Rosinenpicker
Vererbtes Unglück

Auch in seinem neuen Roman nimmt Lukas Bärfuss die existenziellen Nöte des Menschen in der modernen, kapitalistischen Gesellschaft in den Blick. Hier erzählt er vom Schicksal einer alleinerziehenden Mutter.

Bärfuss: Die Krume Brot © Rowohlt Ungleichheit aufgrund von Herkunft beschäftigt Lukas Bärfuss schon länger. In seinem letzten Buch Vaters Kiste (2022) erzählt der Schweizer Autor anhand seiner eigenen Familiengeschichte von vererbter Ungerechtigkeit und Ungleichheit. In seinem aktuellen Roman Die Krume Brot hat der Schweizer Autor dieses Thema erneut aufgegriffen und fiktionalisiert. Es ist die Geschichte von Adelina, einer italienischstämmigen Schweizerin, die ihr Leben lang um ihre Existenz kämpfen muss.

Bereits der erste Satz verweist darauf, dass das Schicksal der Protagonistin möglicherweise durch ihre Familiengeschichte vorbestimmt ist: „Niemand weiß, wo Adelinas Unglück seinen Anfang nahm, aber vielleicht begann es lange vor ihrer Geburt, fünfundvierzig Jahre vorher, um genau zu sein.“ Damals – noch zu Zeiten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie – hatte Adelinas aus Triest stammender Großvater in Graz Jura studiert, aber die verbotenen Schriften von Cesare Battisti gelesen. Der kämpfte im Ersten Weltkrieg auf der Seite Italiens gegen Österreich-Ungarn. Auch Adelinas Großvater wird zum glühenden italienischen Nationalisten, schließt sich den italienischen Truppen an und hört nach dem Ende des Kriegs fasziniert einem „herrlichen“ Redner namens Mussolini zu.

Adelinas Vater Mario spielt das Schicksal ebenfalls übel mit. Als Marios nationalistischer Vater von einem unbekannten Vetter erfährt, dass in den Adern seiner jung verstorbenen Frau und somit auch in den Adern seines Sohnes angeblich slawisches Blut fließe, straft der Vater seinen Sprössling mit Missachtung, ja, er schickt den zarten, verträumten Jungen zum Militär – obwohl er es hätte verhindern können – und damit in den Zweiten Weltkrieg. Er will sein Leben nicht „für die Erziehung eines Slawen“ verschwenden.

Allmähliche Zermürbung

Mario kehrt aus dem Krieg zurück, wird von seinem Vater aber erneut verstoßen. Er soll die Heimatstadt Triest verlassen. Der junge, aber bereits von Leben gezeichnete Mann gibt sich in der Schweiz seinen Träumen von einer Intellektuellenexistenz hin und hinterlässt am Ende seines Lebens nichts als Schulden. Der Erzähler charakterisiert Marios Lebensweg so: „Unglücke geschahen keine, das Leben war das Unglück, es floss dahin und kannte nur eine Richtung, hin zur allmählichen Zermürbung.“

Die Schicksale wiederholen sich. Mario ist von seiner Tochter ebenfalls enttäuscht. Denn Adelina hat eine Lese- und Rechtschreibschwäche, und somit keinen Zugang zur vom Vater so geliebten Welt der Bücher, des Geistes. Auch wenn er weiß, dass niemand Schuld trifft, kann er nicht anders, als die „Blödheit seiner Tochter“ persönlich zu nehmen: „Er glaubte, seine Tochter wolle ihn bestrafen, auf eine hässliche, böse Weise, wie sein Vater ihn bestraft hatte“.

Adelina, die keineswegs dumm ist, sondern musisch begabt, arbeitet nach der Schule in einer kleinen Wäscherei, wo ihr auch ihr Geschick als Flickschneiderin zugutekommt. Nach dem Tod des Vaters bittet Adelinas Mutter ihre Tochter, das Erbe trotz der Schulden des Vaters anzunehmen. Nach anfänglichem Widerstand fügt sich Adelina. Damit ist die Prekariatsfalle zugeschnappt, zumal sich ihre Mutter kurz nach Bestattung des Vaters mit einem neuen Mann nach Italien aus dem Staub macht. Nun sitzt Adelina auf den vererbten Schulden – eine Bürde, die zu groß ist, wie ihr weiterer Lebensweg zeigt.

Moralischer Antrieb

Adelina kann es sich nicht mehr leisten, die Lehre in der Wäscherei fortzusetzen, und verdingt sich als Fließbandarbeiterin in einer Suppenfabrik. Bald lernt sie einen Italiener kennen, verliebt sich und wird schwanger. Salvatore arbeitet im Tiefbau, erhält immer nur eine begrenzte Arbeitserlaubnis für die Schweiz und kommt eines Tages nicht mehr zurück.  Als verschuldete Alleinerziehende hat Adelina einen noch schwereren Stand. Sich neben der Arbeit um die Tochter zu kümmern, ist nahezu unmöglich.

Adelina gibt trotzdem nicht auf, stemmt sich gegen die misslichen Umstände, arbeitet als Bardame. Als sie auf den wohlhabenden Emil trifft, begleicht dieser sogar ihre Schulden. Allein, sie ist nicht glücklich in diesem bourgeoisen Umfeld, befreit sich und landet, es ist das Jahr 1973, im Umfeld der Roten Brigaden. Doch statt wirkliche Unabhängigkeit zu gewinnen, wird sie von dem Anführer der Mailänder Terrorzelle belehrt und manipuliert. Adelinas Armut hat wieder ihren Preis, den auch ihre eigene Tochter zahlt. Das vererbte Unglück setzt sich womöglich in der nächsten Generation fort. Bärfuss hat angekündigt, dass Die Krume Brot der erste Teil einer Trilogie ist. Man wird sehen, ob er hier anknüpft.

Bärfuss präsentiert mit diesem Roman eine Geschichte, die das Thema sozialer Determinismus illustriert. Das brachte ihm nicht nur positive Resonanz. So kritisiert Roman Bucheli in der NZZ sowohl  „handwerkliche Fehler“, die ein Beleg für Bärfuss‘ Desinteresse an seiner Hauptfigur seien, und  bezeichnet den Roman zudem als „eine dürftig kaschierte Umsetzung seiner programmatischen Thesen“. Sicherlich sind die Figuren etwas schablonenhaft, doch Bärfuss legt den Finger in die Wunde der gesellschaftlich zementierten sozialen Ungleichheit. Dass der moralische Impetus des Autors – als er 2019 den Georg-Büchner-Preis erhielt, wurde seine „Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse“ zu Recht gelobt – deutlich durchscheint, nimmt dem Roman nichts von seiner erzählerischen Kraft.
 
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Lukas Bärfuss: Die Krume Brot. Roman
Hamburg: Rowohlt, 2023. 224 S.
ISBN: 978-3-498-00320-3
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