Schnelleinstieg:

Direkt zum Inhalt springen (Alt 1) Direkt zur Hauptnavigation springen (Alt 2)

Digitale in den Künsten
„Unsere Seelen kommen uns nicht mehr hinterher“

Eine Welt aus Codes: Besucher der Ausstellung „Open Codes. Leben in digitalen Welten“ des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe werden in einen digitalen Datenkörper transformiert.
Eine Welt aus Codes: Besucher der Ausstellung „Open Codes. Leben in digitalen Welten“ des ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe werden in einen digitalen Datenkörper transformiert. | © ZKM | Karlsruhe, Foto: Felix Grünschloß

Am 12. November hat das RBK Style gemeinsam mit dem Kunstraum „Kollektiv“ einen Public Talk veranstaltet, bei dem Expert*innen darüber diskutierten, wie moderne Technologien die Kunst beeinflussen, was uns diese Synthese Neues bringt und inwiefern sie wichtig, uneindeutig oder schwierig ist.
Podiumsteilnehmer*innen der Veranstaltung waren:
Fjodor Jeljutin, Theaterproduzent und Gründer von „Impressario“;
Darja Parchomenko, Kuratorin und Gründerin des unabhängigen Zentrums „Laboratoria Art & Science Space”;
Andriesh Gandabur, Musikproduzent und Medienkünstler;
Mischa Mischtschenko, Pianist, Komponist und Soundproducer;
Alisa Prudnikowa, Direktorin für regionale Entwicklung am Staatlichen Zentrum für Gegenwartskunst.
 
Euch erwarten im Folgenden die nicht gerade simplen Fragen von Jelina Tichonowa, der Moderatorin der Diskussion. Wir haben die Antworten aller Expert*innen sorgfältig protokolliert und daraus ein kleines Resümee zusammengestellt. Wir glauben, dass dieses die Möglichkeit eröffnet, besser zu verstehen, was gerade im Kulturbereich so vor sich geht.
 
 

Von Aljona Sojko

Moderne Technologien verändern die Kultur – und künstliche Intelligenz wird zu einer neuen künstlerischen Sprache

Wie haben digitale Technologien das Wesen der Kunst verändert? Und welche dieser Veränderungen ist Ihrer Meinung nach die bedeutendste?
 
Mischa Mischtschenko:
Ich denke, die Schnelligkeit. Erinnern Sie sich daran, dass Briefe früher einen Monat lang unterwegs waren. Heute sind sie das nur noch einen Bruchteil einer Sekunde. Oder wenn man die Musik nimmt: man kann jetzt über ein Orchester oder einen Chor verfügen, während man bei sich Zuhause sitzt. Beides hat den Prozess der Kreativität erweitert. Die Leute machen heute alles schneller – und so cool, dass ich Angst vor der Vorstellung habe, was in 15 Jahren los sein wird.
 
Andriesh Gandabur:
Die Entstehung technologischer Kunst – das ist das Erste, was ich festhalten möchte. Und eine zweite wichtige Beobachtung: Das Publikum hat begonnen, mit den Kunstschaffenden zu interagieren, es sind interaktive Ebenen entstanden.
 
Darja Parchomenko:
Für mich ist wichtig, dass der Prozess selbst in vielerlei Hinsicht zum Kunstwerk wird. Wir betreten nicht mehr wie früher das Atelier eines Künstlers oder einer Künstlerin, sondern kommen in Laboren zusammen, veranstalten Konferenzen und Symposien. Moderne Technologien eröffnen uns eine vollständig neue Perspektive auf die Fertigung des Endprodukts. Und hierbei werden auch die Zuschauer*innen mit einbezogen – ebenso wie eine Vielzahl unterschiedlicher anderer Teilnehmender.
 
