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Klassikszene 2017
Visionäre auf dem Vormarsch

Boulez Ensemble & Daniel Barenboim 2017
Boulez Ensemble & Daniel Barenboim 2017 | Foto (Ausschnitt): © Peter Adamik

Die großen Musikfestivals in Salzburg und in Bayreuth präsentieren sich mit neuen Ideen, Barrie Koskys „Meistersinger“ mischen die Wagnerianer auf, eröffnete Konzertsäle müssen sich dem Akustiktest stellen, eine neue Generation junger, eigenwillige Dirigenten startet durch und Opernschaffende solidarisieren sich gegen die Verhaftung des Regisseurs Kirill Serebrennikov in Moskau.

2017 ist gleich in mehreren Bereichen das Jahr der aufgegangenen Visionen und realisierten Träume. Die beiden renommiertesten Musikfestivals starten voller Elan in eine neue Zukunft. Bei den Salzburger Festspielen richtet der neue Festivalchef Markus Hinterhäuser seine erste Spielzeit aus. Hinterhäuser ist als langjähriger Wahl-Salzburger ein genauer Kenner der Festspiele. Hier hat er zusammen mit Tomas Zierhofer-Kin das mit den Festspielen verbundene, anspruchsvolle Zeitfluss-Festival gegründet und lange Jahre geleitet, hier amtierte er später als Konzertchef und danach bis zum Antritt Alexander Pereiras als Interims-Intendant. Vor allem aber ist der Intendant Hinterhäuser als Pianist von Hause aus kein Managertyp, sondern ein genuin musikalisch denkender Künstler. Gerade Institutionen wie die großen Luxus-Festivals, die von ihrem Ausnahmestatus und ihrer Exklusivität leben, brauchen statt gewiefter Manager solche Visionäre an ihrer Spitze. Denn ihre privilegierte Sonderstellung will nicht nur klug verwaltet werden, sie muss sich vielmehr auch durch außeralltägliche Ideen legitimieren. Hinterhäuser beweist ein kreatives Gespür, ersinnt ein beziehungsreich gewobenes Konzertprogramm, sucht thematische Linien und verbindet klug Tradition mit Aufbruch und neuen künstlerischen Allianzen. In seiner ersten Opernproduktion ignoriert er die Salzburger Gepflogenheiten und verpflichtet statt der angestammten Wiener Philharmoniker Chor und Orchester der MusicAeterna aus Perm mit dem polarisierenden Dirigentenberserker Teodor Currentzis. Die Inszenierung dieser Mozart-Premiere liegt in den Händen des Regie-Altmeisters Peter Sellars.

Unter gleichbleibender Führung beweisen auch die Bayreuther Festspiele den Mut zu Neuem, wenn auch längst Überfälligem. Festspielleiterin Katharina Wagner geht einen wichtigen Schritt weiter in der längst angekündigten, aber immer wieder aufgeschobenen Aufarbeitung der NS-Vergangenheit der Festspiele. Der australische Chefregisseur und Intendant der Komischen Oper Berlin Barrie Kosky bringt eine Inszenierung der Meistersinger auf die Bühne des Festspielhauses, in der er Biographie, Entstehungshintergrund und Werk Richard Wagners funkensprühend witzig zusammenträumt und zugleich den Judenhass Wagners in drastischen Bildern thematisiert. Unter dem Titel Diskurs Bayreuth realisieren die Festspiele außerdem zum ersten Mal das lang gehegte Vorhaben eines künstlerisch-wissenschaftlichen Begleitprogramms, das sich in Symposien und musikalischem Rahmenprogramm mit der ambivalenten Wirkungsgeschichte Wagners auseinandersetzt. Dass diese Idee ähnlich schon durch die verschiedenen Bayreuth-Konzepte geisterte, mit denen sich Katharina Wagners Cousine Nike seinerzeit um die Festspielleitung beworben hatte, schmälert das Verdienst keineswegs. Im Gegenteil: Katharina Wagner treibt nun endlich ambitioniert eine zeitgemäße Öffnung der Festspiele voran. Kuratorin ist die Projektleiterin für Zeitgenössische Musik des Bärenreiter Verlags Marie Luise Maintz. 2018 soll es beim Diskurs Bayreuth sogar eine Musiktheater-Uraufführung im historischen Markgräflichen Opernhaus geben. In der Villa Wahnfried ist eine kleine Ausstellung zu Wieland Wagner zu sehen, dem Wagner-Enkel und Begründer „Neu-Bayreuths“ nach dem Krieg. Auch die Deutsche Oper Berlin würdigt Wieland Wagner, der dem Haus eng verbunden war, anlässlich seines 100. Geburtstags und veranstaltet ein zweitägiges Symposion.

