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Die Stadt von morgen
Die Architektur des sowjetischen Modernismus – was ist das?

Sowjetischer Modernismus
© Konstantin Antipin

Der architektonische Modernismus ist mehr als nur ein Stil: er ist ein umfassendes Phänomen, das in der Mitte des letzten Jahrhunderts die ganze Welt erfasste. Unabhängig von Ideologien und Kulturen „sprachen“ Architekt*innen der gesamten Welt die gleiche Sprache. Und nicht zufällig ist es im Westen, wo der Begriff „Modernismus“ allgemeinhin moderne Architektur meint, üblich, diesen Stil als „international“ zu bezeichnen. Als Geburtsstunde des sowjetischen Modernismus wird informell der 4. November 1955 angesehen. Damals wurde in der UdSSR der Beschluss „Über die Bekämpfung von Extravaganzen in Projektplanung und Bau“ angenommen, der die mit Dekor überladene Stalin-Architektur scharf kritisierte. Einigen Architekt*innen, die bisher für ihre Arbeiten hohe Auszeichnungen erhalten hatten, wurden diese mit Schimpf und Schande wieder aberkannt. Doch der Beschluss war nicht das einzige Ereignis, das die Entstehung dieses neuen Stils im Land der Räte besiegelte. Schon 1954 begann der aktive Ausbau von Fabriken für Betonerzeugnisse, was den Kurs in Richtung Industrialisierung und einer Typisierung des Bauwesens vorgab. Zudem versammelte Chruschtschow den Unionsrat und erläuterte Architekt*innen und Baufachleuten seine Ideen und Beanstandungen ohne Umschweife.
 
Grundsätzlich bezogen sich diese auf ein unzureichendes Tempo beim Wohnungsbau. Einige Jahrzehnte lang hatte sich dieses Defizit bereits vergrößert, und immer mehr Menschen lebten in Baracken. Daher wurde die Lösung der Wohnungsfrage ganz oben auf die Agenda gesetzt, und das Symbol der neuen Architekturepoche war in dieser Anfangszeit zweifellos die Chruschtschowka. Wenn Architekt*innen früher die Fassaden von Gebäuden entworfen hatten, in dem sie Fenster, Wände, Bögen, Säulen und andere Dekorelemente miteinander kombinierten, so veränderte sich nun der Maßstab der Projektplanung: aus einzelnen typischen Bauten setzten Architekt*innen wie mit Bausteinen die „Fassaden“ ganzer Regionen zusammen.
 
Individuelle Projekte wurden zur großen Seltenheit und waren nur einem engen Kreis an Architekt*innen zugänglich. Doch selbst bei ihrer Umsetzung bestanden Bauherren oft auf einer Veränderung der zentralen äußeren Details, womit das Ausgangskonzept sowie alle Bemühungen der Projektierung abgewertet wurden. Und dennoch geschah ab und an ein Wunder und es tauchten Aufträge und Wettbewerbe für die Projektplanung von Gebäuden auf, bei denen es den künstlerisch verantwortlichen Architekt*innen gestattet wurde, die Prinzipien von Zusammensetzung und Typisierung außer Acht zu lassen. Und gerade diese Projekte wurden zu wahren Symbolen der Epoche des sowjetischen Modernismus, welcher in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit eines weltweiten Publikums auf sich gezogen hat. 
 
Das Ende der 1950-er und der Beginn der 1960-er Jahre war die Zeit der Eroberung des Weltalls, der Entwicklung von Wissenschaft und Technik, der Motorisierung… so entstand nicht nur eine Nachfrage an moderner Architektur für die üblichen Objekte, sondern auch nach grundlegenden Entwürfen von Anlagen für vorher nicht existierende Institutionen. Solche Experimente waren spezifische Freiheitsgebiete, im Rahmen derer der Preis für einen Fehler aber sehr hoch war. So erforderte beispielsweise die Projektierung eines Prachtbaus für Eheschließungen den Entwurf eines Szenarios für zukünftige Festlichkeiten, die über lange Jahre hinweg in seinen Wänden stattfinden würden. Gleichzeitig war es aus ideologischen Überlegungen heraus gefährlich, sich dabei auf Kirchenarchitektur zu beziehen, die das einzige Vorbild für derartige Bauten war.
 