Fjodor Jeljutin:
Drei Hashtags: da ist die Schnelligkeit. Aus der Schnelligkeit entspringt die Aufmerksamkeit. Und aus der Aufmerksamkeit die Interaktion. Ich muss zugeben, dass sich ein 30-minütiges Stück besser verkauft als ein zweistündiges. Es ist ja heute ziemlich schwierig, die Aufmerksamkeit eines Publikums für sich zu gewinnen, und jeder von uns kämpft auf seine eigene Weise um diese Aufmerksamkeit. Wir haben nur ein Leben, aber ausreichend Content für sechs. Da entsteht dieses „Fear of missing out“-Syndrom. Und zur Interaktion: Die Meinungen gehen hier auseinander. Die Leute wollen sonst auch endlich mal mit der Waffe schießen, die auf der Bühne hängt. 

Wie verändert sich durch die Entstehung künstlicher Intelligenz die Rolle der Kunstschaffenden?

Darja Parchomenko:
Bei Christie's wurde vor Kurzem ein Bild, das von einer künstlichen Intelligenz erschaffen worden war, praktisch für eine halbe Million Dollar verkauft: „Portrait of Edmond de Belamy“. Es wurde von einem Algorithmus gemalt. Der Anfangspreis lag nur bei etwa 7.000-10.000 Dollar. Aber dann trat ein Sammler auf, der sich bereit erklärte, diese Arbeit zu kaufen – und zwar zu einem hohen Preis. Und schon ging es los. Was spricht dagegen, ein solches Bild zu verkaufen? So nach dem Prinzip: Wenn wir das einmal machen, war das nicht das letzte Mal! Christie's hat dazu vor kurzem erklärt, den Handel mit Kunstwerken, die durch künstliche Intelligenz erschaffen wurden, einzustellen. Denn wie man es auch dreht und wendet: Autor des Bildes ist ja die Person, die den Algorithmus geschrieben hat.
Schlussendlich ist künstliche Intelligenz ein maschineller Lernprozess, ein Netzwerk, aber in keiner Weise der autonome Prozess eines Künstlers, einer Künstlerin oder einer Gruppe von Kunstschaffenden. Der Algorithmus hat keinen freien Willen. Und deswegen kann man alle dahingehend beruhigen, dass das, was Netzwerke produzieren, einfach eine neue künstlerische Sprache ist, die es Künstler*innen, Komponist*innen und Regisseur*innen erlaubt, Kunstwerke eines neuen Typs zu erschaffen. Noch stehen wir selbst über diesem Phänomen.
 
Andriesh Gandabur:
Es ist wie eine Art mechanisches Klavier: es spielt nicht von selbst. Sondern es spielt das, was wir hineingelegt haben.
 
Alisa Prudnikowa:
Ich war in diesem Jahr nicht auf dem Business Forum. Aber im letzten Jahr wurde dort der wunderbare Roboter Sofia vorgestellt. Und es hieß: schauen Sie mal, was für ein toller anthropomorpher Roboter. Er bekam sogar die Staatsbürgerschaft irgendeines Landes (Saudi-Arabien, Anm. d. Red.). Und er ist echt super. Aber er hat ein Problem mit Empathie. Das ist leider die Crux. Der Roboter Sophia hat keine Empathie.
 
Darja Parchomenko:
Die Kunstgruppe „Kuda begut sobaki“ („Wohin laufen die Hunde“) ist in der weltweiten Szene ein bisher nicht dagewesenes Phänomen. Ihr Niveau kann, was Konzeption und Production angeht, mit dem hochkarätiger Festivals mithalten. Und sie hat eine von vielen Seiten gelobte Arbeit geschaffen, „Osadok“ („Tiefgang“). Hier versuchen die Künstler*innen, Technologien zu humanisieren. Und zwar genau ebenjene Technologien, die viele von uns als unangenehm und gefährlich empfinden. Die Rolle des Künstlers oder der Künstlerin ist es, diese Technologien, die wir so ungern in unser Leben hineinlassen, quasi zu vermenschlichen.

Moderne Technologien in der Malerei

Im Louvre hat im Oktober eine Ausstellung zum 500-jährigen Jubiläum Da Vincis eröffnet. Die Mona Lisa wurde, während sie an ihrem Platz blieb, auf der Ausstellung unter Einsatz von Virtual Reality präsentiert. Machen solche Technologien und Gags Kunst zugänglicher? Oder unterwandern sie die Idee der Einmaligkeit eines Kunstwerks, seiner Einzigartigkeit?
 
