Elektronische Musik 2017
Schwierige Zeiten und freie Sounds

Errorsmith
Errorsmith | Foto (Ausschnitt): © Camille Blake

Tropical Drums, Berliner Hedonismus und klagende Worte: Die Elektronische Musik in Deutschland zeigte sich auch 2017 angenehm facettenreich – und die Community politisch reflektiert und sozial engagiert. Ein Rückblick auf das Jahr von Thomas Venker.

Man hätte sich gewünscht, den Rückblick auf die Geschehnisse in der Elektronischen Musik in Deutschland im Jahr 2017 nicht – wie im Vorjahr an gleicher Stelle bereits geschehen – mit dem Einbringen der soziopolitischen Rahmenbedingungen in der Welt beginnen zu müssen. Aber leider kommt man angesichts des beunruhigend mandatsreichen Einzugs der Alternative für Deutschland (AfD) in den Deutschen Bundestag (12,6 % – 94 Sitze), dem konstanten Getwittere des amerikanischen Präsidenten und den Atombombenambitionen des nordkoreanischen Führers nicht darum herum. Zu prägend sind diese Ereignisse für jegliche Kunst- und Musikproduktion. Denn wenn die Welt sich derart aufwühlend bewegt, dann tangiert dies eben auch die Künste.
 
Sei es, indem sie ganz selbstverständlich bei wichtigen solidarischen Aktionen mitmachen. Eine solche ist beispielweise Plus 1 – Refugees Welcome. Die Initiative Berliner Konzertveranstalter, Clubs und Künstler, die all jene, die in den Genuss eines Gästelistenplatzes kommen, um eine Spende bittet, konnte in 2017 die 200.000 € Spendenmarke knacken. Bislang konnten so an 13 Berliner Initiativen, die sich für Flüchtende engagieren, Spendengelder überwiesen werden.
 
Textlich explizit zur Angriffshaltung übergangen sind angesichts des gesellschaftlichen Zustands 2017 Zugezogen Maskulin. Das Berliner Duo aus Grim104 und Testo wird zwar zumeist dem HipHop zugerechnet, die elektronisch sehr versierte Produktion des Albums Alle gegen Alle rechtfertigt aber auch die Berücksichtigung an dieser Stelle – zumal die Grenzen zwischen den Genres glücklicherweise ja sowieso heutzutage weiche sind.
Alle gegen Alle ist ein kompromisslos aufrüttelndes und anklagendes Werk zur Zeit, das nicht wegschaut bei Dingen, die in diesem Land und der Welt schieflaufen, sondern sie direkt anspricht und zum Widerstand auffordert – und das mit einem fantastischen, stimulierenden Flow.

Deutlich subtiler ist die von Jan Schulte zusammengestellte Compilation Tropical Drums of Deutschland (erschienen auf Music For Dreams) gegen Ausgrenzungstendenzen in der Welt aufgestellt. Indem sich der Düsseldorfer in seiner Rolle als Kurator einerseits deutlich auf die Reissues und Neuentdeckungen afrikanischer, südamerikanischer und asiatischer Musikerinnen und Musiker bezieht, die auf Labels wie Music For Memories, EM Records oder Awesome Tapes From Africa in den vergangenen Jahren erschienen sind, zudem aber eine eigene Perspektive hinzufügt, indem er den Blick nach Deutschland hineinrichtet, zielt er auf einen interkulturellen künstlerischen Dialog. Die auf Tropical Drums vertretenen Künstler wie Om Buschman, Total Art Of Percussion, Argile, Rüdiger Oppermann's Harp Attack, Ralf Nowy oder Sanza – ursprünglich Ende der 80er Jahre auf kleineren Labels erschienen – begeben sich auf eine introspektive Reise in die Weltmusik. 

