Rosinenpicker
Wundervolle Wespenwelt

Wenn sie sich nähert, wird sie sofort verjagt. Sie gilt als Plage des Sommers – dabei hat sie vor allem Gutes zu bieten. Michael Ohl über die Wespe und ihre unschätzbare Rolle in unserem Ökosystem.

Ohl: Wespen © Matthes & Seitz Stell Dir vor, du solltest anhand unterschiedlicher Attribute beschrieben werden und das Ergebnis ist das Folgende: aggressiv, lästig, unberechenbar, gefährlich. Mit diesen Zuschreibungen wäre wohl kaum jemand zufrieden. Wer hierüber allerdings in Unwissenheit leben muss, ist der schwarz-gelbe Hautflügler, wie wir ihn hierzulande jeden Sommer zu sehen und gelegentlich auch zu spüren bekommen: die Wespe.

Ob beim Picknick, beim Frühstück im Garten oder auf der Grillparty – insbesondere im Spätsommer ist auf den ungeladenen Gast Verlass. Objekt der Begierde sind jedoch nicht wir Menschen, sondern der Pflaumenkuchen oder die Marmelade, die Wurst oder der Braten. Entgegen der Maxime „sharing is caring“ reagieren wir Menschen hierauf enerviert und aus Sicht der Wespe womöglich so, wie wir die ungeliebten Hautflügler charakterisieren würden, nämlich: aggressiv, lästig, unberechenbar, gefährlich.

Imagepflege

Fakt ist: Die Wespe hat ein Imageproblem. Viele Menschen stellen sich die Frage, wozu es Wespen überhaupt gibt. Antworten hierauf bietet das Buch Wespen des Wissenschaftlers Michael Ohl. Das farbenreich illustrierte Bändchen zum Thema Wespen ist in der Reihe Naturkunden im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen – und eine gelungene Hymne auf und eine leidenschaftliche Verteidigung der vielgestaltigen Hautflügler.

Der Wespenforscher Ohl weist darauf hin, dass die Frage nach dem Sinn und Zweck der Wespe eine durch und durch anthropozentrische Frage ist und dem Prinzip der sogenannten Ökosystemdienstleistung zugeordnet wird. Dahinter steckt die Frage, welche erkennbaren Funktionen und Leistungen der Natur dem Menschen auf direktem oder indirektem Wege dienen – in diesem Fall: Was macht die Wespe eigentlich für uns?

Hier führt Michael Ohl allerhand Beispiele auf. Eine unerlässliche Tätigkeit, die eben nicht nur die allseits beliebte Biene verrichtet, ist die Blütenbestäubung. Allein 164 Arten „werden ausschließlich von stechenden Wespen bestäubt. Aber auch ansonsten tragen Wespen zur Bestäubung derjenigen Pflanzen bei, die überwiegend von Bienen besucht werden.“

Warnfarben

Verständlich und lehrreich weiht uns Michael Ohl in den Kosmos Wespe ein. Seit jeher ist der Mensch von ihr gleichermaßen fasziniert wie abgeschreckt, und dies ist nicht allein auf das vermeintlich aggressive Verhalten der Hautflügler zurückzuführen, sondern auch auf ihr Erscheinungsbild. Das schwarz-gelbe Äußere der Wespe assoziiert sowohl der Mensch als auch das Tier als Warnsignal. Es vermittelt die Botschaft: „Vorsicht, ich bin wehrhaft! Komm mir nicht zu nahe, ich kann schmerzhaft stechen!“

Diese Eigenheit führt in der Natur zu Missbrauch. So gibt es viele völlig harmlose Insektenarten, die die Warnfarben der Wespen evolviert haben und somit Gefahr vortäuschen. Diese Art der Täuschung und Nachahmung nennt man Mimikry. Der Mensch wiederum täuscht zwar nicht vor, eine Wespe zu sein, doch inspiriert hat sie ihn beispielsweise in der Mode und im Design. Zugleich ist die Wespe Namensgeberin im Bereich der Technik: Kriegsgeräte wurden ebenso nach ihr benannt wie der weltberühmte Motorroller „Vespa“ oder das Motorradmodell „Hornet“ (Hornisse) der Firma Honda. In der Kunst, insbesondere im ausgehenden 19. Jahrhundert sowie im beginnenden 20. Jahrhundert, diente die Wespe als Namenspatin von Satire-Zeitschriften und Kabaretts, und in der Literatur ist sie bis heute Motiv und Metapher für Angriffslust und Schmerz.

Die Schönheit der Hautflügler

Wespen gehören der Insektenordnung der Hautflügler an, von denen weltweit knapp 153.000 Arten bekannt sind. In Deutschland sind Hautflügler sogar die artenreichste Insektengruppe und tragen wesentlich zur Artenvielfalt bei. Jede Wespenart zeichnet sich durch ihre individuelle Verhaltens- und Lebensweise ebenso aus wie durch ihr artenspezifisches Äußeres. In seinem Büchlein gelingt es Michael Ohl auf anschauliche und einleuchtende Art, von eben jener Mannigfaltigkeit und Schönheit der Wespen zu erzählen, und zeigt darüber hinaus, dass Wespen viel mehr und vor allem anders sind als der ihr vorauseilende schlechte Ruf.  
Rosinenpicker © Goethe-Institut / Illustration: Tobias Schrank Michael Ohl: Wespen. Ein Portrait
Berlin: Matthes & Seitz, 2023. 135 S.
ISBN: 978-3-7518-0225-3