Gemüse aus der Stadt
Ohne Erde und Sonne

Der Firmensitz von Infarm in Berlin-Kreuzberg
Der Firmensitz von Infarm in Berlin-Kreuzberg | © Infarm

Bevölkerungswachstum und Urbanisierung stellen die globale Lebensmittelversorgung vor große Herausforderungen. Liegt die Zukunft der Landwirtschaft in der Stadt? Mitten in Berlin baut eine kleine Firma in einer ehemaligen Fabrik Gemüse an.

Über sieben Milliarden Menschen bevölkern heute die Erde, nach Schätzungen der Vereinten Nationen werden es im Jahr 2050 neun Milliarden sein. Zweidrittel von ihnen werden in Städten leben. Diese Entwicklungen stellen die globale Lebensmittelversorgung auf eine harte Probe. Um die Weltbevölkerung von morgen ernähren zu können, bedarf es zusätzlicher Ackerflächen. Doch wird ein Großteil der als Ackerland brauchbaren Flächen bereits bewirtschaftet. Wüstenbildungen verschärfen das Problem zusätzlich.

Um das Problem zu lösen, greift Dickson Despommier mit seinen Studenten an der New Yorker Columbia University einen alten Gedanken der Architektur auf: nach oben zu bauen, wenn in der Stadt der Platz knapp wird. Der Professor für öffentliche Gesundheit und Mikrobiologie entwickelte die Idee der vertikalen Landwirtschaft: Der Anbau von Gemüse und Früchten solle in Wolkenkratzer, sogenannte Farmscrapers, verlegt werden. Dies hätte nicht nur den Vorteil, Platz zu sparen, sondern verbrauche auch 90 Prozent weniger Wasser als herkömmlicher Anbau. Vertikale Landwirtschaft ermögliche ganzjährige Ernten, vermeide witterungsbedingte Ernteausfälle und komme ohne Pestizide aus. Die Nahrung würde nah am Verbraucher angebaut, sodass sich lange Transportwege erübrigten. Forscher auf der ganzen Welt arbeiten fieberhaft daran, den Anbau von frischem Grün in gestapelten Gewächshäusern Wirklichkeit werden zu lassen.

Lebensmittel in der Stadt anbauen

  • Zwischen 100 und 120 Gemüsesorten bevölkern die ehemaligen Fabrikräume. © Infarm
    Zwischen 100 und 120 Gemüsesorten bevölkern die ehemaligen Fabrikräume.
  • Die Infarm-Gründer Erez und Guy Galonska und Osnat Michaeli sind Autodidakten. © Infarm
    Die Infarm-Gründer Erez und Guy Galonska und Osnat Michaeli sind Autodidakten.
  • Der Firmensitz: ein Mix aus Forschungslabor, vertikaler Farm und Veranstaltungsraum. © Infarm
    Der Firmensitz: ein Mix aus Forschungslabor, vertikaler Farm und Veranstaltungsraum.
  • Prinzip der vertikalen Landwirtschaft: Eine Wand dient als Anbaufläche. © Infarm
    Prinzip der vertikalen Landwirtschaft: Eine Wand dient als Anbaufläche.
  • Indoor Farming soll die urbane Lebensmittelversorgung revolutionieren. © Infarm
    Indoor Farming soll die urbane Lebensmittelversorgung revolutionieren.
  • Mit „Pipe Garden“, einem hydroponischen Röhrensystem, begann die Vision von Infarm. © Infarm
    Mit „Pipe Garden“, einem hydroponischen Röhrensystem, begann die Vision von Infarm.
  • Unter LED-Beleuchtung werden flüssige Nährstoffe direkt an die Wurzeln herangebracht. © Infarm
    Unter LED-Beleuchtung werden flüssige Nährstoffe direkt an die Wurzeln herangebracht.
  • Die gewählte Wellenlänge der Leuchtdioden ist ideal für die Photosynthese der Pflanzen. © Infarm
    Die gewählte Wellenlänge der Leuchtdioden ist ideal für die Photosynthese der Pflanzen.
  • Bei Infarm wachsen Pflanzen übereinander gestapelt in Regalen auf. © Infarm
    Bei Infarm wachsen Pflanzen übereinander gestapelt in Regalen auf.
  • Gemüseraritäten wie Bonzai-Basilikum werden an Hotel- und Restaurantküchen geliefert. © Infarm
    Gemüseraritäten wie Bonzai-Basilikum werden an Hotel- und Restaurantküchen geliefert.
Auch auf einer Fabriketage in einem Kreuzberger Hinterhof mitten in Berlin wird an Alternativen zur herkömmlichen Landwirtschaft getüftelt. Dort betreiben drei junge Israelis, Guy Galonska mit seinem Bruder Erez und dessen Frau Osnat Michaeli, seit Februar 2014 ein Start-up namens Infarm, kurz für „Indoor Farming“. Begonnen hat alles im heimischen Wohnzimmer: Durch Herumprobieren machten die drei die Ideen der vertikalen Landwirtschaft für sich nutzbar, um Sprossen, Keimlinge und Kräuter im Innenraum anzubauen. Inspiriert wurden sie auch durch ein Projekt der NASA. Es erforscht, wie sich Astronauten auf ihrem immer längeren Missionen mit selbstgepflanztem Gemüse versorgen können. Erfahrung mit Landwirtschaft hatte keiner der drei Infarm-Gründer. Dafür aber verband sie der Plan, selbstversorgend zu leben und die Vorteile selbstangebauter pflanzlicher Nahrung in die Stadt zu bringen.

