Creative Jazz | 12+ Die Enttäuschung

Die Enttäuschung © Privatarchiv

Mi, 01.12.2021

20:00 Uhr

Kulturzentrum „Dom“ Moskau

STURM UND DRANG IM WINTER

Ungeachtet der Hindernisse, die diese schweren Tage mit sich bringen, setzen wir das Festival „Jazz im Herbst“ fort – und erleben dabei die eine oder andere Überraschung. Das nächste Konzert gibt das deutsche Quartett „Die Enttäuschung“. Enttäuschung? Bei dem Namen erwarten wir eher kein Vergnügen. Doch in der Musik des Ensembles schwingt vieles mit – jedoch definitiv nichts Enttäuschendes. Seit nunmehr 25 Jahren spielen die Musiker zusammen und haben ihr Publikum bis heute nicht zu enttäuschen vermocht.
 


Das Quartett spielt Improvisationsmusik in nicht ganz typischer, doch auch nicht ganz ungewöhnlicher Zusammensetzung. Am ehesten vergleichbar ist es mit den großen Quartetten von Ornette Coleman und Albert Ayler, doch den Part des Saxofons übernimmt hier die Klarinette! Unwillkürlich erinnert das an längst vergangene Zeiten, als das Saxofon noch nicht erfunden war und als Hornisten und Klarinettisten auf Bällen den Ton angaben. Einige Aufnahmen der Enttäuschung klingen tatsächlich provokativ und kontrapunktisch wie Dixieland. Besonders stark wird dieser Eindruck bei Aufnahmen mit einem Posaunisten als fünften Musiker.
 

Inspiriert wurde die Enttäuschung übrigens offensichtlich vor allem von Thelonious Monk. Jedenfalls besteht ihr allererstes Album aus dem Jahre 1996 ausschließlich aus seinen Stücken. Und auch auf dem Folgealbum finden sich mehrere Kompositionen dieses großartigen Pianisten. Zudem riefen die Musiker der Enttäuschung später ein Projekt ins Leben, das einzig und allein Monks musikalischem Erbe gewidmet ist. Sie luden dazu Alexander von Schlippenbach ein, jenen bekannten Pianisten, einen der Urväter des europäischen Free Jazz. Das so entstandene Ensemble „Monk’s Casino“ stand im Dezember 2014 auf der Bühne im DOM und gab seine wilden, mitunter derben Interpretationen des legendären Monk zum Besten. Inzwischen ist das Quartett dazu übergegangen, eigene Musik zu spielen, bestehend aus zuvor selbst komponierten Melodien, doch gleichzeitig auch mit großem Anteil von Improvisation, mitunter so frei, dass von den ursprünglichen Strukturen nichts mehr übrig bleibt.
 


Ein langes Leben ist frei improvisierenden Gruppen selten beschieden – selbst wenn sie wie die Enttäuschung mit vorkomponierten Themen arbeiten. Der Gerechtigkeit halber sollten wir hier anmerken, dass die Musiker des Ensembles im Laufe der Jahre gewechselt haben; aus der ursprünglichen Formation sind jedoch noch zwei fest dabei: der Trompeter Axel Dörner und der Klarinettist (und Bassklarinettist) Rudi Mahall. Nach dem ersten Album verließ der Kontrabassist das Ensemble. Er wurde ersetzt durch Jan Roder, der seitdem fester Bestandteil des Quartetts ist. Und erst vor relativ kurzer Zeit gab es einen Wechsel am Schlagzeug: statt Uli Jennessen spielt dort nun Michael Griener.

Der Trompeter Axel Dörner ist ein markanter Vertreter der modernen europäischen Improvisationsszene. Die Liste der Projekte, in denen er mitgewirkt hat – von Duetten bis hin zu demokratisch organisierten Orchestern – umfasst sicher mehr als nur eine Seite. Darunter auch ganz ungewöhnliche Projekte wie beispielsweise ein Trio mit dem Pianisten Jacques Demierre und dem Akkordeonisten Jonas Kocher – beide aus der Schweiz –, mit denen Dörner 2016 im DOM aufgetreten ist. Die drei haben sich der unkonventionellen Tonerzeugung verschrieben. Ähnliches gilt auch für sein Quartett mit dem Klarinettisten Michael Thieke, dem Schlagzeuger Michael Vorfeld (beide aus Deutschland) und dem mexikanischen Vibrafonisten Emilio Gordoa, mit denen Dörner erst vergleichsweise kurze Zeit zusammen spielt. Oft lässt Dörner elektronische Musik einfließen – sei es als Solist (ein Format, das ihm sehr liegt) oder als Teil eines Ensembles. Unbedingt erwähnen müssen wir hier sein Trio mit dem tschechischen Musiker Ivan Palacký, der auf der… Strickmaschine (!) spielt. Übrigens spielt Dörner nicht nur die gewöhnliche Trompete (und dies in höchst exotischen Techniken, weshalb er sein Instrument auch als Analog-Synthesizer bezeichnet) sondern auch die Zugtrompete.

Der Klarinettist Rudi Mahall spielte schon oft mit wahren Größen der Improvisationsmusik: mit Alexander von Schlippenbach und Aki Takase (beide Piano; mit Takase nahm Mahall ein Hommagealbum an Eric Dolphy auf), mit Ivo Perelman (Saxofon) und sogar mit Haiku Lee Konitz (Saxofon) und Jerry Granelli (Schlagzeug). Noch in diesem Jahr wirkte er in einem Projekt mit, das der Musik von Thelonious Monk gewidmet ist. Der Kontrabassist Jan Roder und der Schlagzeuger Michael Griener spielen oft zusammen; meist in kleinen Ensembles, die sich der freien Improvisation verschrieben haben, doch auch zum Beispiel in dem traditioneller ausgerichteten Orchester des Trompeters Didrik Ingvaldsen. Roder legt den Kontrabass auch mal beiseite und spielt die Bassgitarre im furiosen Trio Derek Plays Eric, bekannt durch Interpretationen von Werken Ellingtons, Mingus‘, des Mahavishnu Orchestra oder auch von Cream und Gentle Giant. Seine Bassgitarre spielt Roder auch im großen und klanggewaltigen Ensemble DeIndustrial – dort allerdings nicht als einziger Bassist. Griener wiederum ist fester Bestandteil im Trio des amerikanischen Saxofonisten Ellery Eskelin, und dieses Jahr erschien ein Album von Aki Takase, bei dem er mitgewirkt hat.
 


Lebendiger, wilder, intelligenter und bewährter Free Jazz „live“ (offline) ist etwas, das wir schmerzlich vermisst haben. Seien wir sicher: Die Enttäuschung wird keine Enttäuschung!
 

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