Mischa Mischtschenko:

Meiner Meinung nach ist der Weg zur Kunst selbst sehr wichtig. Man kauft in Frankreich eine Eintrittskarte und steht mit unzähligen Touristen in der Schlange. Wie cool ist allein schon diese Reise zur Mona Lisa. Der Prozess selbst, der hin zum Objekt der Begierde führt, ist sehr bedeutend. Und dieser Weg – deswegen sprechen wir hier auch über Schnelligkeit – dieser Weg ist kürzer geworden. Die Konsequenz ist, dass die Schnelligkeit der Verringerung faktischer Distanz zur Kunst in Wirklichkeit die Distanz ihr gegenüber vergrößert. Dadurch wird sie gewissermaßen abgewertet…
 
Ist die aktuelle Ausstellung zum Leben erweckter Leinwände in St. Petersburg eine Attraktion oder ein erster Schritt auf dem Weg hin zum wahren Van Gogh?

 
Alisa Prudnikowa:
Das Grundproblem dieses Formats ist, dass es uns abgesehen von einem technologischen Effekt in der Regel nichts geben kann. Ok, man hat Ihnen diese Sonnenblume so nah gezeigt, dass Sie fast von dieser Nähe erdrückt wurden. Das macht Eindruck. Wenn Sie danach nach Hause gehe und die „Briefe an Theo“ oder etwas anderes in der Richtung aufschlagen, dann kann man sagen, dass es funktioniert hat. Aber ansonsten bleibt es ein Gag. Und es gibt eben Gags und es gibt Sinn. Ich bin nicht grundsätzlich gegen diese Form der Lebendigmachung von Leinwänden. Aber ich denke einfach, dass es eine Ausbeutung der Kunst ist, mit kommerziellen Zielen. Es steht nicht die Mission dahinter, Ihnen etwas näherzubringen. Diese Mission hat ein Museum, das mit einer Sammlung arbeitet, einen Klub junger Kunstwissenschaftler*innen ins Leben ruft, Bildungsprogramme ausarbeitet und zu Vorträgen einlädt. Das alles beschreibt eine verantwortungsvollere Position gegenüber der Kunst.

Moderne Technologien im Theater

Das Theater hat ein einzigartiges Charakteristikum: es lebt im Hier und Jetzt. Schon morgen wird es mit derselben Truppe und demselben Publikum etwas ganz anderes sein. Machen moderne Technologien diese Einzigartigkeit zunichte, ergänzen oder verkomplizieren sie sie?
 
Fjodor Jeljutin:
Es gibt da so ein Stück: Remote Moscow. Ganz ohne Darsteller*innen. Ich habe den Regisseur Stefan Kaegi zum Bahnhof begleitet, und er hat etwas zu mir gesagt: „No actors, no problem“. Und vor genau einem halben Jahr haben wir ein anderes Stück von ihm zu uns geholt: „Unheimliches Tal“. Worum geht es da? Auf der Bühne sitzt ein Roboter – die Kopie des gegenwärtig aktiven Dramaturgen Thomas Melle, der unter einer bipolaren Störung leidet. Und dieser Roboter erzählt uns seine Geschichte. Das Stück wurde nach einer entsprechenden Hypothese benannt.
Wir blicken also auf eine Art Maschine, auf einen Kühlschrank zum Beispiel, das ist normal, auf einen AIBO-Hund – ebenfalls kein Problem. Aber gegenüber einem Roboter, der einem Menschen sehr ähnlich ist, verspüren wir Abneigung, er ist uns unangenehm. Die Maschine mögen wir, aber dann kommt es zu einem tiefen Fall: Wir haben Angst. Und das ist eben das unheimliche Tal. Die Frage, die der Regisseur stellt, ist: Können die Leute mit unserem mechanischen kleinen Bruder dieses Tal überwinden? Das ist alles nicht ganz einfach.