Was als bloßes Experiment begann, ist heute ein Geschäftsmodell, das kein geringeres Ziel verfolgt, als die urbane Lebensmittelversorgung zu revolutionieren. Mit Infarm wollen die drei Autodidakten Farmmodule herstellen, die von Hotels, Restaurants oder auch Privatleuten einfach installiert werden können, um sich das ganze Jahr über selbst mit hochwertiger, öko-freundlicher Nahrung zu versorgen. Dadurch soll der Anbau komplett dezentralisiert werden: Lebensmittel kämen dann nicht mehr „aus der Region“, sondern aus dem eigenen Keller oder Dachboden.

Frisches Grün aus dem Labor

Eine ganz besondere Atmosphäre herrscht in den ehemaligen Fabrikräumen, in denen Infarm heute Indoor Farming betreibt: Es mischen sich die natürlichen Wachstumsbedingungen eines Gewächshauses und die Künstlichkeit eines Labors. Pflanzen wachsen übereinandergestapelt in Regalen und hängen in kleinen Plastikkästen bis hoch unter die Decke an den Wänden. Sie sind verbunden durch dünne Schläuche, die zu einem großen Wassertank führen. Unter den für sie richtigen Bedingungen kann jede Pflanze auch im Haus wachsen. Bei Infarm konzentriert man sich auf Blattgemüse. Es ist kleiner und wächst schneller als Früchte tragende Pflanzen wie etwa Tomaten. Hauptsächlich aber baut das junge Unternehmen sogenannte „Microgreens“ an, also Jungpflanzen der verschiedensten Gemüsesorten. Ihr erstes Produkt, ein faltbares, kleines Gewächshaus zum Anbau von Microgreens, ist der erste Schritt hin zum Gemüseanbau zu Hause.

Licht beeinflusst den Geschmack

Sämtliche der zwischen 100 und 120 verschiedenen Gemüsesorten kommen bei Infarm ohne Erde und Sonnenlicht aus. Möglich wird dies durch die Technik der Hydroponik sowie LED-Beleuchtung. Die Pflänzchen werden im „Lab“ gezogen, einem violett ausgeleuchteten Experimentierlabor. Dabei kommen die Samen nicht in die Erde, sondern in ein Substrat aus Kokosfasern, das frei von Pilzen und Bakterien ist. In einem Inkubator mit gleichmäßig feuchter Wärme treiben die Samen schnell. Die Wurzeln der Pflänzchen werden alle zwei Stunden in eine nährstoffreiche wässrige Lösung getaucht. Ein Vorteil dieser Methode: Nährstoffe und Wasser, die nicht von den Wurzeln aufgenommen werden, können recycelt werden. LED-Beleuchtung erzeugt Licht mit optimalen Farbeigenschaften, um das Wachstum zu unterstützen. Deshalb wachsen Pflanzen schneller als auf dem Feld. Der Energieaufwand ist zwar momentan noch hoch, doch wird die LED-Technik immer energieeffizienter. Zudem verwende man bei Infarm grüne Energie und immerhin sei der Energieverbrauch transparent, erklären die Brüder Galonska. Zu all den technischen Raffinessen dieser Anbaumethode abseits von Sonne und Erde kommt noch, dass das Gemüse schmackhaft ist: Denn je nach Intensität und Zusammensetzung des Lichts verändert sich der Geschmack durch die Bildung von Aromen.