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René de Guzman
Eine Frage der Erinnerung: Ein Gespräch mit Angela Y. Davis

Postkarten aus der National United Committee to Free Angela Davis collection (M0262)
Postkarten aus der National United Committee to Free Angela Davis collection (M0262) | Foto (Ausschnitt): © Department of Special Collections, Stanford Libraries

An einem sonnigen Tag in Oakland, Kalifornien am 1. Oktober 2019 sprach Angela Y. Davis mit dem Senior-Kurator des Oakland Museum of California, René de Guzman, in Davis’ elegant-minimalistischem Haus. Mit Blick über die Bay Area und einer Tasse Tee in der Hand reflektierte sie über ihr Vermächtnis in der Vergangenheit und Zukunft. Dieses Interview soll Davis’ Persönlichkeit, ihre Ideen und ihren Geist in diese Publikation einbringen und wird in allen drei Ausstellungen als Video gezeigt: Angela Davis: Seize the Time im Zimmerli Art Museum der Rutgers University in New Jersey, im Oakland Museum of California und 1 Million Rosen für Angela Davis im Albertinum in Dresden.

Von René de Guzman

René de Guzman: Wie würden Sie sich jemandem beschreiben, der Sie oder Ihre Arbeit nicht kennt?

Angela Y. Davis: Nun, mein Name ist Angela Davis. Normalerweise füge ich das „Y“ im Schriftlichen hinzu, denn es gibt ziemlich viele Angela Davis’ und ich wurde schon oft mit den anderen verwechselt [lacht]. Ich würde mich als Pädagogin, Aktivistin, Feministin, Abolition-Feministin bezeichnen, als jemand, die sich die meiste Zeit ihres Lebens in Bewegungen für soziale Gerechtigkeit engagiert hat. Menschen, die nicht wissen wer ich bin, weise ich oft darauf hin, dass ich einmal auf der Liste der zehn meist­ge­such­ten Personen des FBI stand und schließlich in Gefängnissen in New York, Marin County und in San Jose landete, woraufhin ich mich in Bewegungen für die Rechte von Gefangenen und für die Abschaffung von Gefängnissen engagierte. Ich bin bis heute noch aktiv. Ich sollte aber auch erwähnen, dass ich an verschiedenen Universitäten gelehrt habe. Ich wurde von meinem ersten Job an der University of California in Los Angeles entlassen. Ich habe auch in Stanford gelehrt, am Mills College in Oakland und an der San Francisco State University. Den Großteil meiner akademischen Laufbahn habe ich aber an der University of California in Santa Cruz verbracht.

René de Guzman: Viele Menschen kennen Ihren Aktivismus in der Bewegung zur Abschaffung der Gefängnisse, aber Ihre Anliegen überschneiden sich mit vielen anderen Dingen. Kürzlich nahmen Sie an einer feministischen Konferenz in Reykjavik, Island, teil. Würden Sie ein wenig über Ihre Gedanken zum Feminismus sprechen?

Angela Y. Davis: Ich interessiere mich schon lange für die Rolle von Frauen in Bewegungen für soziale Gerechtigkeit. Vor einigen Jahrzehnten habe ich ein Buch mit dem Titel Rassismus und Sexismus. Schwarze Frauen und Klassenkampf in den USA veröffentlicht, das sich speziell mit den Beiträgen Schwarzer Frauen zur Be­frei­ungs­be­we­gung der Schwarzen befasste.
Ich glaube nicht, dass ich mich damals als Feministin bezeichnet hätte, denn meine erste Begegnung mit dem Begriff Feminismus verband ihn mit den Anliegen weißer Frauen aus der Mittelschicht. Wir sprachen immer über den Feminismus der weißen Bourgeoisie. Ich sah mich selbst als Revolutionärin und daher mehr mit Frauen of color und mit weißen Frauen aus der Arbeiterklasse verbunden. Aber in der letzten Zeit haben Frauen of color, radikale Frauen of color, im weiteren Sinne Frauen aus der Arbeiterklasse, den Feminismus neu definiert. Und ich denke, wenn heute jemand fragen würde, ins­beson­dere auf einem Universitätsgelände, „Welchen Begriff verbindest du am meisten mit Feminismus?“, dann wäre die Antwort Intersektionalität. Das heißt, nicht nur die Ein­be­ziehung des Geschlechts in unsere analytischen Rahmen, sondern auch der Klasse, des ethnischen Hintergrunds, der Befähigung, der Umwelt und so weiter. Deshalb habe ich heute kein Problem damit, mich mit dem Feminismus zu identifizieren.

René de Guzman: Ihr Archiv wurde vor Kurzem in die Schlesinger-Bibliothek der Harvard University eingebracht. Würden Sie uns sagen, was sich in Ihrem Archiv befindet? Wie stark waren Sie an der Gestaltung des Archivs beteiligt? Wie hoffen Sie, dass das Archiv genutzt wird?

Angela Y. Davis: Ich habe Freund*innen, die ihre Arbeiten verschiedenen Institutionen zur Verfügung gestellt haben, also habe ich darüber eine Weile nachgedacht. Ich war nicht sehr sorgfältig bei der Aufbewahrung und Organisation meiner Papiere und anderer Objekte. Aber ich habe einige Dinge aus der Vergangenheit aufbewahrt. Als ich mich entschied, sie der Schlesinger-Bibliothek zu übergeben, waren es am Ende mehr als 150 Kisten. Ich hatte einen gemieteten Lagerraum, Papiere im Keller [lacht], Papiere in meinem Büro und noch mehr in meinem Arbeitszimmer. Einige der ältesten Dokumente stammten zum Beispiel aus meiner Arbeit als Studentin und Doktorandin. Ich habe einen wirklich wunderbaren Ordner mit Notizen, die ich gemacht habe, als ich die Kurse von Herbert Marcuse an der University of California San Diego besuchte. Ich hatte eine Menge Material aus den späten 1960er Jahren und, na ja, eigentlich nicht so viel aus den späten 1960er Jahren, denn viele meiner Papiere wurden bei einem Brand in L.A. zerstört. Wir glauben, dass das FBI vielleicht etwas damit zu tun hatte. Das war während ich im Gefängnis war.

