TTIP
Was ist uns ein Lied wert?

Deutsche und amerikanische MusikerInnen äußern sich zu TTIP
Deutsche und amerikanische MusikerInnen äußern sich zu TTIP | Johannes Kreidler, Foto: Leowee Polyester | Lou Mallozzi, Foto: Sandra Binion | Ryan Muncy, Foto: Chelsea Ross | Angelika Niescier, Foto: Arne Reimer | Michael Thieke, Foto: Eric Schaefer

Das transatlantische Handelsabkommen TTIP und die antizipierten Konsequenzen für Kultur schlagen in Europa, besonders unter KünstlerInnen, hohe Wellen. In den USA spricht man kaum darüber. Wir fragten deutsche und amerikanische MusikerInnen um ihre Meinung.

In der deutschen Musikszene befürchtet man, dass der quantitative Blick auf Quoten, Verkaufszahlen und finanziellen Gegenwert auf Kosten der Qualität und Vielfalt gehen könnte, sollte Kultur als kommerzielles Gut Teil von TTIP sein. Dies würde mehr Einfluss für Konzerne und große Produktionsfirmen bedeuten und die ohnehin prekäre Situation der Kunstschaffenden auf Chancengleichheit gefährden. Die USA ist ein globaler Musikmarkt und das Ursprungsland eines umfangreichen Musikrepertoires, das international konsumiert wird.

Professor Christian Höppner, Generalsekretär des Deutschen Musikrates, forderte Ende September 2014 in einem offenen Brief an Angela Merkel, dass die „Deregulierung der Märkte dort enden [muss], wo gemeinwohlorientierte Aufgaben berührt werden“.

In einer gemeinsamen Resolution warnen die nationalen Musikräte aus Deutschland, Österreich und der Schweiz vor den möglichen Folgen der transatlantischen Abkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) und TiSA (Trade in Services Agreement) für die Musikindustrie und Kultur im Allgemeinen. Die Kritik des Deutschen Musikrats richtet sich gegen die mangelnde Transparenz der Verhandlungen und das fehlende Bekenntnis der EU-Kommission und des Europäischen Rats zur „kulturellen Ausnahme“, der Unverhandelbarkeit kultureller Güter und Dienstleistungen. In der EU wird Kultur und Kunstförderung als öffentliche Aufgabe und Verantwortung verstanden, was unter TTIP eine Wettbewerbsverzerrung darstellen würde. Die deutschen und amerikanischen MusikerInnen und KomponistInnen Johannes Kreidler, Angelika Niescier, Michael Thieke, Lou Mallozzi und Ryan Muncy nahmen dazu Stellung.

Bedeutet TTIP ein Ende der Kreativität? Befürchten Sie eine Entwicklung hin zum Mainstream – es wird produziert, was sich verkaufen lässt, und Nischengenres verkümmern?

Johannes Kreidler: Ja, das befürchte ich.

Angelika Niescier: Ein Ende der Kreativität bedeutet TTIP sicher nicht. Aber die sowieso schwierige Lage bei der Ausübung von Off-Kunst wird eben noch schwieriger und es besteht die Gefahr, dass genau dieser sehr wichtige Teil der Kultur auch in der öffentlichen Wahrnehmung extrem marginalisiert wird – was natürlich die dementsprechende Rückkopplung auf die Lebendigkeit der Nischengenres haben könnte.

Michael Thieke: Natürlich wird TTIP kein Ende der Kreativität bedeuten. Die Frage ist allerdings: unter welchen Bedingungen diese produziert wird. In den USA war die Ausgangslage immer schon anfälliger für das Betrachten von Kultur in Hinblick auf kommerzielle Verwertbarkeit. Trotzdem hat die Kulturszene dort seit Beginn des letzten Jahrhunderts schon immer höchst Interessantes in großer Vielfalt, auch abseits des Mainstreams, produziert. Allerdings häufig unter äußerst prekären Bedingungen. Die Annäherung Europas an amerikanische Verhältnisse hätte zur Folge, dass Kreatives in Europa nur noch unter wesentlich schlechteren finanziellen Bedingungen produziert werden kann. Wir brauchen sicher nicht noch mehr Künstler, die sich mit Nebenjobs über Wasser halten müssen, in Europa wie in den USA.

Könnte sich in Europa, angestoßen durch die TTIP-Kontroverse, ein anderes Finanzierungmodell entwickeln?

Johannes Kreidler: Ich sehe dafür, jedenfalls aus dieser Perspektive, keine Notwendigkeit.

Angelika Niescier: Ohne dass ich eine konkrete Antwort parat habe: ja natürlich, in Europa muss sich eine Alternative entwickeln, die die Kunst und die Künstler der Off-Sparten unterstützt.

