Lorenz Engell im Interview
80 Jahre Fernsehen in Deutschland

Das Fernsehen kam massenhaft in die Wohnzimmer.
Das Fernsehen kam massenhaft in die Wohnzimmer. | Foto (Ausschnitt): © migfoto - Fotolia.com

1935 startete in Berlin der weltweit erste Programmbetrieb mit Live-Übertragung. Seitdem hat das Leitmedium sich ständig gewandelt – und zwar nicht nur technisch, sagt der Medienwissenschaftler Lorenz Engell.

Herr Engell, wie hat sich das Fernsehen entwickelt, bevor es ab 1935 zu regelmäßigen öffentlichen Übertragungen kam?

Interessant an der Frühphase des Fernsehens ist, dass es so lange gedauert hat, bis es wirklich genutzt wurde. Bereits im Jahr 1884 meldete der Student Paul Nipkow in Berlin das erste Fernsehpatent an, das damit älter als das Kinopatent ist. In seiner Patentschrift beschrieb er eine Apparatur, die er als „elektrisches Teleskop“ bezeichnete. Die sogenannte Nipkow-Scheibe war voll funktionsfähig. Doch wegen der geringen Nachfrage wurde sie erst Jahrzehnte später bis zur Sendereife weiterentwickelt. Ab dem 22. März 1935 konnten die Menschen in sogenannten Fernsehstuben für einige Stunden täglich Spielfilme und Nachrichten schauen.

Das erste große Fernsehereignis waren 1936 die Olympischen Spiele in Berlin.

Die Nationalsozialisten zeigten die Wettbewerbe live auf Großbildleinwänden. Das öffentlich übertragene Fernsehen blieb damals aber auf Berlin beschränkt. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Fernsehgeräte für die Verletzten in Lazaretten aufgestellt. Eine serielle Produktion von Geräten gab es noch nicht. Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann in den USA der rasante Aufstieg des Mediums Fernsehen. Nach dem Krieg hatte die US-amerikanische Elektro-Industrie Überkapazitäten, die sie in die Entwicklung der seriellen Produktion von Fernsehgeräten investiert hat.

Fernsehen wird zum Massenmedium

Konnte Deutschland zu dieser Entwicklung aufschließen?

Lorenz Engell Lorenz Engell | © Privat 1944 war in Deutschland das Fernsehprogramm eingestellt worden. Erst ab 1952 begann auch hier die Erfolgsgeschichte des Fernsehens. Am 25. Dezember 1952 startete mit dem Ersten Deutschen Fernsehen der regelmäßige öffentlich-rechtliche Sendebetrieb in der Bundesrepublik Deutschland. Einen Tag später wurde die Tagesschau, die bis heute erfolgreichste Nachrichtensendung des deutschen Fernsehens, zum ersten Mal ausgestrahlt. Bereits vier Tage zuvor war übrigens die DDR mit ihrer Nachrichtensendung Aktuelle Kamera in den regelmäßigen Sendebetrieb eingestiegen. Zur Krönung der englischen Königin Elisabeth II. am 2. Juni 1953 schaltete sich die Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, kurz ARD, auf die erste Eurovisions-Sendung, die von der European Broadcasting Union, EBU, dem europäischen Netzwerk öffentlich-rechtlicher Radio- und Fernsehsender, übertragen wurde. Das war der Anschluss der Bundesrepublik an das internationale Fernsehen.

Aber noch konnten sich die meisten Deutschen keine Geräte leisten. Deswegen wurde in Kneipen ferngesehen. Um das zu ändern, suggerierte die Werbung, dass Fernsehen und Familie zusammengehören. Auch der Ratenkauf wurde von der Wirtschaft propagiert, damit sich jeder Haushalt einen Fernseher „auf Pump“ kaufen konnte. Auf diese Weise ist auch das Wirtschaftswunder angekurbelt worden. Das Fernsehen kam massenhaft in die Wohnzimmer und wurde zum Statussymbol schlechthin.

Fernsehen ist immer das, was auf dem anderen Kanal läuft

Ein weiterer wichtiger Meilenstein in der deutschen Fernsehgeschichte war 1962 die Gründung des Zweiten Deutschen Fernsehens, ZDF. Was bedeutete das für das Programmangebot?