Ich hatte Papiere, die mit meiner Arbeit als Aktivistin zu tun hatten. Unmittelbar nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis, arbeitete ich mit der National Alliance Against Racist and Political Repression (Nationale Allianz gegen Rassismus und politische Repression) zusammen. Wir arbeiteten an den Fällen einer ganzen Reihe von Menschen, die im Gefängnis saßen, politische Gefangene wie Ben Chavis und die Wilmington Ten, die Soledad-Brüder natürlich, Carlos Feliciano, die Attika-Brüder, Joan Little und viele, viele andere Fälle. Ich hatte viele Kisten mit Material aus dieser Zeit.
Ein weiterer interessanter Teil meiner Dokumente hatte mit der Organisation der Konferenz Critical Resistance (Kritischer Widerstand) zu tun, die im September 1998 an der University of California Berkeley stattfand. Diese Konferenz markierte einen Wendepunkt in den Bewegungen rund um Streitfragen um Gefängnisse. Wir riefen Wissenschaftler*­innen und Aktivist*­innen sowie Künstler*­innen und Für­sprecher*­innen dazu auf, zusammenzukommen, um darüber zu debattieren, was mit dem zu tun ist, was wir als den gefängnisindustriellen Komplex bezeichnen. Wir waren besorgt darüber, dass die Menschen sehr beeinflusst waren von der vorherrschenden Ideologie des Verbrechens und der Law and Order-Politik. Deshalb beschlossen wir, zu versuchen, Verbrechen und Bestrafung voneinander zu lösen. Anstatt über Bestrafung nur im Zusammenhang mit Verbrechen nachzudenken, forderten wir die Menschen auf, über Bestrafung in anderen Zusammenhängen nachzudenken – im Zusammenhang mit Rassismus, im Zusammenhang mit dem globalen Kapitalismus. Warum sind in den 1980er Jahren so viele Gefängnisse entstanden? Was geschah noch in den 1980er Jahren? Der globale Kapitalismus war auf dem Vormarsch. Die De-Industrialisierung war im Gange. Die Workshops, die wir organisierten, befassten sich mit solchen Fragen, und die Archivdokumente bestanden aus vielen Materialien zu den Workshops, die während der Konferenz stattfanden. Wir wollten interdisziplinäre Gespräche führen. Deshalb bestanden wir darauf, dass jedes Panel, jeder Workshop eine Diskussion über die Art von Grenzen, die uns normalerweise trennen, beinhaltete. Wir wollten kein Panel, das ausschließlich aus Jurist*innen besteht. Wir wollten kein rein wissenschaftliches Panel. Wir wollten kein Gefangenen-Panel. Wir wollten Gespräche über disziplinäre, berufliche und aktivistische Grenzziehungen hinweg ermöglichen. Außerdem mussten alle Panels eine feministische Dimension haben. Eine Konferenz so zu organisieren, war ein sehr interessantes Experiment.
Wir haben auch keine Gebühren für die Konferenz erhoben. Die Konferenz war kostenlos, aber wir baten die Menschen für die Konferenz zu spenden was sie konnten und am Ende hatten wir wahrscheinlich weit mehr Geld, als wir es bei einer Gebühr für Einzelpersonen gehabt hätten. All diese Informationen sind in den Archiven zu finden. Vielleicht helfen diese Materialien jemandem, ein Buch über die Konferenz zu schreiben, die wir Critical Resistance: Beyond the Prison Industrial Complex (Kritischer Widerstand: Jenseits des gefängnisindustriellen Komplexes) nannten und wie sie dazu beitrug, die Bewegungen gegen Gefängnisse und insbesondere die zeitgenössische Abolitions-Bewegung im 21. Jahrhundert zu gestalten. Heute hat sich natürlich der populäre Diskurs über die Strafjustiz erheblich verändert und selbst der rechte Flügel will die Gefängnisse reformieren und sich für das einsetzen, was wir „Ent-Haftierung“ nennen. Aber natürlich schlagen viele von ihnen Gefängnis fördernde Lösungen vor. Deshalb bleibt die Abschaffung eine sehr wichtige Perspektive, um voranzukommen. Und es gibt alle möglichen anderen Dokumente. Wir wären die nächsten zwei Tage hier, wenn ich im Detail beschreiben würde, wie das Archiv aussieht.

René de Guzman: Warum die Schlesinger-Bibliothek? Warum Harvard und nicht irgendeine andere Universität?

Angela Y. Davis: Natürlich haben sich viele andere Institutionen nach meinen Dokumenten erkundigt. Ich habe mich aber aus mehreren Gründen dazu entschieden, meine Dokumente Harvard zu geben. Der wichtigste davon ist die Tatsache, dass meine Dokumente in der Gesellschaft von guten engen Freund*innen wären. Die Dokumente von June Jordan sind in der Schlesinger. June lebte die letzten Jahre ihres Lebens in Berkeley und sie und ich wurden sehr enge Freundinnen. Ich erinnere mich, als sie sich entschied, ihre Dokumente der Schlesinger zu übergeben und als sie diese für die Übergabe organisierte. Pat Williams, die Wissenschaftlerin und Anwältin, ist ebenfalls eine alte Freundin und ihre Dokumente sind auch dort. Die aus Oakland stammende Schwarze homosexuelle Dichterin Pat Parker, die eine so wichtige Rolle bei der Entstehung feministischer Ideen und Bewegungen in dieser Stadt gespielt hat, gab ihre Dokumente der Schlesinger. Ich dachte also, dass meine Dokumente in sehr guter Gesellschaft sein würden.

