buch von sieben unterschiedlichen Lektor*innen betreut wurde. Mit den ersten sechs gelang es uns gemeinsam, den Verlag zu überzeugen, dass seine Wünsche dem Text des Originals nicht entsprachen. Der siebte hat es verstanden, meine Arbeit und die Forderungen des Verlags wie durch ein Wunder auf eine Art arithmetisches Mittel zu bringen, das die Vorzüge des Originals nicht schmälerte. Die Geschichte endete dann damit, dass diesem Lektor angeboten wurde, die Serie weiter zu übersetzen. Einerseits war das kränkend, weil der Autor gut ist, und andererseits weiß ich sehr gut, dass eine solche Zusammenarbeit nichts für mich ist. In unserer Realität haben Übersetzer*innen oft mit – nach westlichen Maßstäben – sehr seltsamen Arbeitsbedingungen zu kämpfen. In jedem Vertrag ist festgehalten, was ich alles machen muss, mir aber ist man außer dem Honorar nichts schuldig. Wenn das Buch zum Beispiel verfilmt wird, hat das mit mir überhaupt nichts zu tun – obwohl man ja meinen sollte, es sei mein Text und die Schauspieler*innen auf dem Bildschirm sprächen meine Worte. Aber selbst wenn der Film eine neue Harry Potter-Saga wird, dann geht dieses Ereignis an mir vorbei, weil es beim Film schon wieder andere Leute gibt, die auch verdienen wollen – Drehbuchautor*innen, Produzent*innen. In Europa bekommt der/die Übersetzer*in Tantiemen, bei uns aber nicht.
 
Viele Übersetzer*innen meinen, dass man ein Buch erst unbedingt ganz gelesen haben muss, bevor man sich an die Übersetzung machen darf. Welche Herangehensweise haben Sie?
 
Tatiana Sborowskaja © Natalia Charitonowa Ich lese Bücher längst nicht immer zu Ende, weil es mir beim Übersetzen wichtig ist, die Begeisterung zu übertragen, mit der ich mir das eine oder andere Werk erschließe. Ich finde schneller die richtigen Worte, wenn das Buch mich in seinen Bann zieht. Wenn ich irgendein Fragment schon fünf Mal gelesen habe und weiß, wie alles enden wird, wird vermutlich keinerlei Drive entstehen. Ich will diese emotionale Komponente nicht verlieren. Aber bei Kinder- und Jugendbüchern muss man unbedingt erst einmal alles bis zum Ende lesen, um herauszufinden, ob nichts davon im Widerspruch mit unserer Gesetzgebung steht. Sehr oft taucht auf der vorletzten Seite eines mehrbändigen Werks doch noch etwas auf, weswegen dieses Buch für immer ein Manuskript bleiben wird.
 
Gibt es heute einen Bedarf an Übersetzungen von Amateur*innen? Ist es in diesem Bereich möglich, eine Entdeckung zu machen?
 
Ja natürlich, man stößt da zweifellos auf hochwertige Texte. Wenn jemanden ein Buch so stark interessiert hat, dass er/sie sich hinsetzt und es übersetzt, dann heißt das, dass sich auf jeden Fall auch interessierte Leser*innen finden werden. Das Problem ist allerdings, dass die Interessen der Verlage nicht immer mit den Interessen der Übersetzer*innen übereinstimmen, gerade in Russland, wo es den Beruf Literaturagent*in nicht gibt – mit wenigen Ausnahmen. Deswegen erscheinen viele Texte im Self-Publishing. Wenn man nach der Frankfurter Buchmesse geht, dann schauen Verlage in Europa immer öfter in die Richtung qualitativ hochwertiger Self-Publishing-Literatur. In diesem Bereich gibt es spezielle Preise, er wird als sehr interessant und perspektivreich angesehen. Bei uns liest ja in der Regel niemand das, was im Self-Publishing herauskommt, außer der/die Autor*in und dessen/deren Freunde. Obwohl der Self-Publishing noch in der Mitte der Nullerjahre ein anderer war – marginal, aber qualitativ hochwertig. Er stellte sich dem Mainstream entgegen. Das waren winzige Verlage, die eine klare Strategie fuhren und hochwertige Texte aufspürten. In der letzten Zeit ist, wie mir scheint, die Qualität des Self-Publishing in Russland stark gesunken. Und ich kann das noch nicht einmal damit in Verbindung bringen, dass sich der Self-Publishing kommerzialisiert. Wenn er sich wirklich kommerzialisiert hätte, würde ihn jemand kaufen, aber bisher gehen alle in Makulatur. Ich hoffe, dass Anbieter wie Ridero die Situation verändern werden und der digitale Self-Publishing sich wieder verbessert.
 