Bis 1962 gab es nur einen Fernseh-Sender, das Erste der ARD. Das ZDF war dann der innovativste und modernste Sender in Europa, mit neuen Formaten: Das aktuelle Sportstudio etwa war ein Riesenhit, weil zum ersten Mal das Studio selbst als technische Einrichtung mit aufgestellten Stühlen, Scheinwerfern und Kameras zu sehen war. Das ZDF hat auch die ersten Serien gezeigt, die nicht mehr in der Familie spielten – zum Beispiel Percy Stuart eine Pop-Art-Agentenserie nach amerikanischem Vorbild. Die Quizshow Wünsch dir was hat mit den ersten Formen von Zuschauerbeteiligung experimentiert.

Wie veränderte sich die bestehende öffentlich-rechtliche Fernsehlandschaft in Deutschland durch die Öffnung für Privatsender im Jahr 1985?

Die Zulassung von Privatsendern fiel mit den ersten Schüben der Digitalisierung zusammen. Dadurch wurden die Methoden der Bildbearbeitung verändert, das Fernsehen entwickelte einen neuen Stil. Die Anzahl an Sendern explodierte, das Fernsehen veränderte sich auch soziologisch völlig. In dieser Zeit entstand das Musikfernsehen. Internationale Sender wie MTV und Viva prägten die Fernsehästhetik nachhaltig. Auch alle deutschen Sender entwickelten jetzt eine eigene visuelle Handschrift, um unterscheidbar zu sein und eine Markenbindung zu ermöglichen.

Fernsehen wird künftig nicht mehr das Leitmedium sein

Welche Wechselwirkung besteht zwischen dem Medium Fernsehen und der Gesellschaft?

Der Fall der Berliner Mauer 1989 etwa wäre ohne das Fernsehen vielleicht anders verlaufen. Das Fernsehen war live dabei bei den großen Momenten, die den Mauerfall und damit die Wiedervereinigung vorbereiteten: beispielsweise als Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der deutschen Botschaft im September 1989 in Prag den DDR-Bürgern die Ausreise versprach. Und die DDR-Bürger erfuhren über das Westfernsehen, was bei ihnen im Land passierte. Das Fernsehen hat dazu beigetragen, den Widerstand gegen das Regime der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, SED, zu stärken.

Seit Anfang der 2000er-Jahre wird Fernsehen verstärkt über das Internet konsumiert. Hat das konventionelle lineare Fernsehen noch eine Zukunft?

In der neoliberalen Leistungsgesellschaft, die von uns verlangt, immer aktiv zu sein, ist „Glotzen“ ein entlastendes Ritual. Aber Fernsehen wird künftig nicht mehr das Leitmedium sein. Außerdem hat sich das Fernsehen schon immer transformiert. Mit dem Fernsehen der 1950er-Jahre hatte schon das von 1985 nicht mehr viel zu tun. Es wird künftig ein wiedererkennbares, traditionelles Fernsehen geben und ein neues, transformiertes, das mit dem Internet eine neue Mischform entwickelt.

Gibt es nennenswerte Unterschiede bei der Fernsehnutzung oder den Sehgewohnheiten der Deutschen im internationalen Vergleich?

Beim deutsch-französischen Sender ARTE beispielsweise stoßen Massenmedien-Kulturen und ganz verschiedene Verständnisse von Fernsehen aufeinander, die dann eine eigene Mischform entwickelt haben. ARTE steht noch mehr für die Ästhetisierung des Fernsehens als beispielsweise MTV. Eine neue Art des grafischen Gestaltens ist über Frankreich nach Deutschland gekommen. Auch die thematische Konzentration auf die Hochkultur gab es in Deutschland vorher nicht. Ansonsten orientiert sich Deutschland natürlich an den USA, dem mit Abstand größten Fernsehmarkt der Welt. Deutschland zieht jetzt im Bereich der Serien nach, die in den USA auf höchstem Niveau produziert werden und sogar Kinofilme bei der Gestaltung übertreffen.
 

Lorenz Engell ist Medienwissenschaftler und Professor für Medienphilosophie an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar. Zudem ist er Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) in Weimar.