René de Guzman: Auf der Open Engagement-Konferenz 2016 im Oakland Museum of California sprachen Sie eloquent über die Beziehung zwischen Kunst und Politik, vor allem über radikale Vorstellungskraft. Können Sie ein wenig darüber sprechen? Und würden Sie sich direkt zu Aktionen von Künstler*innen äußern, wie zum Beispiel die umstrittenen Ereignisse auf der Whitney-Biennale 2019 in New York?

Angela Y. Davis: Nun, ich habe mich schon immer für das Verhältnis zwischen Kunst und Politik interessiert. Ich weiß, dass Bewegungen oft von Musik, von Poesie, von visueller Kunst angetrieben werden. Ich denke, dass Kunst in der Lage ist, die Menschen auf eine Weise zu erreichen, wie es didaktische Gespräche oft nicht vermögen. Als Doktorandin habe ich mich intensiv mit der philosophischen Beziehung zwischen Ästhetik und Politik beschäftigt. Als Aktivistin war ich immer besorgt über die Tatsache, dass in sozialen Bewegungen die künstlerische Dimension meist als Unterhaltung und damit als Nebensache behandelt wird. Wenn man eine Kundgebung organisiert, fragt man sich: „Wer wird die Unterhaltung für die Kundgebung stellen?“, ohne die erkenntnis-theoretische Dimension der Kunst zu berücksichtigen, die Art und Weise wie Kunst Wissen produzieren kann. Wissen, das nicht mit einer einfachen politischen Rede einhergeht.
Und natürlich beinhaltet Kunst die Vorstellungskraft. Und wenn wir glauben, dass Revolutionen möglich sind, dann müssen wir in der Lage sein, uns verschiedene Arten des Seins, verschiedene Arten des Daseins in der Gesellschaft, verschiedene soziale Beziehungen vorzustellen. In diesem Sinne ist die Kunst entscheidend. Die Kunst steht an der Spitze des sozialen Wandels. Kunst erlaubt uns oft, zu erfassen, was wir noch nicht verstehen können. Es scheint, dass in den letzten Jahrzehnten die so lange unterstellte Trennung von Kunst und Politik – Kunst um der Kunst willen – Kunst, die etwas mit Politik zu tun hat, als minderwertige Kunst definiert hat. Wir haben diese Ideen immer wieder gehört. Aber in den letzten Jahren – vor allem seit der letzten Wahl in den USA – sind Künstler*innen deutlicher, offener, politischer geworden und haben begonnen, uns ein Gefühl dafür zu geben, wie Kunst unsere Vorstellungen von gesellschaftlichem Wandel, von Revolution bereichert.

Als ich 2019 die Whitney-Biennale besuchte, war ich beeindruckt zu sehen, wie die politische Dimension der Kunst auf neue Weise zum Ausdruck kommt. Besonders beeindruckt war ich von der umstrittenen Arbeit von Forensic Architecture, dem Film über Tränengaskanister und wie sie gegen Demonstrant*innen in aller Welt eingesetzt werden. Das war toll als Film, als Ausstellungsobjekt auf der Biennale. Wie sich herausstellte, war ein Mitglied des Vorstands des Whitney Museums der CEO der Dachgesellschaft von Safariland, die diese Tränengaskanister produziert. Als Folge des Beharrens auf die Aufnahme dieses Films in die Biennale, zusammen mit Protesten und Demonstrationen, war Warren Kanders gezwungen, aus dem Vorstand des Whitney Museums auszutreten.

René de Guzman: Würden Sie ein wenig über Ihre Verbindung zu Orten wie Oakland, der Rutgers University in New Jersey und Dresden sprechen?

Angela Y. Davis: Die Frage ist also meine Beziehung zu Ort und Zeit, und zwar konkret zu Oakland, wo ich lebe, zu Rutgers in New Jersey und zu Dresden in der ehemaligen DDR. Nun, vielleicht fange ich mit Oakland an, denn hier sind wir und das Oakland Museum und hier habe ich die meiste Zeit meines Lebens gelebt. Für mich ist Oakland meine Heimat. Ich wurde in Birmingham, Alabama, geboren und habe dort die ersten fünfzehn Jahre meines Lebens gelebt. Ich habe immer noch eine sehr starke Beziehung zu Birmingham. Ich habe Freund*innen in Birmingham. Vor Kurzem erhielt ich einen Menschenrechtspreis vom Civil Rights Institute in Birmingham, der dann aber wieder aberkannt wurde und jetzt wollen sie ihn mir wieder verleihen. Das ist zwar eine andere Geschichte. Aber es ist interessant, dass sie jetzt einen völlig neuen Vorstand haben. Die Fragen, die sie dazu veranlasst haben, den Preis zu annullieren, werden auf eine Weise behandelt, die ein umfassenderes Verständnis von Bürgerrechten und Menschenrechten im internationalen Kontext widerspiegelt und zwar speziell der Menschenrechte für das palästinensische Volk. Birmingham ist also der Ort, an dem ich geboren bin.