Wie steht es um die Übersetzung russischer Literatur in die deutsche Sprache?
Preisverleihung 2018. Rüdiger Freiherr von Fritsch - Botschafter Deutschlands in Russland © Merck Die Deutschen übersetzen sehr viel – in erster Linie Klassiker. Anna Karenina zum Beispiel ist in Deutschland vor kurzem in der 21. Übersetzungsversion erschienen. Das heißt nicht, dass alle vorangegangenen schlecht waren, sondern dass sich das Buch großer Beliebtheit erfreut. Und auch, dass die Deutschen wohl zumindest einige dieser zwanzig Übersetzungen gelesen sowie die Möglichkeit und den Wunsch haben, zu vergleichen. Das fehlt dem russischen Lesepublikum manchmal, denn wenn bei uns zum Beispiel eine neue Übersetzung von Thomas Mann erscheint, dann werden höchstwahrscheinlich unter ihren Leser*innen nur wenige sein, die die vorherige Version ebenfalls gelesen haben. Die Deutschen lesen Tolstoi und Dostojewskij, sie lieben Turgenjew, aber verlieren das aktive Interesse an der russischen Literatur etwa beim Übergang zum Jahr 1917. Nach der Revolution gibt es einen Schnitt – an der Peripherie des Interesses der Leser*innen geistern nur noch Bulgakow und der bei uns völlig in Vergessenheit geratene Gaito Gasdanow umher. Manchmal taucht dann noch etwas auf, womit man gar nicht rechnet – zum Beispiel Iliazd, der in Deutschland in erster Linie als Schriftsteller wahrgenommen wird, nicht als Buchkünstler. Scholochow und Solschenizyn werden gelesen, aber nach ihnen entsteht wiederum eine Lücke.

Die nächstfolgende Generation an Autor*innen, die in Deutschland aktiv übersetzt werden, sind Sorokin, Schischkin, Ulitzkaja, kurz: die intellektuelle Prosa. Dabei werden für uns so naheliegende Autor*innen wie die Brüder Strugazkij so gut wie gar nicht übersetzt. Es gibt nur ein paar Bände, und praktisch niemand kennt sie. Oft ist von Autor*innen etwa gleichen Niveaus nur eine/r bekannt: zum Beispiel kennen alle Ulitzkaja, aber Dina Rubina habe ich noch kein einziges Mal in einem Buchladen gesehen. Im Verkauf kann man Alexandra Marinina und Polina Daschkowa finden, aber nicht Darja Donzowa. Vor zwei, drei Jahren wurde Teffi herausgegeben – ein dünnes Büchlein nur, für besondere Fans gedacht, doch es wurde eben herausgegeben. Die Deutschen übersetzen viel, allerdings fällt ihre Wahl nicht immer mit unseren Vorstellungen davon zusammen, welche russischen Bücher man in erster Linie lesen sollte. Unter den deutschen Übersetzer*innen gibt es absolute Stars – das sind Rosemarie Tietze, Andreas Tretner, Dorothea Trottenberg, das war Swetlana Geier. Allein ihre Namen fungieren als institutionelle Empfehlung, und ich würde mir sehr wünschen, dass unsere Übersetzer*innen, die in der Regel niemand kennt, auch irgendwann dieses Niveau erreichen.

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