Neue Säle, Wiedereröffnungen

Visionen materialisieren sich auch mit den lang erwarteten Einweihungen neuer oder wiedereröffneter Säle – mit teils vielversprechendem, teils zumindest partiell enttäuschendem Ergebnis. So spektakulär der kühn emporragende Bau der Elbphilharmonie auch im Inneren anmutet, so ernüchternd fallen die Eindrücke der Eröffnungskonzerte aus – akustisch, wie auch kompositorisch mit Jörg Widmanns eigens für die Eröffnung komponiertem, am hypertrophen Anspruch scheiternden Arche-Oratorium. Klanglich überzeugender wirkt die fabelhaft transparente, ebenfalls vom Großmeister Yasuhisa Toyota eingerichtete Akustik des an die Barenboim-Said Akademie angeschlossenen Pierre Boulez Saals in Berlin. Mit einem kreativen und vielseitigen Programm entwickelt sich der Saal gerade zu einem neuen künstlerischen Zentrum der Hauptstadt. Wiedereröffnet samt neuem Konzertsaal wird der Kulturpalast in Dresden und – einer nach siebenjährigen, skandalbegleiteten Bauphase und  mehrfachen Verschiebungen des Eröffnungstermins - die grundsanierte Staatsoper Unter den Linden. Die Kosten sind von veranschlagten 239 Millionen auf 400 Millionen Euro gestiegen, was zwischenzeitlich sogar einen Untersuchungsausschuss auf den Plan gerufen hat. Den Tag der Deutschen Einheit will man sich als repräsentatives Eröffnungsdatum nicht entgehen lassen und macht für eine Woche mit Prunk und Pomp und Live-Übertragung auf dem Bebelplatz die Türen auf, um sie dann für zwei Monate wieder zu schließen. Kurz vor der endgültigen Eröffnung mit Festkonzert und zwei Premieren an einem Wochenende wird das Gebäude zwar von der Baufirma an die Theaterleute übergeben, ist aber immer noch nicht voll funktionstüchtig. Die Akustik ist ein wenig verbessert worden, der Saal weist jedoch immer noch auf vielen Plätzen Sichtbehinderungen auf. Ob es im 21. Jahrhundert zeitgemäß ist, ein teuer saniertes Opernhaus zu eröffnen, in dem es einige reine Hörplätze gibt, mag man bezweifeln.

Personalien, Neuanfänge und Verluste

Robin Ticciati wird neuer Chef beim Deutschen Symphonie-Orchester in Berlin. Der 34-jährige Brite mit italienischen Wurzeln ist ein Enthusiast, der ein wenig an den jungen Simon Rattle erinnert, der neben Colin Davis einer seiner Mentoren war. Seit 2009 leitet er bereits das Scottish Chamber Orchestra, seit 2014 ist er Musikdirektor der Glyndebourne Festival Opera – beide Posten wird er neben seiner Berliner Verpflichtung weiterhin ausfüllen.

Ticciatis charismatischer Vorgänger beim Glyndebourne Festival ist der aus einer russischen Musiker-Dynastie stammende, 45 Jahre alte Vladimir Jurowski. Er löst den langjährigen Chefdirigenten Marek Janowski beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ab und behält parallel dazu die Leitung des London Philharmonic Orchestra. Sein Antrittskonzert findet im Rahmen des Musikfestes Berlin statt, das in Zusammenarbeit mit der Internationalen Isang-Yun-Gesellschaft einen umfangreichen Schwerpunkt dem 1995 gestorbenen koreanischen Komponisten Isang Yun widmet, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. In seiner Verschmelzung von Elementen traditioneller koreanischer Musik mit der westlichen Avantgarde war Yun eine wichtige Figur des deutschen Musiklebens.

Simon Rattle beginnt seine letzte Saison bei den Berliner Philharmonikern und tritt parallel schon als Music Director beim London Symphony Orchestra an. Und das Leipziger Gewandhausorchester freut sich, dass der famose Mariss Jansons-Schüler Andris Nelsons, der schon als heiß gehandelter Kandidat für Rattle-Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern im Gespräch war, am 1.1.2018 sein Amt als neuer Gewandhauskapellmeister antritt.