Oakland ist der Ort, an dem ich den größten Teil meines Lebens gelebt habe. Tatsächlich bin ich in der Bay Area gelandet, weil ich wegen Mordes, Entführung und Verschwörung im Zusammenhang mit der Gefangenenbefreiung, die 1970 im Marin County Civic Center stattfand, angeklagt wurde. Als ich verhaftet und schließlich in die Bay Area überstellt wurde, verbrachte ich eine Zeit im Gefängnis in Marin County, in San Rafael und danach in San Jose. Als mein Prozess vorbei war und ich darüber nachdachte, wo ich mich niederlassen wollte, stand Oakland außer Frage. Wissen Sie, Oakland war die Geburtsstätte der Black Panther Party. Als ich 1972 freigesprochen wurde, war in der Stadt eine Menge los. Ich fühlte eine Affinität zu Oakland, die ich nicht unbedingt zu San Francisco fühlte, obwohl ich San Francisco mag, vor allem die Musik und Kultur. Tatsächlich unterrichtete ich am San Francisco Art Institute und an der San Francisco State University. Derzeit bin ich Mitglied des Kuratoriums von SFJazz. Oakland ist in vielerlei Hinsicht eine Stadt, die für Wandel steht, die den Ruf nach Veränderung repräsentiert, eine Stadt, die die Zukunft repräsentiert und ein Ort ist, an dem man sich eine andere Zukunft vorstellen kann. Ich liebe die Tatsache, dass die Bevölkerung von Oakland so vielfältig ist – wenn auch nicht mehr so sehr wie früher und nicht mehr so sehr wie sie sein könnte. Es gibt eine beträchtliche Zahl an Schwarzen Einwohner*innen in Oakland, es gibt eine beträchtliche Zahl lateinamerikanischer und asiatischer Einwohner*innen. Und ich liebe die Tatsache, dass die Hafenarbeiter in Oakland eine so lange Geschichte haben. Wenn man die Stadt Oakland vom Aussichtspunkt der Bay Bridge aus betrachtet, sieht man die Kräne und die Container auf den Docks. Eingebettet in diese Objekte ist die Geschichte der ILWU, der International Longshore Workers Union (Internationale Gewerkschaft für Hafenarbeiter) und die Rolle, die sie bei der Anti-Apartheid-Bewegung in der Bay Area spielten, als sie sich weigerten, Schiffe aus Südafrika zu entladen. Später weigerten sie sich auch, Schiffe aus Israel zu entladen. Darüber hinaus schloss die ILWU 1999 die Docks an der gesamten Westküste und forderte die Freiheit von Mumia Abu-Jamal. Ich könnte weitermachen, aber Oakland hat eine außergewöhnliche Geschichte und ich liebe diese Stadt. Ich liebe es, hier zu leben.

Was Rutgers betrifft, so habe ich an der Universität viele Male gesprochen. Ich verbinde Rutgers mit dem Namen von Assata Shakur, die jetzt in Kuba lebt und zu den zehn meistgesuchten, ich zitiere, „Terroristinnen“ der USA gehört. Ich bin seit den 1970er Jahren an der Kampagne zur Befreiung von Assata Shakur beteiligt. Meine dramatischste Erinnerung an Rutgers hat mit einer Veranstaltung zu tun, die an der Universität abgehalten wurde, um Geld für die Rechtsverteidigung von Assata Shakur zu sammeln. Es muss in den späten 1970er Jahren gewesen sein und die Spendensammlung wurde im Rutgers- Alumni-Haus abgehalten. Ihr Anwalt, Lennox Hinds, der ein Gründer der National Conference of Black Lawyers (Nationale Konferenz Schwarzer Anwält*innen) ist und in meinem Fall eine wichtige Rolle spielte, war dort. Nachdem wir einen beträchtlichen Geldbetrag für eine Rechtsverteidigung gesammelt hatten, verließen wir die Veranstaltung, um zu seinem Haus zu gehen. Auf dem Weg dorthin wurden wir ohne jeden Grund von der Polizei angehalten. Sie bestanden darauf, dass es einen Haftbefehl gegen mich gäbe und wollten mich festnehmen. Das entsprach jedoch nicht der Wahrheit und ihre Geschichte war wirklich chaotisch. Auf jeden Fall zogen sie ihre Waffen und als Lennox zu dem Auto kam, in dem ich war, zog einer der Polizisten eine Waffe und zielte auf ihn, obwohl er ihnen gesagt hatte, er sei mein Anwalt. Ich erwähne dies deshalb, weil Assata Shakur von der Staatspolizei von New Jersey auf die gleiche Weise angehalten worden war. Und in gewisser Weise wiederholten sich die Ereignisse, die zu ihrer Verhaftung führten, in just diesem Moment, als wir versuchten, sie zu unterstützen. Schließlich erlaubten sie uns zu gehen, aber als wir uns in Lennox’ Haus versammelt hatten, kam die Polizei buchstäblich mit gezogenen Waffen um das Haus herum. Lennox Hinds war bis vor kurzem Professor an der juristischen Fakultät in Rutgers. Er ist jetzt im Ruhestand. Erst vor Kurzem habe ich an einer Feier für seinen Ruhestand teilgenommen. Für mich steht Rutgers also für Widerstand, aber New Jersey steht weiterhin für eine Art politische Rückständigkeit, die zur Verhaftung von Assata Shakur und anderen führte.

René de Guzman: Welche Resonanz hat Dresden für Sie?

Angela Y. Davis: Wenn ich über Dresden spreche, möchte ich darauf hinweisen, dass mein Bewusstsein für Dresden aus der Zeit stammt, als ich in Deutschland studierte. Ich habe im damaligen Westdeutschland, in Frankfurt, studiert, aber ich habe die Deutsche Demokratische Republik mehrmals besucht. Ich erinnere mich, dass ich nach Berlin fuhr, um die gesammelten Werke von Marx und Engels zu kaufen, denn jeder Band kostete den Gegenwert von damals etwa einem Dollar, und ich habe immer noch die vierzig oder fünfzig Bände dieses Sammelbands. Nach dem Ende meines Prozesses besuchte ich viele der Länder, in denen es einflussreiche Bewegungen gab, die meine Freiheit einforderten. Eines dieser Länder war die Deutsche Demokratische Republik. In diesem Zusammenhang besuchte ich zum ersten Mal Dresden. Ich denke an Dresden und die DDR im Zusammenhang mit der Kampagne, die von Schulkindern ausging, die mir an meinem Geburtstag, als ich im Gefängnis war, Postkarten schickten. Die Kampagne hieß „A Million Roses for Angela, Eine Million Rosen für Angela“. Ich erhielt Karten von Schulkindern, die in Dresden und anderen Teilen der Deutschen Demokratischen Republik lebten. Wahrscheinlich wurden mir mehr als eine Million Postkarten geschickt, während ich im Gefängnis war.