Michael Thieke: Die Schaffung anderer Finanzierungmodelle jenseits der staatlichen Förderung ist aufgrund der europaweiten Streichungen im Kultursektor in den letzten Jahren, die ja mitunter auch mit Hinweis auf das angeblich bessere und effektivere System in den USA lanciert wurden, schon längst im Gange. Allerdings finde ich nicht, dass sich auch nur annähernd in gleichem Maße alternative, sprich private, Finanzierungsmodelle entwickelt haben. Daher denke ich, dass durch die TTIP-Kontroverse nichts an neuen, positiven Ideen zu erwarten ist, eher das Gegenteil. Von Wettbewerbsverzerrung aufgrund von staatlicher Förderung in Europa im Gegensatz zum hauptsächlich privat (-wirtschaftlich) finanzierten Modell in den USA zu sprechen, erscheint mir absurd. Man betrachte die Programme von Festivals und Konzertreihen im Bereich Neuer/Experimenteller Musik und Jazz: In Europa profitieren sowohl europäische als auch amerikanische Künstler von staatlichen europäischen Kulturförderungen, da sie auf Kosten der meist staatlich subventionierten Veranstalter eingeladen werden. Sehr selten gibt es für die amerikanischen Kollegen staatliche oder private Hilfe aus dem eigenen Land. In den USA hingegen ist die Präsentation europäischer Kultur häufig nur unter Mithilfe der jeweiligen nationalen europäischen Kulturinstitute wie des Goethe-Instituts möglich. Wer verzerrt hier was? Ironischerweise sollten in diesem Zusammenhang gerade die USA, zumindest in Bezug auf die dort lebenden Künstler, an der Aufrechterhaltung des bisherigen Systems der staatlichen Kulturförderung in Europa interessiert sein, denn würden die staatlichen Förderungen in Europa aufgrund einer TTIP-Vereinbarung noch mehr gekürzt, wird dies europäische und amerikanische Künstler gleichermaßen negativ treffen, wenn auch vielleicht in unterschiedlich starkem Ausmaß.

Könnte das Europäische Kulturförderungsmodell in den USA funktionieren?

Lou Mallozzi: Wahrscheinlich nicht. Es verschlechtert sich bereits in Europa schrittweise, warum sollte es dann in den USA gut funktionieren? Außerdem hat die US-Bevölkerung im Allgemeinen nicht dieselbe Wertschätzung für Kultur wie die Europäer, darum ist mehr staatliche Kulturförderung unwahrscheinlich. Obwohl es absurd ist, kulturelle Produktion als Marktware und nichts anderes zu betrachten, denken viele (vermutlich die meisten) Amerikaner genauso über Kultur, falls sie überhaupt über Kultur nachdenken.

Ryan Muncy: Schwer zu sagen. Einem staatlichen Kulturförderungsmodell in den USA müssten ein großer Wandel im gesellschaftlichen Denken, nicht nur in Bezug auf Kunst, sondern auch in der Einstellung zu Steuern und Menschenrechten, sowie Diskussionen über die Verantwortung der Regierung, bestimmte Dienstleistungen zu finanzieren, vorangehen. Als Künstler kann ich mir allerdings nicht vorstellen, dass meine Kollegen und Organisationen im Kunstbereich gegen staatliche Subventionen sind. Kleine US-Kunstorganisationen sind angewiesen auf Spenden von Privatpersonen und Privatstiftungen, vermutlich ein Nebenprodukt systematisch fehlender Staatssubventionen. Das ist weniger Kritik als Beobachtung. Von einer einzigen Förderungsquelle abhängig zu sein ist riskant für jede Organisation.

Empfinden Sie eine kulturelle US-Invasion der deutschen Musikszene als reale Bedrohung?

Johannes Kreidler: Eine Invasion der US-Kultur selber nicht, aber der Finanzierungskultur.

Angelika Niescier: Inhaltlich befürchte ich mit Sicherheit keine Bedrohung - in unserer globalisierten Welt ist der sofortige Zugang zu fast allen Musikinhalten, Genres und Richtungen jederzeit möglich, was sehr inspirierend sein kann. Was ich als reale Bedrohung empfinde, ist, dass Tür und Tor geöffnet werden, an Stellen Ansprüche zu stellen und diese in Form von Klagen und Kompensationen einzufordern, die unser demokratisches System im Prinzip umgehen würden.

