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Tanz und Immersion
Spitzenschuh und 3-D-Brillen

„Night Fall“ Amsterdams Het Nationale Ballet (2016)
„Night Fall“ Amsterdams Het Nationale Ballet (2016) | © Altin Kaftira

Wie lässt sich ein Publikum verführen? Wie bringt man es dazu, mit allen Sinnen in fremde Welten einzutauchen und sich dem, was dort geschieht, mit Haut und Haar zu überlassen?

Diese Fragen stellte sich schon Anfang des 19. Jahrhunderts ein Theatermann, und zwar aus schierem Eigennutz. Louis Véron, eigentlich Mediziner und Publizist (1798–1867 in Paris), rückte 1831 an die Spitze der Pariser Oper. Er führte das Haus als Privatunternehmen, war mithin an Maximalgewinnen interessiert. Dafür musste er ein attraktives Programm machen. Was also platzierte der geschäftstüchtige Véron auf dem Spielplan?

Die „Vorstellung“ spielt im Kopf

Romantisches Ballett, jene Spielart des Bühnentanzes, die von Feen, Geistern und exotischen Geschöpfen bevölkert wird und den Betrachter in eine Art teilnehmenden Beobachter verwandelt. Zielstrebig wird er in ein melodramatisches Handlungsgefüge verstrickt, bis seine Gefühle und Gedanken zur Gänze in den Figuren aufgehen. So entsteht ein Vorläufermodell jener „Immersion“, die heute in aller Munde ist.
 
Als  „immersiv“ bezeichnen wir ein performatives Geschehen, das uns mit IT-gestützten Verfahren physisch, akustisch, optisch mitten in ein Szenario hineinversetzt. Taugliche Prototypen hat die Gaming-Industrie produziert – in Gestalt von Spielen, die Realitäten ausblenden und Erfindung, Suggestion und Autosuggestion an ihre Stelle setzen. Diese Matrix, entwickelt von Hard- und Software-Spezialisten, greift nun ins Genom des Theaters, des Tanzes ein. Technologie wird zum Werkzeug einer Um- und Überschreibung traditioneller Begriffe. Die „Vorstellung“ spielt allein im Kopf des Zuschauers.

Live und mittendrin

„Symphony of a Missing Room“ von Lundahl & Seitl (2009)

So verschieden wie die immersiven Formate, sind die Methoden, mit denen sie Wirkung erzeugen. Am einen Ende der Skala finden sich Experimente, bei denen der Zuschauer zum tätigen Probanden mutiert: Er lauscht beispielsweise einer Tonspur und wird dabei – dank Augenabdeckung – von unsichtbaren Händen durch Räume und Situationen geführt, die das Gehör ihm ins Gehirn schleust, auf dass seine Fantasie die passenden Bilder ergänzt. Träumen lässt sich auf diese Weise etwa mit dem Duo Lundahl & Seitl und dessen Symphony of a Missing Room (2009). Dabei lotsen Performer die Besucher durch Gärten und Zimmerfluchten, die ihnen – dank Off-Erzählung – die eigene Einbildungskraft vorgaukelt. Am anderen Ende der Skala rangieren technische Gimmicks wie die backsteingroßen 3-D- oder Virtual-Reality-Brillen. Damit lässt sich das, was 360-Grad-Spezialkameras aufgezeichnet haben, wie ein Live-Spektakel erleben und erfahren – wobei sich der oder die Bebrillte mittendrin wähnt.
 
„Symphony of a Missing Room“ bei der Kochi Biennale

 
Einige Ballettkompanien haben sich bereits in die digitale Arena gewagt. Vorreiter war Amsterdams Het Nationale Ballet, das 2016 mit Night Fall das erste Ballett der Gattung Virtuelle Realität (VR) präsentierte: ein Werk, das allein auf dem Display oder der Kinoleinwand existiert und dessen Dimensionen sich nur gerüstet mit VR-Sichtgerät erschließen lassen.
 
„Night Fall“ – Das weltweit erste Virtual Reality Ballet
 
Was wie ein Quantensprung wirkt, knüpft ideengeschichtlich an das Vermächtnis der Romantik an. So wie Louis Véron die Opernklientel mit betörenden Inszenierungen in die Erzählung einzubinden suchte, verlocken heute eigens entworfene und medial aufbereitete Choreografien dazu, Tänzern und Tänzerinnen – gefühlt hautnah! – als Mitspieler zu begegnen. Vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, wann daraus ein interaktives Tool wird, das dem Co-Player ermöglicht, mittels vorab programmierter Optionen Bewegung und Handlung zu beeinflussen.
 
Das Making-of „Night Fall“
 

Suggestion durch technische Rafinesse

Auch das technische Raffinement schließt an historische Errungenschaften an, die auf eine Entfesselung der Suggestivkraft zielten. Dazu gehört zunächst das Gaslicht, an der Pariser Oper Ende der 1820er-Jahre eingeführt. Es erleichterte Umbauten, erlaubte die Verdunklung des Saals und ein stimmungsvolles Lichtdesign in bis dahin nicht gekannter Abstufung. Zudem ertüchtigte Louis Véron seine Kassenknüller – die Oper Robert le Diable mit dem Nonnenballett und das Ballett La Sylphide, beide in der Saison 1831/32 uraufgeführt – mit hoch innovativer Ausstattung. Nicht nur, dass die Tänzerinnen erstmals die charakteristischen weißen Musselin-Röcke, später Tutu genannt, trugen und dank eigens konstruierter Flugapparate zu schweben schienen. Vielmehr trat die Primaballerina im Spitzenschuh auf, was enorme tänzerische Virtuosität voraussetzte und umgekehrt den Eindruck vollkommener Schwerelosigkeit hervorbrachte. André Levinson, der das Ballet romantique 1919 in einem berühmten Essay beleuchtete, brachte es auf den Punkt: „Die Tanzästhetik erneuert sich vollkommen“, die „Welt der unmittelbaren und schäbigen Wirklichkeit“ wurde dank technischer Fortschritte gegen „die Wahrheit des Traumes“ ausgetauscht – gerade so, wie eben aktuelle VR-Instrumente ihre User in artifizielle Paradiese – oder Höllenkreise – versetzen.
 
Ob Bühne, ob VR-Technologie, ob Tour à la Lundahl & Seitl – letztlich geht es ungebrochen um das, was Louis Véron in seinen Memoiren grand effet nannte: Menschen mit einer Fiktion so zu fesseln, dass sie ihnen zur Wirklichkeit wird.
 

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