René de Guzman: Sie erwähnten alle internationalen Gemeinschaften, die Ihre Freiheit forderten, als Sie im Gefängnis waren. Ich bin neugierig, wie war das für Sie?

Angela Y. Davis: Nun, als ich im Gefängnis war, wurde ich mir bewusst, dass es überall auf der Welt Menschen gab, die sich organisierten für meine Freiheit. Ich wusste, dass es Menschen gab, die mich unterstützten, vor allem in Kuba, Chile und Frankreich, Deutschland, in der Deutschen Demokratischen Republik, in der Sowjetunion, Somalia, Prag, Äthiopien, Brasilien und in der Tat in Ländern auf der ganzen Welt. Einerseits war ich wirklich überglücklich zu erfahren, dass sich überall so viel Unterstützung entwickelte, aber andererseits fragte ich mich: „Warum ich?“ Ich war mit vielen anderen Frauen im Gefängnis. In New York wurde ich im damals größten Frauengefängnis von New York, dem Women’s House of Detention, festgehalten. Ich war auch im Marin County Jail und schließlich in einem kleinen Gefängnis in Palo Alto inhaftiert. Ich war mir immer bewusst, dass viele, viele andere Menschen im Gefängnis und in der Haftanstalt saßen. Und ich fragte mich: „Warum können wir nicht für sie alle Unterstützung generieren?“
Und so war meine Antwort, das National United Committee to Free Angela Davis (Nationales Komitee zur Befreiung von Angela), eine Organisation, die entstanden war um meine Freiheit zu fordern, zu bitten, ihren Namen in National United Committee to Free Angela Davis and All Political Prisoners (Nationales Komitee zur Befreiung von Angela Davis und allen Politischen Gefangenen) zu ändern. Als ich freigelassen wurde, begannen wir sofort darüber nachzudenken, wie wir alle Ressourcen, die um die Forderung nach meiner Freiheit herum entstanden waren, nutzen könnten, um weiterhin an der Befreiung anderer Gefangener zu arbeiten und Fragen im Zusammenhang mit rassistischer und politischer Unterdrückung anzugehen. Unmittelbar nach dem Ende meines Prozesses begannen wir, die Grundlage für eine Organisation zu schaffen, die wir die National Alliance Against Racist and Political Repression (Nationale Allianz gegen rassistische und politische Unterdrückung) nannten. Und diese Organisation existiert in gewisser Form bis heute. Es gibt eine Ortsgruppe in Chicago und eine in Louisville, Kentucky. Im Herbst 2019 fand in Chicago eine Konferenz statt, auf der die Nationale Allianz gegen rassistische und politische Unterdrückung neu belebt werden sollte, denn wie in der Ära der 1970er Jahre ist auch dies eine Zeit, in der wir eine Organisation brauchen, die in der Lage ist, diejenigen zu verteidigen, die politischer und rassistischer Repression ausgesetzt sind.

René de Guzman: Angela, ich möchte Sie bitten, über Ihr Verhältnis zu Ihrer Vergangenheit zu sprechen. Wie halten Sie Erinnerungen wach und machen sie produktiv? Wie bewahren Sie Ihre Vergangenheit vor Nostalgie und Rückschritt?

Angela Y. Davis: Nun, mein Verhältnis zur Vergangenheit, das auch mein Verhältnis zu meiner eigenen Vergangenheit einschließt, ist ein kompliziertes ... Ich habe mich schon immer für Geschichte interessiert. Ich bin davon überzeugt, dass – wie Faulkner sagte – die Vergangenheit nicht tot ist, sie ist nicht einmal vergangen, richtig? Die Vergangenheit hat uns geprägt. Die Vergangenheit ist immer präsent. Wir bewohnen immer die Überreste und die Sedimente der Vergangenheit. Als wir mit der Arbeit rund um den gefängnisindustriellen Komplex begannen, sprachen wir über die Rolle, die die Sklaverei bei der Gestaltung der heute noch existierenden Formen von Bestrafung spielte. Ich denke, auf der Makroebene ist es sehr klar, dass unsere Vergangenheit darüber Auskunft gibt, wo wir sind oder wer wir sind und was wir anstreben können. Ich denke, dass ich als Individuum durch die Tatsache geprägt wurde, dass ich in der am stärksten von Rassentrennung betroffenen Stadt der USA aufgewachsen bin. Ich bin in Birmingham, Alabama, zu einer Zeit aufgewachsen, als Schwarze dort als absolut minderwertig betrachtet wurden und von fast allen kulturellen Einrichtungen ausgeschlossen waren. Ich habe immer noch sehr lebhafte Erinnerungen daran, dass ich das Museum in Birmingham besuchen wollte, aber ich habe dieses Museum erst viele, viele Jahre später besucht. Ich erinnere mich an meine Grundschule, die nicht weit von einer weißen Grundschule entfernt war. Ich erinnere mich, dass ich mir diese Schule ansah und mir bewusst wurde, dass wir die Bücher bekamen, die von den weißen Kindern benutzt worden waren und von ihnen beschrieben und zerrissen worden waren. Wir bekamen immer die gebrauchten Bücher aus dem weißen Schulsystem.
Es ist sehr wichtig für mich diese Erinnerungen zu bewahren. Zunächst einmal, weil wir die Vergangenheit kennen müssen, wir müssen wissen, woher wir kommen. Aber vielleicht am Wichtigsten, weil wir in der Lage sein müssen, unsere Erfolge anzuerkennen. Wir müssen in der Lage sein, Wege aufzuzeigen, auf denen Veränderungen stattgefunden haben, die weitgehend darauf zurückzuführen sind, dass Menschen zusammengekommen sind und protestiert und demonstriert und Veränderungen eingefordert haben. Es gibt diejenigen, die oft sagen, dass sich nichts geändert hat. Natürlich könnte man manchmal denken, wenn wir die aktuelle politische Lage und das Ausmaß der Verbreitung rassistischer Aussagen und Aktionen betrachten, dass sich in diesem Land wirklich nichts geändert hat.
Aber ich denke, dass das, was wir jetzt erleben, eine Reaktion auf den eingetretenen Wandel ist und dass unser Kampf darin besteht diese Erfolge zu bewahren und vorwärts zu gehen und sie als Ausgangsbasis für weitere Erfolge zu nutzen. Ich denke also, die Vergangenheit ist immer relevant. Die Vergangenheit hilft uns, zu definieren, was wir in der Zukunft wollen. Ich denke, dass selbst jene Kämpfe uns helfen, die nicht erfolgreich abgeschlossen wurden, die nicht siegreich waren, eine Agenda für die Zukunft zu entwickeln. Ich denke, dass die Vergangenheit und die Zukunft auf einem Kontinuum liegen, das definiert, wer wir in der Gegenwart sind.