Rechenzentren waren ein noch unerforschterer Planet für Achitekt*innen, denn schließlich waren diese vorher mit der Projektierung von Gebäuden für Menschen beschäftigt, deren Besonderheiten und Maßstäbe die Ausgangsgrundlage bildeten. Hier aber bestand die Aufgabe darin, kein Gebäude für Menschen, sondern eines für Maschinen zu erschaffen. Dasselbe lässt sich über die Infrastruktur für Autos sagen, deren massenhafte Produktion in diesen Jahren zügig anstieg. Technische Servicestationen, Tankstellen und selbst so gewöhnliche Anlagen wie ober- und unterirdische Parkflächen erforderten von Architekt*innen eine Abkehr von gewohnten Denkmechanismen. Sowjetischer Pionier in diesem Architekturbereich wurde Leonid Pawlow, der seinen künstlerischen Weg noch während der Epoche der Avantgarde in den 1920-er Jahren begonnen hatte.
Sowjetischer Modernismus Model © Konstantin Antipin Damals wurde in Moskau die Kunsthochschule WChUTEMAS gegründet, in deren Wänden alle Kunstformen wie ein großes Ganzes nebeneinander existierten, interagierten und einander durchdrangen. Die Architekt*innen wurden von den „Architektonen“ Malewitschs inspiriert die Künstler*innen schwärmten für die Graphik Tschernichows. Doch durch den in den 1930-er Jahren wachsenden Druck der Macht waren viele Absolvent*innen der WChUTEMAS gezwungen, ihre künstlerischen Prinzipien zu modifizieren: anstelle einer Errichtung fortschrittlicher, der Zukunft zugewandter Architektur sollten sie sich ein „klassisches Erbe“ aneignen; anstelle der die vergangenen Normen ablehnenden Malerei der Suprematismus und Kubismus sollten Werke erschaffen werden, die auch für das Proletariat verständlich sein würden, das keinen Zugang zu aktuellen Problemen der Kunst hatte. Einige Jahrzehnte später aber bekam diese verschmähte Kunst eine erneute Chance… das Erbe der Avantgarde wurde gemeinsam mit der modernen ausländischen Architektur zur Inspirationsquelle für die Architekt*innen der 1960-er Jahre. 
 
Die nach dem Besuch Chruschtschows in der Manege verbotene Ausstellung abstrakter Kunst drang – unbemerkt für die Machthaber – an den sichtbarsten Standort vor: auf die Fassade des Gebäudes. Die „Synthese der Künste“ nahm in der Epoche des Modernismus neue Formen an und wurde von der Presse aktiv flankiert. Die künstlerischen Monumentalisten wurden zu aktiven Mitwirkenden am architektonischen Kunstprozess, brachten entscheidende Akzente in bedeutende Objekte berühmter Architekt*innen ein oder verliehen Typenbauten Individualität – wobei sie das Gebäude manchmal vollständig ihrem Konzept unterwarfen. Zur letzten Kategorie lassen sich das Mosaik-Panneau auf den Fassaden des Taschkenter Fernsehzentrums und die Bibliothek des Pirogow-Instituts in Moskau zählen.
Sowjetischer Modernismus © Konstantin Antipin Doch während der Epoche des Modernismus entstanden nicht nur einzelne Gebäude und Komplexe – sie ist auch die Zeit, in der ganze Städte aus dem Boden gestampft wurden. Und die sowjetischen Architekt*innen waren nicht allein mit der Notwendigkeit und dem Wunsch, Lösungen für bestimmte Aufgaben zu finden. Daher hatten sie die Möglichkeit, sich nicht nur vom Erbe der Avantgarde – von den Arbeiten Leonidows und Ladowskijs – sondern auch von der modernen ausländischen Architektur inspirieren zu lassen, die während der Wende in der UdSSR ein Vorreiter für die Erschließung der Klassik war. Toljatti, Nabereschnye Tschelny, Staryj Oskol – bei der Planung dieser Industriegiganten schauten die sowjetischen Architekt*innen voller Neid auf Fotografien der nach den Entwürfen von Oscar Niemeyer gebauten öffentlichen und administrativen Gebäude in Brasilien. Und analog hierzu unterlagen die Komplexe der Zentren besonderen Bestimmungen. Doch die Zeit schritt voran, die Städte wurden mit den typischen Wohnblöcken zugebaut, und für den Bau individueller Objekte in ihren Zentren wurden dann doch keine Mittel aufgetrieben.
Sowjetischer Modernismus © Konstantin Antipin Eine solche Entwicklung der Ereignisse war zu Zeiten des Untergangs der UdSSR alltäglich geworden, und deswegen sind die wenigen Fälle, in denen es den Architekt*innen dennoch gelang, ihre Gedankengänge vom Papier in die Realität umzusetzen, von besonderem Wert. Der lokale Teil der Ausstellung „Die Stadt des morgigen Tages“ widmet sich genau diesen Projekten, die nicht im reichen Moskau oder in anderen Hauptstädten der Unionsrepubliken umgesetzt wurden, sondern in den auf den ersten Blick bescheidenen Regionen Russlands. Aber es ist wenig verwunderlich, dass es den Architekt*innen gerade dort, weit entfernt von den Augen der Zentralmacht, gelang, den sie einschränkenden Rahmen zu überwinden und eine interessante, eigenständige Architektur zu erschaffen. Und gerade sie ist es auch, die in erster Linie die Aufmerksamkeit der Besucher*innen auf sich zieht. Auf der Ausstellung werden Archivfotografien von etwa hundert Gebäuden aus allen Ecken des Landes gezeigt: von Archangelsk bis in die Wolgaregion, vom Kuban bis zur Region Stawropol, von Tula bis zum Ural, von Sibirien bis zum Fernen Osten. Auf jedem von ihnen kann man einzigartige Merkmale sehen, die mit der Unterschrift ihrer Autor*innen, klimatischen, seismischen und anderen Besonderheiten der Orte verbunden sind, für die sie entworfen wurden. Alle Projekte aber kennzeichnet der Anspruch, qualitativ hochwertige moderne Architektur zu erschaffen – ein Wunsch, der keine ideologischen Anstriche oder geographischen Grenzen kennt.

 

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