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Literatur
Die Frankfurter Rechnung

Arts+ Telekom auf Frankfurter Buchmesse 2019
© Frankfurter Buchmesse/ Andy Kania

Im Oktober hat in Deutschland bereits zum 71. Mal in Folge die Frankfurter Buchmesse stattgefunden. Buch- und Reiseliebhaber Viktor Zatsepin teilt seine Eindrücke vom größten Kulturevent der Welt mit uns und zieht Bilanz.  
 

Von Viktor Zatsepin

Ein Besuch auf der Frankfurter Buchmesse ist ein wunderbares Abenteuer für jeden neugierigen Touristen und Bücherfreund. Stellt euch sechs Pavillons vor, jeden davon mit zwei, drei Etagen, jede Etage in den Ausmaßen eines salonfähigen Fußballstadions und im Inneren gefüllt mit einer kaum zu überblickenden Anzahl an Ständen mit Büchern, von denen meist nur ein einziges Exemplar vorhanden ist. Jahr für Jahr werden die Messekataloge dicker; aktuell zieht die Veranstaltung, die einmal in eine kleine städtische Kirche hineinpasste, fast die komplette Welt des Buches an. Hier kann man Verlage aus allen Ländern – buchstäblich von A bis Z – finden, und unter den Aussteller*innen dieses Jahres war selbst ein internationaler Verein für Roma-Literatur vertreten.  

Erst meint man, dass der hier angebotene kulturelle Reichtum jede nur denkbare Nachfrage übertreffen müsse. Doch wenig später wird einem klar, dass die Messe die Zerrissenheit der modernen Welt gerade aufgrund ihres so vielfältigen Programms erfolgreich überwindet und uns das, was durch die aggressiven Neuen Medien scheinbar auf immer in kleine Trümmer zersplittert wurde, als ein vollständiges Bild zurückgibt. Jede/r Besucher*in mit noch so komplexer Interessenslage verlässt die Messe mit dem Gefühl, dass sie ihm auf eine positive Weise den Kopf verdreht hat. Ein wichtiges Signal der Zeit war in diesem Jahr die Tatsache, dass einer der Messepavillons ausschließlich Hörbüchern und Podcasts vorbehalten war – womöglich stehen uns neue „Tage des Radios“ bevor?
Norwegen auf Frankfurter Buchmesse © Frankfurter Buchmesse 2019 war Norwegen Ehrengast der Buchmesse. Von dort reisten mehr als hundert Autor*innen und künstlerische Illustrator*innen an (und die Bevölkerung des Landes beträgt nur etwas mehr als fünf Millionen Menschen), jährlich werden mehr als 500 (!) norwegische Bücher ins Deutsche übersetzt (darunter sind mehr als 200 Neuübersetzungen). Auf der Messe fand auch die Präsentation eines neuen Krimis des berühmten Jo Nesbø statt. Außerdem klinkten sich städtische Museen in den Dialog mit ein: Im Fotografie Forum fand eine Ausstellung norwegischer Fotografie statt, im Deutschen Filminstitut die Woche des norwegischen Films. Alle diese Veranstaltungen würden einzeln genommen vielleicht gar kein so großes Publikum anziehen, doch im Ergebnis einer gemeinsamen und sehr gut aufeinander eingespielten kulturellen Willkommensarbeit entsteht Jahr für Jahr der Eindruck eines großformatigen Buchfests mit authentischer kulturellen Offenheit.

Aber auch die deutschsprachigen Präsentationen standen auf der Messe nicht im Hintergrund: der ehrwürdige Historiker Heinrich August Winkler stellte sein neues Buch „Werte und Mächte. Eine Geschichte der westlichen Welt“ vor und Daniel Kehlmann, eines der großen Talente der deutschen Gegenwartsliteratur, wurde 2019 durch einen Sammelband mit vier seiner Stücke gefeiert. Sein jüngster Roman „Tyll“ wurde bereits ins Englische übersetzt und von Salman Rushdie höchstpersönlich gelobt. Und zu Ehren des kürzlich mit dem Nobelpreis geehrten Peter Handke holten die Verlage schnell seine Bücher auf den Ladentisch, in denen er sich als sehr vielseitiger Autor präsentiert – außer den allgemein anerkannten Romanen sind aus seiner Feder noch ein Band mit Zeichnungen (der in diesem Jahr vom bekannten Kunstverlag Schirmer/Mosel mit einem Vorwort von Giorgio Agamben herausgegeben wurde), Drehbücher, Reiseliteratur und selbst ein stummes Theaterstück entstanden. Einige Spalten der Messeausgabe von Die Zeit wurden mit der Bedeutung Handkes und seiner Leistungen gefüllt, und außerdem wurde eine Zusammenfassung von Gesprächen mit ihm abgedruckt. Er bevorzugte dieses Format des Austauschs mit den Journalist*innen von Die Zeit, was er damit erklärte, dass so ein weitaus interessanteres Ergebnis entstünde. Auch lehnte er ein Gegenlesen von Artikeln vor ihrer Veröffentlichung ab (was wohl auch mit seinem Charakter als Schriftsteller zu erklären ist). An einem der Messetage präsentierte Wim Wenders, der bekannte Regisseur, Co-Autor von „Himmel über Berlin“ und guter Freund und Mitarbeiter Handkes, im Deutschen Filminstitut einen der Filme, bei dem Handke selbst Regie geführt hatte: „Die linkshändige Frau“ (1978). Der Regisseur, der vier Spielfilme gedreht hat, ist eine weitere Hypostase des Nobelpreisträgers, die in Russland nicht sehr bekannt ist.