René de Guzman: Würden Sie ein wenig über Ihre Beziehung zu Ihrer eigenen Vergangenheit sprechen und zwar in Bezug auf die Bilder aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, die weitgehend das Material für diese Projekte (Publikationen und Ausstellungen) sind? Und, wie verbinden Sie die Darstellung Ihrer selbst in diesen Bildern? Diese Bilder von 1969 bis 1972 haben Sie in Bernstein festgehalten, wie machen Sie also weiter?

Angela Y. Davis: Nun, wissen Sie, ich fand es einmal sehr schwierig, eine Beziehung zur Politik der Repräsentation zu entwickeln, in der mein eigenes Bild eine Rolle spielte. Denn ich wusste, dass die Bilder von mir, obwohl sie etwas mit mir zu tun hatten, mit dem wer ich war und was ich getan hatte, Erwartungen hervorbrachten, die meiner Fähigkeit ihnen als Individuum gerecht zu werden, bei weitem überstieg. Es dauerte eine Weile, bis ich zu dem Schluss kam, dass diese Bilder zwar definitiv von mir, einem jüngeren Ich, sind, aber sie repräsentieren nicht unbedingt mich als Individuum. Sie repräsentieren die Bewegung, die um mich herum entstanden ist, die Forderung nach meiner Freiheit. Wissen Sie, es gab eine Zeit, in der es mir peinlich war, mich diesen Bildern zu stellen. Ich wusste wirklich nicht, wie ich in der Gegenwart auf diese Bilder reagieren sollte. Jetzt fühle ich mich ziemlich wohl, weil ich erkenne, dass sie die Forderungen und Bestrebungen von Millionen von Menschen repräsentieren. Die Kampagne rund um die Forderung nach meiner Freiheit war absolut erstaunlich. Damals wurde ich wegen dreier Kapitalverbrechen angeklagt und selbst Leute, die wussten, dass ich nicht schuldig war, sahen nicht, wie ich mich jemals aus dieser Situation befreien konnte, denn alle bestehenden Mächte, der Präsident der USA, der Gouverneur von Kalifornien, der Chef des FBI, waren gegen mich. Ich war Mitglied der Kommunistischen Partei. In jedem Land, in dem es eine Kommunistische Partei gab, gab es auch eine Kampagne zur Befreiung von Angela Davis. Daher sehe ich diese Bilder als symbolisch dafür, die Macht der Vielen zu nutzen und das zu erreichen, was damals als unmöglich galt.

René de Guzman: Um auf 1989 zurückzukommen, auf den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Fall der Berliner Mauer. Hatte dieser historische Moment einen Einfluss auf Sie, und wenn ja, welchen?

Angela Y. Davis: Nun, natürlich. Der Fall der Berliner Mauer war der Beginn des Zusammenbruchs der Sozialistischen Gemeinschaft der Nationen. Nicht nur der DDR, sondern auch der Sowjetunion und Bulgarien und der Tschechoslowakei und Polen usw. und ich würde sagen, dass einerseits klar war, dass es tiefe Probleme in dem gab, was damals als real existierender Sozialismus bezeichnet wurde. Aber ich bin auch besorgt, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten und dass wir einige Errungenschaften der DDR, der Sowjetunion vergessen, wie zum Beispiel die kostenlose Gesundheitsversorgung, Wohnraum und Bildung. Ich hatte eine Freundin aus den USA, eine junge weiße Frau, die sehr klug war, aber hier auf Sozialhilfe angewiesen war und ein Kind bekam und den Wunsch hatte, auf die Universität zu gehen, aber sie konnte es nicht. Sie war in der Kommunistischen Partei engagiert. Ich war damals Kommunistin. Sie zog in die Sowjetunion und fast sofort konnte sie sich an der Universität einschreiben. Sie bekam eine kostenlose Kinderbetreuung. Sie hatte alles, was sie brauchte, um ihren Traum vom Universitätsbesuch zu verwirklichen. Schließlich wurde sie Anthropologin. Das wäre in den USA nie passiert.
Meine Sorge ist, dass die Menschen den Fall der Berliner Mauer als den Beginn des Endes des Kommunismus, des Sozialismus feiern, aber nicht fragen, was der Kapitalismus zu bieten hat. Sie fragen nicht danach, wie seit dieser Zeit und dem Aufstieg des globalen Kapitalismus die Konzentration des Reichtums in den Händen einiger weniger viel größer geworden ist. Oder nach der Art und Weise, wie die Strukturanpassung im globalen Süden zur Verarmung von Bevölkerungen geführt hat, die zuvor ein gewisses Maß an Sozialleistungen und sozialer Entlastung hatten.
Ich denke, es ist sehr wichtig, nicht davon auszugehen, dass der Kapitalismus der einzige Weg ist und dass der Kapitalismus die Zukunft ist. Wenn der Kapitalismus die Zukunft des Planeten darstellt, werden wir keinen Planeten mehr haben. Der Klimawandel ist so gefährlich. Unser jetziger Weg kann nur zur Zerstörung des Planeten führen, denn der Kapitalismus ist nur an Profit interessiert. Der Profit ist die treibende Kraft des Kapitalismus. Ich denke, es ist wichtig, dass wir uns die Geschichte dieser Länder anschauen und herausfinden, was wir retten müssen, um uns eine bessere Zukunft vorstellen zu können.