Moderne Technologien, der Versuch, dem zu entkommen und digitale Unsterblichkeit

Sehr viele Dinge sind heute sehr viel einfacher und schneller gemacht worden. Daher rührt auch ein irrealer Informationsfluss. Was meinen Sie, sollte man dieser Entwicklung einen Riegel vorschieben?
 
Mischa Mischtschenko:
Zu diesem Riegel kann ich nur sagen – wer das möchte, kann ihn ja vorschieben. Ich höre oft von den Leuten: Ich will nur Klassik, nur Elektro oder nur Rock, nur Ambient. Ich verstehe, dass Menschen das Bedürfnis haben, sich von etwas abzugrenzen. Früher kam die Musik aus einer Art Zentrum, und das war riesig. Heute hat die gleiche Musik kleine Teilbereiche. Aktuell kann zum Beispiel jemand einen riesigen Saal mit 5000 Menschen füllen, und wir kennen ihn noch nicht mal. Vielleicht erkennen wir ihn, vielleicht aber auch nicht. Wir können machen, was wir wollen. Die Leute haben die Wahl. Alles passiert auf lokaler Ebene. Es ist so, als ob jeder in seiner eigenen kleinen Welt lebt.
 
Von Andriesh Gandabur ist das Projekt Escapism. Es wurde als Möglichkeit entworfen, sich von der Realität zu erholen. Bedeutet das, dass die modernen Technologien, die hierfür eingesetzt werden, uns die Erholung von ebenjenen Technologien erlauben? Das ist doch ein Paradox?
 
Andriesh Gandabur:
Nicht unbedingt. Schließlich überfrachten dich moderne Technologien nicht immer mit Informationen. Manchmal hypnotisieren sie auch einfach nur, und damit zieht man sich zum Beispiel für eine kurze Zeit aus der Analyse dieses Informationsflusses raus. Aber es ist schon so, dass viele Menschen moderne Technologien als Eskapismus einsetzen – um zu fliehen. Die gleichen Computerspiele. Sie helfen den Leuten einfach dabei, nicht auszubrennen. Ein riesiger prozentueller Bevölkerungsanteil sitzt abends da und spielt Panzerschlachten nach. Und es ist gut, dass es diese Panzer gibt. Am besten fände ich es, wenn die Ausstellung permanent an einem öffentlichen Ort zu sehen wäre. Wenn es einen Raum gäbe, zu dem man einfach hingehen kann. Wie zur „Erhaltung der Stille“ im Gorki Park. Schade, dass auch dieses Projekt zeitlich begrenzt war.
 
Es gibt in Petersburg ein Konzert mit Projektionen von Wiktor Zoi. Michael Jackson geht immer noch auf Welttournee. Geht es hier um digitale Unsterblichkeit? Oder um etwas anderes?

 
Mischa Mischtschenko:
Man könnte es als Verdienstmöglichkeit sehen, und zwar ausschließlich. Aber ich bin gerade mal in mich gegangen und habe festgestellt: ich würde nicht wollen, dass irgendwo mal so eine Form von Mischa Mischtschenko herumläuft.
 
Fjodor Jeljutin:

Es geht ja nicht bei allen Dingen nur um Monetarisierung.
 
P.S.
Alisa Prudnikowa:

Das Thema der Uraler Biennale ist in diesem Jahr Unsterblichkeit. Die Entscheidung für dieses Thema ist auf etwas ganz Grundlegendes zurückzuführen: Das grundlegende Defizit des heutigen Tages ist doch Zeit. Fjodor hat schon ausgeführt, wie wir alle um die Zeit der Zuschauer*innen kämpfen. Bei uns hat mal jemand die folgende Geschichte erzählt: Touristen aus Europa krabbeln über die Berge Südamerikas, angeführt von örtlichen Guides. Und die machen ständig irgendwo Stopps. Die Touristen finden das eigenartig, so nach dem Motto: Was soll denn das, warum gehen wir so langsam, lasst uns mal schneller machen, da ist doch schon der Berg. Daraufhin bekommen sie zu hören: „Wisst ihr, unsere Seelen kommen uns sonst nicht mehr hinterher.“ Ich finde, das ist eine ziemlich eindrückliche Form, unsere Diskussion zu charakterisieren.
 

Top