Geschlossen gegen alle Widerstände – der Club als gemeinsamer Werte- und Haltungskosmos

Von Jan Schulte ist es nicht weit zum Düsseldorfer Salon des Amateurs, jener an die Düsseldorfer Kunsthalle angegliederten Bar, die es dank zentraler Protagonistinnen und Protagonisten wie Lena Willikens, Vladimir Ivkovic, Detlev Weinrich und eben Jan Schulte zu weltweiter Beachtung gebracht hat. Der Salon des Amateurs steht für einen Sound der stilistischen Freiheit, der sich weder um Herkunft noch Genrezugehörigkeit oder jede andere Form von Regeln und Einschränkungen schert. Orte wie dieser sind von extremer Bedeutung für das soziale Miteinander von Künstlern und Musikliebhabern. Wie so oft wird das allen aber erst dann so richtig klar, wenn diese Orte bedroht sind. Dem Salon des Amateurs, von jeher stets knapp vor dem Ruin stehend, droht seit einigen Monaten die (temporäre) Schließung aufgrund anstehender größerer Reparaturen am Objekt und damit verbundener Kosten. Es kam zwar umgehend zu Solidaritätsbekundungen und auch Benefit-Partys (so spielten neben den Residents unter anderem auch John Talabot, Sassy J und M.E.S.H. für den Salon auf), aber diese können leider nur Bruchteile der drückenden Last auffangen – wirklich gefragt ist hier die städtische Politik mit einem Bekenntnis zur Kultur.  
 
Ob man sich da allerdings große Hoffnungen machen sollte? So konnte man in Hamburg, wo der Golden Pudel Club nach einem Feuer in der Nacht zum 15. Februar 2016 seinem Ende bedrohlich nahe kam, erleben, dass die Lokalpolitik nicht in der Lage ist, die Verhältnisse im Sinne der kulturellen Institutionen zu verbessern.
Bereits vor dem Brand war der Konflikt zwischen dem Teilhaber Wolf Richter und den weiteren Eigentümern Rocko Schamoni und Schorsch Kamerun bereits eskaliert – Richter wollte das Objekt gewinnmaximierend auf dem Immobilienmarkt platzieren, eine Ambition, die im größtmöglichen Widerspruch zum Versprechen eines sozialen Ortes wie dem Golden Pudel Club und dem von diesem repräsentierten Werte- und Haltungskosmos steht. Ohne städtischen Support und nur Dank der Geschlossenheit der Hamburger Kulturszene und der großen weltweiten Unterstützung konnte dies letztlich verhindert werden – und so öffnete der Golden Pudel Club am 17. August wieder seine Türen am Hamburger Hafen und bietet seitdem wieder ein beachtliches Programm zu unglaublich günstigen Eintrittspreisen, da quasi alle auftretenden Künstler auf Unkostenbasis spielen.

Ein Neandertaler namens Konstantin

Eine solidarische Haltung, die dem Weimarer Label Giegling vorstehenden DJ Konstantin (der auch Teil des Ambient-House-Duos Kettenkarussell ist) fremd sein dürfte. Dieser äußerte sich im Interview mit der Musikjournalistin Laura Aha (erschienen im Musikmagazin Groove) sexistisch über seine weiblichen DJ-Kolleginnen. Wir zitieren aus dem Artikel von Aha:
“Er empfände es als ungerecht, dass weibliche DJs zurzeit so sehr gefördert würden, obwohl sie seiner Meinung nach meist schlechter auflegten als Männer. Seiner Logik zufolge sei es demnach für Frauen wesentlich einfacher, als DJ erfolgreich zu werden, da die wenigen Frauen, die sich für das Auflegen interessierten, unverhältnismäßig gepusht würden. Stattdessen begründete er seinen Standpunkt mit pseudowissenschaftlichen Belegen für ein „natürliches“ Machtstreben und Geltungsbedürfnis, das dem Mann von Natur aus inhärent sei.“
Es dauerte nicht lange und DJ Konstantin wurde dank einer Social-Media-Welle der Empörung für diese indiskutablen Ausführungen angemessen mit Kritik und Strafe belegt – leider hielt die Abstrafung und die damit verbundenen Absagen der Auftritte aber nicht lange an und recht schnell durfte er trotz seiner Uneinsichtigkeit wieder in den meisten einschlägigen Clubs auftreten – er suchte zwar aktiv das Gespräch mit vielen DJs und Produzentinnen, de facto nahm er aber öffentlich seine Position nicht zurück, sondern relativierte sie nur als überspitzte Provokation.
Nun, die musikalische und soziale Wirklichkeit in den Clubs und auf den Festivals sieht glücklicherweise trotz eines Neandertalers wie Konstantin anders aus. Noch nie prägten so viele Künstlerinnen die elektronische Musikszene wie aktuell. Und es sind gerade die Sets von DJs wie Helena Hauff, Lena Willikens, Avalon Emerson, Courtesy, Black Madonna, Jennifer Cardini, Honey Dijon und Umbruch (die Liste ließe sich noch sehr, sehr lange so fortsetzen), die neue Horizonte in der elektronischen Musik aufmachen.