René de Guzman: Sie sprachen ein wenig über das politische Gedächtnis. Es gibt ein Bild von Ihnen in Ostdeutschland. Es sieht so aus, als seien Sie gerade erst angekommen und Sie werden von den Ostdeutschen sehr euphorisch empfangen. Eine davon ist eine junge Ostdeutsche, die ihr Kind mitgebracht hat. Erinnern Sie sich an diesen Moment? Was halten Sie von solchen Momenten, sind solche Erinnerungen schön?

Angela Y. Davis: Ja. Als ich nach meinem Prozess in die Deutsche Demokratische Republik ging, wollte ich Orte in der Welt besuchen, an denen beeindruckende Kampagnen organisiert worden waren. Ich konnte nicht alle Orte besuchen, aber ich besuchte die Deutsche Demokratische Republik, die Sowjetunion, Bulgarien, Kuba, Chile, Frankreich und viele Städte in den ganzen USA. Also war ich eine Zeit lang auf Tournee, um den Menschen zu danken. In diesem Zusammenhang besuchte ich auch die DDR. Ich erinnere mich an die Begeisterung, mit der mich die jungen Menschen in der DDR begrüßten. Ich weiß, dass die Kampagne um meine Freiheit in der DDR nicht nur eine Forderung nach meiner Freiheit war. Sie stellte auch aus ihrer Sicht eine Möglichkeit dar, die Energie der jungen Menschen in der DDR zu bündeln, die sich nicht unbedingt an den bestehenden politischen Status quo anpassen wollten – lassen Sie es mich so ausdrücken. Für sie repräsentierte ich etwas Radikales und Revolutionäres, aber gleichzeitig repräsentierte ich antiimperialistische Energie, antikapitalistische Proteste. Ich habe einen ganz besonderen Platz in meinem Herzen für alle jungen Menschen in der damaligen DDR. Mit einigen von ihnen habe ich in den letzten Jahrzehnten gesprochen. Natürlich sind sie erwachsen, sie sind jetzt alt [lacht], so wie ich. Ich erinnere mich insbesondere an ein Gespräch mit einer Person, die es so sehr schätzte, an dieser Kampagne teilnehmen zu können, weil sie sagte, dass sie sich dadurch als Teil von etwas Großem, etwas Weltumspannenden fühlen würde. Ich kann mir vorstellen, dass es für Menschen, die in der DDR lebten, die damals sehr isoliert war, wirklich wichtig war, dass sie dieses Gefühl hatten, Teil von etwas Globalem zu sein und mitgestalten zu können. Das ist wirklich wichtig für mich. Ich liebe es, all die Postkarten zu lesen, die heute, nun, die meisten davon befinden sich jetzt in Archiven in Stanford, mit Kinderzeichnungen von Rosen und Grüßen an meinem Geburtstag an mich.

René de Guzman: Sie haben einmal gesagt, dass wir in Gemeinschaft mit Menschen sind, die noch nicht geboren sind. Ich glaube, Sie haben auch gesagt, dass unser Problem die Ungeduld ist: Wir erwarten, dass sich unsere Auswirkungen noch zu unseren Lebzeiten zeigen, aber in Wirklichkeit müssen wir fünf Generationen weiter über unsere Auswirkungen nachdenken.

Angela Y. Davis: Genau das ist der Fall.

René de Guzman: Wie können wir eine Welt fünf, sechs, sieben Generationen von heute an gestalten?

Angela Y. Davis: Nun, um diese Frage bezüglich unserer Beziehung zur Zukunft zu beantworten, denke ich, dass wir auch die Vergangenheit in Betracht ziehen könnten. Wir könnten uns auch die Frage stellen, wer dafür verantwortlich ist wo wir heute stehen? Wie kommt es, dass wir die Repräsentant*innen, Inkarnationen, Erscheinungsformen dessen sind, wofür die Menschen vor Jahrzehnten und Jahrhunderten gekämpft haben? Deshalb haben wir eine Beziehung zu denen, die gegen die Sklaverei gekämpft haben, zu denen, die gegen völkermörderische Kolonialisierung gekämpft haben, die auch heute noch in vielerlei Hinsicht die indigenen Völker betrifft. Ich denke, es ist unsere Aufgabe, heute eine Arbeit zu leisten, die nicht so sehr die Ziele erreicht, die wir uns vielleicht vorstellen, sondern die diese Ziele immer weiter am Leben erhält, so dass wir sie von einer Generation an die nächste weitergeben können. Wenn man mich oft fragt, warum gerade die Schwarze Geschichte wichtig ist, sage ich, dass Menschen afrikanischer Abstammung in dieser Hemisphäre, in Amerika, in vielerlei Hinsicht eine Inspiration für Menschen sind, die weltweit für Freiheit kämpfen, denn nach vierhundert, fünfhundert Jahren geht der Kampf immer noch weiter. Und er wurde von einer Generation an die nächste weitergegeben. Natürlich gibt es manchmal Flauten, es gibt Ebbe, aber manchmal bricht er hervor; er ist zum Beispiel in Brasilien ausgebrochen, er ist vor einigen Jahren in diesem Land mit der Black-Lives-Matter-Bewegung ausgebrochen.
Es ist mir sehr wichtig, sich eine Zukunft vorzustellen, die wir nie wirklich erleben werden. Aber wir werden ein Teil davon sein, wenn wir die Arbeit leisten, die diese Ziele, diese Bestrebungen am Leben erhält. Einige Kulturen kultivieren dieses langwierige Selbstverständnis. Indigene Kulturen haben eine ganz andere Zeitlichkeit. Die kapitalistische Kultur hingegen misst die Zeit mit der Lebenszeit eines einzelnen Individuums und dem Erbe des Geldes, des Kapitals. Ich denke, wir sollten uns alle von der Tatsache inspirieren lassen, dass es uns heute möglich ist, Arbeit zu leisten für welche die Menschen in hundert oder zweihundert Jahren dankbar sein werden. Sicherlich steht die Klimabewegung, die Forderung der Jugend nach einem Ende des Klimawandels, für ihr Bewusstsein, dass sie keine Zukunft haben werden, wenn die globale Erwärmung weitergeht. Sie werden keine Zukunft haben, wenn sie nicht in der Lage sind, der Ausbeutung der Umwelt Einhalt zu gebieten. Ich denke, dass wir viel von ihrer Fähigkeit lernen können, sich als Erwachsene vorzustellen und sich ihre Kinder und Kindeskinder und Kindeskindeskinder vorzustellen.

