Activismus
March For Our Lives in Boston

Front Line of the March
Natalie Wichmann

Nach dem letzten Amoklauf in einer Schule in Parkland, Florida, bei dem 17 Schülerinnen und Schüler der Marjory Stoneman Douglas High School erschossen wurden, haben sich die Überlebenden nicht zurückgezogen, sondern stattdessen eine Bewegung ins Leben gerufen.

Sie gaben Interviews, hielten Reden, trafen sich mit Politikerinnen und Politikern und organisierten schließlich den im ganzen Land stattfindenden MARCH FOR OUR LIVES („Marsch für unser Leben“). Am Samstag, den 24. März gingen auch in Boston Schüler, Eltern und Lehrkräfte gemeinsam mit Hunderttausenden von Gleichgesinnten auf der ganzen Welt auf die Straße, um ein Ende der Gewalttaten durch Schusswaffen zu fordern. Laut Sprechern der Polizei in Boston nahmen über 50.000 Menschen an dem Protestmarsch teil, der von der Madison Park High School in Roxbury zum Boston Common, einem großen öffentlichen Park im Herzen der Stadt, verlief.
 
Ich bin spät dran. Es gibt keine direkte Verbindung von meinem Wohnort zur Madison Park High School, also laufe ich lieber. Am Museum Of Fine Arts sehe ich die ersten Menschen mit Schildern. Je weiter ich gehe, desto mehr Menschen sind auf den Gehwegen oder auch auf der Straße in gleicher Richtung unterwegs. An der U-Bahn-Station Roxbury Crossing merke ich, dass ich es wohl nicht bis zum Madison Park schaffen werde, wo der Marsch um 11 Uhr beginnen soll; der Malcolm X Boulevard ist jetzt schon mit Menschenmassen gefüllt. Hier hört man auch zum ersten Mal die ohrenbetäubenden Sprechgesänge und das Geschrei. Ich hatte mir schon gedacht, dass dies ein sehr emotionaler Tag werden würde, aber auf das hier war ich dann doch nicht vorbereitet. Ich will unbedingt einen Blick auf die erste Reihe ergattern und den Moment erleben, in dem die Bewegung sich hier in Boston formiert. Sie schreien ihre Parolen Not one more! („Kein einziges Opfer mehr!”), Show me what democracy looks like. This is what democracy looks like („Was ist Demokratie? Das hier ist Demokratie!”) und Not in our streets, not in our schools („Nicht in unseren Straßen, nicht in unseren Schulen”) direkt in die vor ihnen stehenden Kameras, in die Straßen von Roxbury und in die ganze Welt hinaus.
 
Seite an Seite mit den Organisatoren des Marsches, etwa Michael Martinez und andere Schülerinnen und Schüler aus Roxbury, marschieren hier auch in erster Reihe Leonor Muñoz, eine Überlebende des Massakers an der Stoneman Douglas High School, und ihre Schwester Beca mit und stimmen lautstark in die Sprechgesänge ein. Später sollen sie noch gemeinsam mit Lehrkräften und anderen Schülerinnen und Schülern auf der Bühne im Boston Common eine emotionale Rede halten; aber hier gehen sie noch Arm in Arm, stützen sich gegenseitig und rufen das Weiße Haus und den Senat auf, endlich neue Gesetze zu schaffen.
 
Ich laufe in den Reihen mit; merke, wie ich ein Teil dieses mächtigen Protests werde und bin beeindruckt von der Atmosphäre, den Schildern, der Angst, aber auch der Gemeinschaft, die hier herrscht. Als die Menge auf die Columbus Avenue zusteuert, kann man das Ende der Demo gar nicht mehr sehen. Die Reihen mit Demonstrierenden scheinen unendlich, überall liest man Schilder mit Aufschriften wie: Am I next? („Bin ich als nächstes dran?”); Arms are for hugging („Arme sind zum Umarmen da”), enough is enough („genug ist genug”), Never again („nie wieder”), The time is now („JETZT handeln”). Im  Boston Common nimmt die Masse der Protestzüge überwältigende Formen an. Binnen wenigen Minuten wird der Park von riesigen Menschenmassen bevölkert. Das Organisationsteam sorgt dafür, dass die Schülerinnen und Schüler die besten Plätze bekommen und gute Sicht auf die nahe am Parkeingang Charles & Beacon Street aufgebaute Bühne bekommen.
 
Ich gehe den Hügel zum Soldiers And Sailors Monument, dem Denkmal für Soldaten und Seeleute hinauf, um einen besseren Blick auf die Menge zu bekommen. Oben angekommen klettere ich auf eine Steinbank, auf der schon einige ältere Damen sitzen und Schilder mit der Aufschrift Granny’s against gun violence („Großmütter gegen Waffengewalt“) hochhalten. Von hier aus ist die Zahl der Menschen, die auf der Grünfläche mitten im Herzen der Stadt zusammenkommt, noch beeindruckender. Von weitem höre ich die Stimme von Graciela Mohamedi, einer Lehrerin der Rockland High School und ehemaliger Angehörigen der US-Marine, wie sie die die Mächtigen auffordert: Arm us with books that aren’t missing pages. But don’t arm us with guns („Bewaffnet uns mit Büchern, in denen keine Seiten fehlen. Aber bewaffnet uns nicht mit Gewehren.“) Um die Redner besser verstehen zu können, versuche ich, näher an die Bühne heranzukommen, was keine leichte Aufgabe ist. Ich halte mich am Boston Common Carousel links und bekomme mit, wie Leonor Muñoz und ihre Schwester Beca Hände haltend die Bühne betreten. „Ich erinnere mich genau an diesen schrecklichen Moment. Wir waren draußen und hörten plötzlich: „CODE ROT, RENNEN!“. Leonor Muñoz beginnt zu weinen, ihre Stimme zittert. „Es geht doch hier um unser Leben”, fährt sie fort. „Wir sollten nicht um unser Leben kämpfen müssen“, fügt Beca Muñoz hinzu. Gemeinsam enden sie ihre Rede mit dem Satz „Aber das tun wir, jetzt und in Zukunft!“. Die Menge jubelt, und 50.000 Kehlen bringen den Boden im Boston Common mit ihren Rufen Not one more! Not one more! Not one more! zum Beben.
 
Als ich den Park am Ausgang Spruce Street verlasse, fallen die ersten Schneeflocken. Die Menge lost sich langsam auf und verteilt sich in die Straßen um den Park herum. Eltern mit müden Kindern im Arm und im Buggy machen sich auf den Nachhauseweg. Was von diesem ereignisreichen Tag bleibt, ist die Hoffnung, dass weiterhin über Waffengesetze diskutiert und sich tatsächlich etwas ändern wird.