Die Magie einer anderen Klang-Wirklichkeit

Völlig überraschend kam am 17. Mai 2017 die Nachricht vom Tod des Frankfurter DJ und Produzenten Heiko Schäfer. Unter seinem Imprint Heiko MSO hat Schäfer als Teil der Frankfurt-Offenbacher Szene um Protagonisten wie Roman Flügel, Ata, Sven Väth, Ricardo Villalobos die deutsche Techno- und Houseszene in den 1990er Jahren maßgeblich mitgeprägt. Die von ihm mitgeführten Labels Ongaku, Playhouse und Klang Elektronik spielten eine zentrale Rolle dabei, Deutschland gleichwertig neben den USA und England als Mutterland der elektronischen Musik zu verorten.
Schäfer hat erst kurz vor seinem Tod von seiner Krebserkrankung erfahren. In den wenigen Wochen, die ihm blieben, widmete er sich mit all seiner Energie der Musik und nahm 12 Mixe auf, die nach seinem Tod in seinem Auftrag publiziert wurden. Ebenfalls posthum erschienen ist der von ihm zusammengestellte Soundtrack zur Verfilmung des Sven Regener-Romans Magical Mystery, in dem Regener die wilden Berliner Technojahre nach dem Mauerfall porträtiert. Der Mix von Schäfer, der maßgeblich aus Werken aus dem Katalog des Labels Ladomat 2000 sowie seiner eigenen Labels besteht (unter anderem kommen Tracks von Roman IV, Forever Sweet, Ego Express und Losoul zum Einsatz) zeugt von dessen großem Talent, Tracks die Signifikanz der eigenen Identität ausleben zu lassen. Und sie sich trotzdem so anzueignen, dass sie am Ende in seinem Mix zum Bestandteil einer anderen Klang-Wirklichkeit werden.

Festivalsommer der Jubiläen

Der Festivalsommer, auf dem Heiko Schäfer seit den 1990er Jahren so präsent war, stand in diesem Jahr im Zeichen der Jubiläen. So feierte das Melt! Festival in Gräfenhainichen seinen 20. Geburtstag mit einem Lineup, das kaum elektronische Musikwünsche offen ließ – unter anderem traten dort Bicep, FJAAK, Aurora Halal, Konstantin Sibold, Jennifer Cardini und Richie Hawtin auf.
Das Berliner Atonal Festival kann zwar in seiner aktuellen Inkarnation erst auf fünf Jahre zurückblicken (es existierte schon einmal zwischen 1982 und 1990), in diesen hat es sich aber bereits weltweit als eine der führenden Adressen für zeitgemäße elektronische Musik im Spannungsfeld aus Drone, Ambient und Techno etabliert. In diesem Jahr gehörten die Performances des BBC Radiophonic Workshop, von Jasss, Pan Daijing, Regis sowie der gemeinsame Auftritt von Ena und Rashad Becker zu den Höhepunkten.
Bei der Kölner c/o pop steht das große Jubiläum mit dem 20jährigen zwar erst in 2018 an, das Festival glühte aber bereits in diesem Jahr derart intensiv vor, dass man die Edition durchaus als erfolgreiches Comeback bezeichnen kann. Nach einigen Jahren mit leicht schwächelndem Programm zeigte man sich sowohl im Kongress als auch im Livesegment auf Diskurshöhe – was nicht zuletzt am sehr starken elektronischen Booking mit Künstlern wie Motor City Drum Ensemble, Cologne Tape, Roman Flügel, I-F, Lena Willikens, Noga Erez, Anthony Naples, DJ Brom & Menki, Sarah San oder Jules lang.