Der exzentrische, einen messianischen Kult um sich inszenierende Teodor Currentzis macht mit seinen MusicAeterna-Musikern nicht nur in Perm Furore und spaltet mit seinen radikal subjektiven, aber auf höchstem Niveau musizierten Interpretationen Publikum und Kritiker. Mit Beginn der Spielzeit 2018/19 wird er Chefdirigent des neuen SWR Symphonieorchesters.

Einen furiosen Anfang legt auch der noch keine dreißig Jahre alte, rasend begabte israelisch-amerikanische Dirigent Yoel Gamzou als neuer Musikdirektor am Theater Bremen mit einer atemberaubenden Lady Macbeth von Mzenks hin. Er zeigt, was Stadttheater leisten kann und verspricht, dem Haus nicht nur musikalisch, sondern auch inhaltlich spannende Impulse zu geben, etwa durch regelmäßige Zusammenarbeit mit dem vom Schauspiel kommenden Regisseur Armin Petras. Gamzous Einspielung seiner eigenen Aufführungsversion der unvollendeten 10. Symphonie von Gustav Mahler mit dem von ihm gegründeten International Mahler Orchestra gewinnt einen Echo-Preis. Als weiterer Nachwuchskünstler wird auch der französische Pianist Lucas Debargue mit einem Echo-Preis ausgezeichnet. Der Siemens Musikpreis geht an den klugen, stets um die Zukunft der Klaviermusik bemühten Pianisten und fabelhaften Ligeti-Interpreten Pierre-Laurent Aimard.

Mit dem Geiger, Lehrer und langjährigen Konzertmeister der Berliner Philharmoniker Rainer Kussmaul, der am 27. März im Alter von 70 Jahren stirbt, verliert die Musikwelt einen ebenso unprätentiösen wie von wacher Neugierde angetriebenen Meister seines Instruments. Am 20. August stirbt einen Tag vor seinem neunzigsten Geburtstag der Orff-Schüler Wilhelm Killmayer, ein eigenwillig unzeitgemäßer Komponist, der zeitlebens eine bedeutende Außenseiterposition einnahm.

Höhepunkte und Skandale

Im Gedächtnis bleiben Barbara Hannigans sensationelles Multitalent als fabelhaft luft- wie stimmakrobatische Lulu in Christoph Marthalers Hamburger Inszenierung von Alban Bergs gleichnamiger Oper und Achim Freyers schwindelerregend suggestive Inszenierung des Parsifal am gleichen Haus – beides so luzide wie sinnlich dirigiert vom GMD Kent Nagano, der ebenfalls einen der Echo-Preise gewann. Die Hamburgische Staatsoper hat sich seit dem Antritt des neuen Intendanten George Delnon wieder in die erste Reihe gespielt. Auch an die Uraufführung von Aribert Reimanns Oper L’invisible an der Deutschen Oper wird man sich lange erinnern, ebenso wie an den im Zeitentunnel spielenden legendären, 33 Jahre alten Ring von Götz Friedrich, dessen marode Kulissen nach dem allerletzten Vorstellungszyklus im März endgültig entsorgt werden. Die Komische Oper feiert ihren 70. Geburtstag mit Barrie Koskys eindringlich karger Anatevka-Inszenierung, einer Ansprache des Bundespräsidenten und einer riesigen Torte. Der ungarische Pianist Andras Schiff bezaubert mit seinen traumwandlerisch nuancierten Interpretationen von Bach, Bartok, Janacek und Schumann.

Im August löst die Verhaftung des russischen Regisseurs und Leiters des Moskauer Gogol Centers Kirill Serebrennikov, dem die Veruntreuung von Fördergeldern vorgeworfen wird, Empörung der internationalen Kunst- und Kulturszene aus. Man sieht in den Vorwürfen nur einen Vorwand, um einen Kreml-kritischen Künstler mundtot zu machen. Deutsche Opernhäuser solidarisieren sich mit Serebrennikov, Intendanten tragen „Free Kirill“-T-Shirts und die Oper Stuttgart hält trotz des andauernden Hausarrestes des Regisseurs an seiner Hänsel und Gretel-Premiere fest, die in Abwesenheit Serebrennikovs stattfinden muss.

Das Beethoven-Jahr 2020 wirft jetzt schon seinen langen Schatten voraus. So startet das innovative Podium Esslingen bereits ein internationales, mit 1,5 Millionen Euro von der Kulturstiftung des Bundes gefördertes und auf drei Jahre angelegtes Fellowship-Projekt, das der jüngeren Generation Gelegenheit bieten soll, eigene Musikformate zu entwickeln.

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