Es macht keinen Sinn, darüber nachzusinnieren, inwiefern sich der russische und der deutsche Buchmarkt in Bezug auf Sättigungsgrad und Tendenzen unterscheiden. Ewig aktuell bleibt das Ziel der Buchmesse und auch aller Lesender: das Ankämpfen gegen die Fülle des Angebots. Dieser Auftrag vereint alle Lesefreund*innen, ganz unabhängig davon, wo sie zu Hause sind. Business ist nur ein Bestandteil der Messe; nicht weniger wichtig ist auch der unterhaltsame Teil (zum Beispiel das hier regelmäßig stattfindende Cosplay-Festival). Aber das Allerwichtigste sind die jeden Oktober aus allen Ecken der Welt anreisenden Menschen, die selbst neugierig sind und es außerdem vermögen, die Neugierde anderer zu wecken. Und darum bleibt die Frankfurter Buchmesse eines der Referenzereignisse auf dem Buchmarkt und eine paradoxe Reise durch verschiedene Länder, die man im Rahmen von ein, zwei Tagen unternehmen kann, ohne die Messepavillons auch nur zu verlassen. Um den Maßstab dieses kolossalen Buch-Panoramas und das hohe Niveau an Professionalismus zu verdeutlichen, der die Messe gegenüber der übrigen Buch-Welt auszeichnet, sind wohl ein paar Zeilen von Johann Wolfgang von Goethe am besten geeignet:
 
Und wie wir auch durch ferne Lande zieh‘n,
Da kommt es her, da kehrt es wieder hin;
Wir wenden uns, wie auch die Welt entzücke,
Der Enge zu, die uns allein beglücke.

Fragen an Tatjana Sborowskaja, Übersetzerin und Teilnehmerin an der Buchmesse 2019

Tatiana Sborowskaja © Natalia Charitonowa Erzählen Sie bitte, was Ihnen von der Frankfurter Buchmesse 2019 am stärksten in Erinnerung geblieben ist.

Mit jedem Jahr erstaunt mich die Frankfurter Betriebsamkeit weniger, sie bekommt immer mehr den Status eines ganz normalen Arbeitsumfelds. Die Buchmesse 2019 ist mir insofern im Gedächtnis geblieben, dass ich es in diesem Jahr geschafft habe, gleich bei zwei für mich wichtigen Ereignissen dabei zu sein: der Verleihung des Deutschen Buchpreises an Saša Stanišić (einen Autor, auf den ich gern nochmals die Aufmerksamkeit russischer Verlage lenken würde) und die Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises mit einer ganzen Reihe an interessanten Nominierten und Preisträger*innen.

In der Regel schaffe ich es nicht, das ganze Ausmaß der Buchmesse abzulaufen, und so konzentrierte sich meine Aufmerksamkeit auf einen ganz konkreten Pavillon: in diesem Jahr war das Pavillon №3 mit deutschsprachiger Literatur. Nach Hause kam ich mit einem großen Stapel neuer Bücher neuer Autor*innen und einem Vorgeschmack auf Entdeckungen. Umso interessanter war es, auf Facebook die Berichte von Kolleg*innen zu verfolgen, die an anderen Schauplätzen unterwegs waren: da gab es Infos über den Veranstaltungsablauf im Pavillon des Gastlandes, den unsere Übersetzer*innen aus dem Norwegischen abdeckten, zu den Ereignissen am russischen Stand und dem Auftritt von Gusel Jachina, zum Flanieren durch Pavillon №4 für alle diejenigen, die sich am meisten für Kunst und die Kreativindustrie interessieren. Insgesamt hatte ich den Eindruck, dass in diesem Jahr auf der Messe mehr Teilnehmer*innen und professionelle Besucher*innen aus Russland vertreten waren, und vor allem: dass sie ganz unterschiedlich waren. Das ist doch sehr erfreulich. Es gab viele bekannte Gesichter und nette Treffen.  
 