Zurück zu Modeselektor und Apparat 

Moderat gastierten auf ihrer Abschiedstournee gleich auf zwei der drei genannten Festivals, dem Melt! und der c/o pop. Ja, genau: Abschiedstournee. Die Berliner Elektronik-Boygroup, bestehend aus den beiden Modeselektor-Mitgliedern Gernot Bronsert und Sebastian Szary sowie dem solo als Apparat agierenden Sascha Ring, hat sich nämlich dazu entschieden (zumindest vorläufig), auf dem Zenith ihres Erfolges aufzuhören. Die Welttournee zu ihrem Album III, mit dem sie es bis auf Platz 5 der Deutschen, Österreichischen und Schweizer Charts schafften, beendeten sie standesgemäß mit einem letzten Konzert in der ausverkauften Berliner Wuhlheide. Was einst als Nebenprojekt anfing, hat es dank Hits wie Running und Bad Kingdom zu einer der weltweit beachtetsten Bands für Elektronische Musik geschafft.

Die Platten des Jahres

Zum Schluss des Jahresrückblicks soll der Blick noch auf die Veröffentlichungen des Jahres gerichtet werden. Wobei die Auswahl für 2017 sehr schwer fällt, da es sich um einen sehr guten Jahrgang handelt.
 
Ganze 13 Jahre musste man nach Near Disco Dawn auf ein neues Album von Errorsmith warten – und Superlative Fatigue, erschienen auf dem Berliner Label PAN, belohnte für die vielen Entbehrungen. Erik Wiegand fügt dem experimentellen Gestus seiner früheren Veröffentlichungen eine poppigere Note hinzu, die ihm sehr gut steht.

Auch Work, das zweite Album des Berghain/Panorama Bar-Residents Nick Höppner funkelt kaleidoskopisch bunt. Spiegelte sein Vorgängeralbum Folk noch deutlich erkennbarer die beiden Dancefloors seines Heimatclubs wider, so zeugt Work von seinem gereifteren House-Songwriting und dem Willen, sich noch weniger festschreiben zu lassen. Die neue Freiheit des House sozusagen.
 
Für sein Solo-Debüt Thinking About Tomorrow, And How To Build It hat sich Ja, Panik-Sänger Andreas Spechtl im Winter 2016/2017 nach Teheran begeben. Das Ethno-Ambient-Werk verwebt die Zeitachsen und narrativen Stränge so leichthändisch wie widerborstig und erinnert in seiner künstlerischen Ungebundenheit an Phantom/Ghost, das enigmatische Projekt von Dirk von Lowtzow und Thies Mynther, in anderen Momenten an das Songwriting von Robert Wyatt und Lou Reed.
 
Der Hamburger DJ und Produzentin Helena Hauff, deren Karriere im Golden Pudel Club begann, gelang mit Have You Been There, Have You Seen It (erschienen auf dem Londoner Ninja Tune Label) eine EP, die der hohen Qualität ihrer Sets in nichts nachsteht. Vom atmosphärisch-perkussiven Opener Nothing Is What I Know über den roughen Bleep-Hit Do You Really Think Like That? und die Acid-Sonate Continuez Mon Enfant Vous Serez Traité En Conséquence bis hin zum energischen Schlusstrack Gift hält sie die Spannung gekonnt hoch.
 
Die letzten Akkorde dieses Jahresrückblicks möchte ich der Wahlberlinerin Honey Dijon widmen, deren The Best Of Both Worlds die House-Traditionen ihrer Geburtsstadt Chicago und ihrer Zweitheimat New York mit dem Hedonismus langer Berliner Wochenenden vereint. Schon lange klang Housemusik nicht mehr so vital und zu allem bereit.
 
Die soziopolitischen Verhältnisse mögen noch so beunruhigend sein, an hervorragender elektronischer Musik besteht (nicht zuletzt deswegen) absolut kein Mangel. Man darf gespannt sein, wie es 2018 weitergeht – politisch und musikalisch gleichermaßen.