Michael Thieke: Die Qualität sollte bei Kultur ausschlaggebend sein, die Herkunft ist in diesem Zusammenhang kein Kriterium für mich. Und Invasion ist mir als Vokabular sowieso zu martialisch. Die Kürzungen im Kulturbereich in Europa haben zumindest in meinem Musikbereich – der sicherlich nicht dem Mainstream zuzuordnen ist – bereits jetzt eher zu weniger als zu mehr Kultur aus den USA in Europa geführt. Europa sollte sich nicht gegen Kultur aus den USA abschotten, sondern dafür sorgen, dass die eigenen Standards der Kulturförderung nicht verwässert werden, und zurückkehren zu Standards jenseits des neoliberalen Mainstreams.

Lou Mallozzi: TTIP wird auch die Arbeit von US-Musikern beeinflussen und eine ohnehin schon schwierige Situation verschärfen. Es ist bereits lächerlich, dass visiting artists in Europa als eine ökonomische Bedrohung gesehen werden und keine Gast-Visa ausgestellt bekommen.

Ryan Muncy: Da ich auf experimentelle Musik spezialisiert bin, gehöre ich zu einem Nischengenre (zeitgenössische Experimentalmusik) eines Nischenmarkts (klassische Musik). In den letzten zehn Jahren konnten wir zwar unser Publikum erweitern, aber es wäre immer noch zu früh, um von einer „Invasion“ irgendeines internationalen Markts sprechen zu können. Was Popmusik betrifft, halte ich es für möglich. TTIP und TiSA werden wohl mit Sicherheit US-Konzernen und Produktionsfirmen zu Gute kommen. Das ist wohl kaum eine Überraschung, da der Schutz großer Konzerne ein entscheidender Faktor der US-Politik ist.

Wie stehen Sie zur Forderung nach dem Ausschluss des audiovisuellen Sektors aus den TTIP-Verhandlungen?

Johannes Kreidler: Wenn schon TTIP sein muss, dann bin ich in der Tat sehr dafür, kulturelle Güter davon auszunehmen.

Angelika Niescier: Ein Ausschluss löst zwar nicht das Grundproblem, aber mindert in dem Zusammenhang zumindest den Druck auf die Kunst und Kulturschaffenden.

Michael Thieke: Auch wenn es in manchen Punkten Gesprächsbedarf gibt, zB beim Thema gleicher Arbeitsbedingungen und -erlaubnisse, halte ich überhaupt nichts davon, Kultur im Rahmen von TTIP zu verhandeln. Das Thema Kultur ist zu komplex für ein Freihandelsabkommen, und sollte sicher nicht nur unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet werden.

Lou Mallozzi: Es ist schwierig, für alle US-Künstler zu sprechen – die Meinungen amerikanischer Künstler zu Urheberrecht, Märkten, etc gehen sehr auseinander. Man kann jedoch sagen, dass alles, was das derzeitige System von einer „kulturellen Ausnahme“ wegbewegt und versucht, kulturelles Schaffen in Wirtschaftsware zu verwandeln, nicht gut aufgenommen wird.

Ryan Muncy: Angesichts der mit großer Sicherheit negativen Folgen für die Künste in Europa denke ich, dass US-Künstler die „kulturelle Ausnahme“ unterstützen würden. Das ist vielfach auch das, was wir zu Hause wollen.
 

Johannes Kreidler
geboren 1980 in Esslingen, ist Komponist Elektronischer Musik, Konzept- und Medienkünstler und lehrt derzeit an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg.

Lou Mallozzi
ist Studiokünstler in Chicago. Er ist Executive Director des Experimental Sound Studio und lehrt an der School of the Art Institute of Chicago im Sound Department.

Ryan Muncy
ist ein New Yorker Saxophonist, der neue Musik in Auftrag gibt und präsentiert. Er ist Mitglied des International Contemporary Ensemble (ICE) und war Executive Director Musikerkollektivs Ensemble Dal Niente.

Angelika Niescier
ist eine deutsche Jazz-Musikerin (Sopran- und Altsaxophon) und Komponistin, die sich ausgiebig mit interdisziplinärer Zusammenarbeit (mit Literaten und bildenden Künstlern) beschäftigt.

Michael Thieke
ist ein Berliner Klarinettist und Komponist. Vor kurzem erweiterte er seine Arbeit im Bereich der strikten Improvisation hin zum Bereich der Installationen, in welchem das Instrument durch mehrkanaliges Playback in den gesamten Raum ausgedehnt wird.

Simone Kaiser
ist Expertin im Bereich EU und europäischer Kulturpolitik. Sie absolvierte einen MA in Konferenzdolmetschen an der Universität Graz und einen MA in European Union Studies an der University of Illinois. Ihr aktueller Forschungschwerpunkt ist das Europäische Kulturerbesiegel.