Moderne Archäologie
Geschichtsunterricht unter der Erde

Mauernachzeichnung auf dem Areal der Gedenkstätte Berliner Mauer;
Mauernachzeichnung auf dem Areal der Gedenkstätte Berliner Mauer; | Foto: J. Hohmuth © Stiftung Berliner Mauer

Archäologen gelten vor allem als Experten für die Antike. Doch sie graben auch nach Relikten der jüngeren Vergangenheit – beispielsweise an der Berliner Mauer.

Wie an einem Grab stehen die Besucher an den sogenannten archäologischen Fenstern der Gedenkstätte Berliner Mauer und schauen mit gesenkten Köpfen durch eine Glasscheibe im Boden auf die Überreste des Todesstreifens: Fußabdrücke der Grenzwächter auf dem Patrouillenweg, Panzersperren, Patronenhülsen, Stacheldraht, Karabiner und Seile der Laufanlage für die Schäferhunde.

Als der Archäologe Torsten Dressler, Spezialist für moderne Archäologie, 2007 an der Bernauer Straße in Berlin zu graben anfing, belächelten Kollegen seine Arbeit. Vier Jahre lang suchte er mit seinem Team als erster Wissenschaftler nach den archäologischen Spuren des Sperrwalls. Denn die Mauer ist zwar weg, aber nicht verschwunden. Ihr Skelett liegt unter der Erde begraben. Was das mit Archäologie zu tun habe, sei er damals von den Architekten der Gedenkstätte Berliner Mauer gefragt worden. „Zeitgeschichtliche Archäologie hat es extrem schwer, anerkannt zu werden“, sagt Dressler. Dabei reiße doch eine ausgegrabene Bronzezeitsiedlung heute erst recht keinen mehr vom Hocker.

Das weltweit jüngste archäologische Denkmal

Erst als er 2011 zum 50. Jahrestag des Mauerbaus die Ergebnisse seiner Arbeit präsentierte, verstummten die Kritiker. Der von ihm erforschte Teil des Grenzstreifens an der Bernauer Straße mit dem freigelegten Grundriss der 1985 gesprengten Versöhnungskirche wurde unter Denkmalschutz gestellt. Damit verhinderte Dressler, dass weitere Luxuslofts auf dem geschichtsträchtigen Areal gebaut wurden. Heute gilt die Berliner Mauer als weltweit jüngstes archäologisches Denkmal.

Warum hat es zeitgeschichtliche Archäologie so schwer? Lange beschäftigten sich Archäologen vor allem mit Ur- und Frühgeschichte; teilweise reichte ihr Forschungsinteresse noch bis ins Mittelalter. Ausgrabungen, die sich mit der Geschichte und Kultur des 20. Jahrhunderts befassen, finden in Europa erst seit circa 1990 statt. Gerade die Zeit des Nationalsozialismus wurde lange Jahre verdrängt.

Der Boden birgt viele Geheimnisse

Erst seit dem Beginn der Aufarbeitung der NS-Zeit und der DDR-Vergangenheit wird auch in Deutschland vermehrt nach Objekten der jüngeren Geschichte gesucht. 1992 einigte sich Europa mit der Konvention von Valletta darauf, auch jüngere Relikte als archäologisches Erbe anzuerkennen.

Ausgebildete Archäologen sind aber nicht die Einzigen, die sich für Relikte in der Erde interessieren. Gerade im Bundesland Brandenburg, wo so gut wie jede Fläche Schlachtfeld eines Krieges war, suchen Hobbyarchäologen nach Militaria. Ohne Genehmigung graben sie und verkaufen alles, was sie finden, über das Internet oder auf Märkten: Waffen, Munition und sogar Sprengstoff, aber auch Teile von abgestürzten US-Flugzeugen oder Panzern. Am besten verkaufen sich auf dem Schwarzmarkt Objekte, auf denen ein Hakenkreuz abgebildet ist. Amateur-Archäologen spekulieren in Internetforen auch gerne über verschollene Schätze. Das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschollene Bernsteinzimmer des Preußenkönigs Friedrich I. wird demnach unter der Erde in Oranienburg vermutet, der angebliche Goldschatz des Nationalsozialisten Hermann Göring in einem See in Brandenburg.

In den Nebenlagern der KZs fanden Forscher Fanta-Flaschen

Claudia Theune kämpft gegen eine verfälschte Überlieferung von Geschichte. Die Leiterin des Instituts für Urgeschichte und Historische Archäologie in Wien lehrt als einzige Wissenschaftlerin im deutschsprachigen Raum zeitgeschichtliche Archäologie des 20. Jahrhunderts. In ihrem Buch Archäologie an Tatorten des 20. Jahrhunderts beschäftigt sie sich mit Ausgrabungen vom Ersten Weltkrieg bis hin zu modernen Industriegeländen.

Nach Theunes Ausführungen haben Historiker die Geschichte der großen Konzentrationslager der Nationalsozialisten bereits seit Ende der 1980er-Jahre umfangreich aufgearbeitet, aber sich erst in den vergangenen 15 Jahren der etwa 1.200 bis dahin weitgehend unbekannten Nebenlager angenommen. Dort fanden sie Spuren, die neue Erkenntnisse über das Leben im Lager lieferten. So waren im Boden etwa Fanta-Flaschen vergraben. Im sogenannten Dritten Reich wurden die Rohstoffe zur Herstellung von Coca-Cola knapp, die Orangenlimonade aus Essen diente ab 1940 auch den KZ-Wärtern als Ersatzgetränk.

Löffel und Kämme zeigen den Willen ums Überleben

Aber auch selbstgemachte Löffel aus Aluminium oder Kämme fanden die Forscher unter der Erde. „Sie sagen viel über das Elend der Opfer, aber auch über ihren Willen und den Kampf ums Überleben aus“, erklärt Claudia Theune. „Jemand, der noch Hygiene betreibt, hat sich nicht aufgegeben. So etwas kann kein Bild und kein Text erklären.” Ist Archäologie also auch haptischer Geschichtsunterricht? „Ja“, sagt die Professorin. „Objekte haben eine sehr hohe Aussagekraft über den Menschen aus der Vergangenheit. Sie berühren uns emotional oft stärker als Texte.“