René de Guzman: Viele Menschen, mich eingeschlossen, sind von Ihrer Widerstandsfähigkeit fasziniert. Wie bewahren Sie die Hoffnung? Gibt es süße tolle Erfolge, die Ihnen auf Ihrem Weg helfen?

Angela Y. Davis: Ja, es gibt Erfolge, die mir auf dem Weg helfen. Ich denke, meine eigene Widerstandsfähigkeit und die derer, die in meinem Alter sind, meiner Wegbegleiter*innen, meiner Freund*innen, ist aus dem Bewusstsein heraus entstanden, dass Freiheit ein ständiger Kampf ist. Wenn wir ernsthaft für die Freiheit eintreten wollen, müssen wir bereit sein dafür zu kämpfen. Wie Toni Morrison sagte, besteht Freiheit darin, für die Freiheit anderer zu kämpfen, daher macht es keinen Sinn, Freiheit so zu definieren, dass sie nur für Einzelpersonen gilt. Man kann sich nicht allein frei fühlen. Ich weiß, dass die Menschen an die individuelle Freiheit glauben, aber Freiheit bedeutet im Wesentlichen, die Möglichkeiten für eine immer größere Zahl von Menschen zu erweitern. Ich bin sehr froh, dass ich mich an Bewegungen beteiligt habe, die das getan haben. Ich bin glücklich, eine Zeugin zu sein, ein Zeugnis für diejenigen zu geben, die nicht hier sind, denn ich lebe seit einem dreiviertel Jahrhundert und viele Menschen haben es nicht bis hierher geschafft. Ich sehe mich als Stellvertreterin für sie, als Zeugin für andere. Ich bin sehr aufgeregt, wenn ich junge Menschen sehe, die sich so mühelos auf die Art von Diskurs einlassen, für den wir so lange gebraucht haben, um ihn zu verstehen. Ich meine, die Metapher der einen Generation, die auf den Schultern der anderen Generation steht, ist treffend, denn sie ist stärker, sie ist größer, sie kann weiter sehen. Ich gehöre nicht zu den älteren Menschen, die zu den jungen Leuten sagen: „Ihr macht es falsch. Das ist die Art und Weise, wie es getan werden sollte.“ Ich freue mich, wenn junge Leute experimentieren. Ich freue mich sogar, wenn sie Fehler machen, denn wir lernen aus Fehlern. Ich würde sagen, dass meine Widerstandsfähigkeit aus der kontinuierlichen Interaktion mit den jüngeren Generationen und der Erkenntnis resultiert, dass sie jetzt die führenden Köpfe sind und dass es meine Aufgabe ist, von ihnen zu lernen.

René de Guzman: Würden Sie, wenn Sie können, den Moment beschreiben, in dem Sie sich am freisten gefühlt haben?

Angela Y. Davis: Ich glaube, dass ich mich am freisten fühle, wenn ich mit anderen in der Gegenwart großer Kunst bin. Wenn ich bei einem Konzert bin, erstaunliche Musik höre und mir bewusst wird, dass ich in Gemeinschaft mit anderen bin, die ziemlich genau dasselbe Gefühl haben. Ich denke, die Kunst lehrt uns, wie wir uns frei fühlen. Wie wir uns frei fühlen, auch wenn wir gezwungen sind, unter Bedingungen der Unfreiheit zu leben.

René de Guzman: Gibt es irgendetwas, das wir besprochen oder nicht besprochen haben, oder etwas, das in unserem Gespräch aufgetaucht ist, über das Sie gerne weitersprechen möchten, mit dem Gedanken, dass diese Aufzeichnung überdauern wird und Sie vielleicht zukünftige Generationen ansprechen werden?

Angela Y. Davis: Ich würde sagen, was mich begeistert, sind die ständigen Veränderungen. Ich denke an die Tatsache, dass es vor zehn oder fünfzehn Jahren, wenn Sie Transgender-Gemeinschaften erwähnt hätten, kaum eine Reaktion gab. Und die Menschen waren so sehr mit dieser binären Vorstellung von Geschlecht und den Auswirkungen von Ideologie belastet, dass es sehr schwierig war, ein ernsthaftes Gespräch über Transgender und ihre Rechte zu führen. Dann haben wir uns innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne enorm verändert. Wir erkennen, wie wichtig es ist, kritisch darüber nachzudenken, was wir uns als normal vorstellen. Das bedeutet, dass wir über alles andere, was wir ebenfalls als normal ansehen, nachdenken müssen, denn im akzeptierten Sinne des Normalen entdecken wir die größten Herausforderungen für eine Veränderung. Ich möchte mich als jemanden betrachten, der weiterhin kritisch gegenüber dem, was als normal gilt, ist, auch in Bezug auf mich selbst. Ich weiß, dass ich noch viel mehr zu erkennen habe, um mich zu verändern. Und ich hoffe, dass sich mir viele Menschen anschließen.

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