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Tiger Girl
Eine psychologische Pirouette

Filmstill (Ausschnitt) aus „Tiger Girl“, Regie: Jakob Lass, 2017
„Tiger Girl“, Regie: Jakob Lass, 2017 | Filmstill (Ausschnitt) © Timon Schaeppi, courtesy by Picture Tree International GmbH

Auf den ersten Blick beschert uns Jakob Lass’ explosiver dritter Spielfilm einen mitreißenden anarchistischen Kick, auf den zweiten beleuchtet er aber auch das Gewissen institutionalisierter Macht kritisch. Da ist es nur eine Frage der Zeit, bis einem das Lachen im Hals stecken bleibt.  

Von Matt Fagerholm

Jakob Lass war schon immer ein Garant für fesselndes, energiegeladenes Kino. Seine Kamera und seine Figuren sind immer in Bewegung und lassen uns auf derartig verspielte und unvorhersehbare Weise an ihren Abenteuern teilhaben, dass sie uns unmittelbar gefangen nehmen. Tiger Girl entfernt sich auf gewisse Weise von den ersten beiden Filmen des Regisseurs, in denen Franz Rogowski einen Außenseiter spielt, der durch eine von Luxus geprägte Umgebung taumelt und sich sexuellen Abenteuern mit ihn anhimmelnden Frauen hingibt.
 
Dank der selbstauferlegten Einschränkungen, die Lass FOGMA getauft hat, entstehen improvisierte Dialoge und eine lose Szenenstruktur, die dem Ganzen eine besondere Spontaneität verleihen. Dieser von dem dänischen Manifest Dogma 95 inspirierte Ansatz hat Lass Vergleiche mit jenen amerikanischen Mini-Budget-Filmen (besonders den frühen Arbeiten von Joe Swanberg) beschert, die von der Presse gerne als Mumblecore bezeichnet werden. Swanbergs Vorliebe, mit der Inszenierung männlicher Nacktheit Tabus zu durchbrechen, teilt Lass in jedem Fall: Auch in seinen Filmen sind die entblößten, verletzbaren Männer einem weiblichen mikroskopischen Blick ausgesetzt.

Aus dem Nichts

Mit einem erfrischenden Brüllen treibt Tiger Girl die FOGMA-Ästhetik auf neues Terrain, indem die spontane Erzählweise durch choreografierte Stunts und raffinierte visuelle Tricks durchbrochen wird. Nachdem Maria Dragus mit ihrem bezaubernden Pokerface bereits in Das weiße Band von Michael Haneke und Graduation von Cristian Mungius brilliert hat, zeigt sie hier mit der Rolle der Margarete, einer jungen Polizeidienstanwärterin, die bei der Aufnahmeprüfung von ihren männlichen Kollegen lächerlich gemacht wird, eine beeindruckende andere Facette ihres Könnens. Als ein Verehrer (Enno Trebs) versucht, Margarete mit Gewalt ins Bett zu kriegen, wird sie von Tiger (Ella Rumpf) gerettet, einer mysteriösen Draufgängerin, für die Höflichkeit ein Fremdwort zu sein scheint.

Mit einer ähnlichen Anziehungskraft und einem Faible für Gefahr wie in Julia Ducournaus Raw taucht Rumpf zu Anfang förmlich aus dem Nichts auf, und es scheint, als sei sie dabei ein Spiegelbild der unterdrückten Margarete, der sie den Spitznamen Vanilla verpasst. Die geschickt-subtile Art, mit der Lass die Identitäten der beiden Frauen vermischt, erinnert an David Finchers Fight Club: Am Ende scheint es gar, als sei jede der Tyler Durden der anderen. Als Tiger sie auffordert, ihre von der Gesellschaft aufgedrückte Schüchternheit endlich abzulegen, kommt es zum Wendepunkt: Vanilla entscheidet sich, zum Gegenschlag auszuholen, und ergreift einen Baseballschläger, während die Kamera sich um 180 Grad dreht. Später sehen wir noch, wie sie den Schläger an ihren Hals schmiegt, während ihre Augen in einen starrenden Kubrick-Blick verfallen.

Bilder wie Reime

 

Je mehr die Freundschaft zwischen Tiger und Vanilla wächst, desto gefährlicher werden die Pläne der beiden. Sie uniformieren sich als Sicherheitspersonal, um nichtsahnende Männer einzuschüchtern, und dank abrupter Schnitte und verträumter Zeitlupe ahnen wir, dass diese Streiche vielleicht etwas mehr sind als erotische Fantasien. So gibt es etwa eine Schlüsselszene, in der die Freundinnen einen Mann zwingen, sich vor ihnen auszuziehen, und ihn die gleiche Gewalt erleben lassen, die unzählige Frauen schon vor und hinter der Kamera erfahren haben. Diese Umkehr der Rollenmuster verleiht den Frauen im ersten Akt des Films viel Macht, dennoch ist es Lass auch wichtig, den Zuschauer die Folgen ihrer zunehmend sinnloser werdenden Taten spüren zu lassen.
 
Während Vanilla in eine soziopathische Hysterie verfällt, wird Tigers Bewusstsein wachgerüttelt und dreht eine Art psychologische Pirouette. Ähnlich wie Sissy Spacek und Shelley Duvall in Robert Altmans Drei Frauen nehmen die Anti-Heldinnen in Tiger Girl so lange die Eigenschaften der anderen an, bis sie sich gewissermaßen in die andere verwandelt haben. Dieses Phänomen spiegelt sich auch in den einer Reimkomposition ähnelnden Bildern von Kameramann Timon Schäppi, die schließlich zum Ausgangspunkt des Films zurückführen. Lass beschert dem Zuschauer diverse Lacher und lässt ihn mit den Taten der Protagonistinnen sympathisieren, am Ende geht es ihm jedoch vor allem darum, die Grenzen institutionalisierter Macht aufzuzeigen bzw. darzustellen, wie leicht diese korrumpiert werden kann.
 
Auch dann, wenn man ihre Handlungen nicht mehr nachvollziehen kann, versteht man vor dem Hintergrund der patriarchalischen Unterdrückung doch, warum Tiger und Vanilla die Autoritäten nicht ernst nehmen. Es ist die aus einer zur passiv-aggressiven Höflichkeit neigenden Gesellschaft erwachsene Rastlosigkeit, aber auch die kunstvolle Hand des Regisseurs, die das anarchistische Wesen der beiden Frauen antreibt. Der Film ist so eindringlich, dass er einen so bleibenden Eindruck hinterlässt wie ein unerwarteter Schlag ins Gesicht.
 

autor

Matt Fagerholm © Matt Fagerholm Matt Fagerholm ist Redaktionsassistent bei RogerEbert.com und Mitglied der Chicago Film Critics Association. Seine Beiträge sind bereits in vielen Magazinen erschienen, darunter Time Out Chicago, The A.V. Club und Magill’s Cinema Annual. Fagerholm betreibt außerdem die Website Indie-Outlook.com, die sich dem Independent-Kino widmet. Für das Portal hat er bereits viele wichtige Köpfe des deutschen Films interviewt, etwa Dietrich Brüggemann, Maria Dragus, Jakob Lass und Anne Zohra Berrached.

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