Wie genau hilft Ihnen die Buchmesse bei Ihrer Arbeit, und welche Verlagstechnologien könnte man Ihrer Meinung nach leicht (oder nur schwer, aber es würde sich lohnen) auf die russische Praxis übertragen?


Es ist nicht nur so, dass die Messe mir bei meiner Arbeit hilft, weil sie es mir erlaubt, bezüglich der deutschen Buchveröffentlichungen auf dem Laufenden zu bleiben, in kurzer Zeit die herausstehendsten Autor*innen zu sehen und ihre Werke durchzublättern – auch wir helfen der Buchmesse. Ich arbeite am Buchinformationszentrum in Moskau, der Repräsentanz der Frankfurter Buchmesse in Russland: wir bieten nicht nur organisatorische Unterstützung für den Besuch der Messe, sondern rezensieren auch die besten Neuerscheinungen, empfehlen sie Verlagen, stellen thematische Sammlungen von Büchern in ganz Russland vor und veranstalten jährlich eine Verlagsschule für Erfahrungsaustausch. Übersetzer*innen werden für diese Tätigkeiten durchgehend gebraucht. Außerdem wurde in diesem Jahr zum ersten Mal explizit ein Praktikumsprogramm für Übersetzer*innen ausgeschrieben, an dem ich das Glück hatte, als eine der Ersten teilzunehmen: Vertreter*innen der führenden deutschsprachigen Verlage sind zu uns gekommen und haben uns ihr Programm vorgestellt; wir hatten die Möglichkeit, zu berichten, an welchen Werken wir gerade arbeiten und in der letzten Zeit gearbeitet haben, zu bewerten, wer von unseren Autor*innen in welchen Ländern gefragt wäre und auch Autor*innen vorzustellen, die die Kolleg*innen noch nicht kannten; allein das Namensschild mit dem Zusatz „Praktikantin Frankfurter Buchmesse“ erleichterte es in vielerlei Hinsicht, mit den Verlagen in Kontakt zu treten.

Meiner Ansicht nach ist es gerade ein solches System der Unterstützung für Übersetzer*innen, das der hiesigen Verlagsszene für den erfolgreichen Sprung auf den internationalen Buchmarkt fehlt. Die Deutschen appellieren schon seit langem an Vertreter*innen unseres Berufs als Enthusiast*innen, die ihre Autor*innen selbst in die Verlage bringen und sie diesen aktiv anbieten. Aber dafür müssen nicht nur Übersetzungen finanziell unterstützt werden (davon profitieren in erster Linie die Verlage), sondern ausländischen Übersetzer*innen aus dem Russischen muss auch die Möglichkeit geboten werden, große Messen zu besuchen, sich mit Autor*innen und Verlagen zu treffen, ins Land zu kommen und an Forschungs- wie künstlerischen Residencies teilzunehmen – und damit ein Teil des hiesigen Literaturprozesses zu werden.  
Eröffnung Frankfurter Buchmesse 2019 © Frankfurter Buchmesse/ Bernd Hartung Beschreiben Sie bitte Ihre ungewöhnlichste (besonders inspirierende, unerwartete, beeindruckende...) Erfahrung auf der Frankfurter Buchmesse in diesem Jahr oder einem der vergangenen Jahre.  

Ich glaube, es entspricht der Wahrheit, wenn ich sage, dass wie auch bei vielen anderen der erste Besuch und das Bewusstsein über die Maßstäbe der ganzen Sache die beflügelndste Erfahrung war. Der Blick auf diese Stadien mit mehreren Etagen, die mit Büchern gefüllt sind, von denen die Mehrheit in nur einem einzigen Exemplar oder in geringer Anzahl vorhanden ist. Für eine Freelance-Übersetzerin ist die Reise nach Frankfurt ein sehr teures Vergnügen, und man muss eben einiges dafür tun, um sie sich erstens leisten zu können und zweitens den ganzen Rest des Jahres daran zu arbeiten, dass dieser Besuch sich in professioneller Hinsicht rechnet. Mit der Entstehung des Praktikums-Programms hat sich die Situation schon ein bisschen verbessert: 30-50 Übersetzer*innen aus unterschiedlichen Ländern dürfen die Messe kostenlos besuchen. Das ist zwar nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Und doch realisiert man zufrieden, dass mit jedem Jahr eine größere Anzahl beruflicher Kontakte aus der ganzen Welt einem im Herbst schreibt: „Wir sehen uns in Frankfurt!“. Die literarische Arbeit hat keine Außenseiterstellung mehr und wird zu einem Business, man beginnt, sich als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen, als ihr aktives und gefragtes Mitglied. Die Frankfurter Buchmesse gibt einem nicht nur das Gefühl, nach der Rückkehr selbst etwas verändern, bewegen und machen zu können, sondern sie gibt dir auch das nötige Wissen und die erforderlichen Instrumente mit. Und das ist inspirierend.
 
 

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