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Ein neues weltweites Miteinander schaffen
Humanismus – vom individuellen zum dividuellen Konzept

Das Denkmal The Long March to Freedom in Südafrika besteht aus Statuen, die Personen darstellen, die seit dem 17. Jahrhundert bis zu den ersten Wahlen nach der Apartheid 1994 gegen Unterdrückung kämpften.
Die Bronzestatuen am The Long March to Freedom in Südafrika stellen Personen dar, die seit dem 17. Jahrhundert bis zum Tag der Freiheit 1994, dem Tag der ersten Wahlen nach der Apartheid, gegen Unterdrückung gekämpft haben. | Foto (Detail): Lyv Tianran © picture alliance / Xinhua News Agency

Hinter dem Begriff Humanismus steckt mehr als nur Menschlichkeit. Denn, wie Philosophin Michaela Ott schreibt, definierte Kolonialismus lange Zeit, wer als Person betrachtet wurde und wer nicht, und was für einen veränderten, inklusiveren Begriff spricht. 

Von Michaela Ott

Humanismus – ein heute weltweit umstrittenes Konzept. Haben doch schon zu Beginn der 1960er‑Jahre kolonialismuskritische Autoren wie Frantz Fanon und Jean‑Paul Sartre diese aufklärerische Idee für delegitimiert erklärt. Daher stehen heute alle humanitären Initiativen, auch solche der Vereinten Nationen, unter dem Ruch verbrämter westlicher Aggression.

Gleichwohl sind immer wieder afrikanische und andere Stimmen des globalen Südens zu hören, die eine kritische Rückbesinnung auf das Humane einfordern, schon weil das Menschsein in der Geschichte – Rassismus bedingt – nicht allen Personen und Ethnien gleichermaßen zuerkannt worden ist.

Daher sei hier die Frage aufgeworfen, ob es nicht eines veränderten Humanismusbegriffs bedarf, der sich nicht länger auf die Idee eines autonomen, gewinnorientierten Individuums stützt, sondern die Person als eingelassen in biosoziale, kulturelle, mediale und ökologisch‑ökonomische Gefüge und damit als „(nicht‑in‑)dividuell“, sondern vieldirektional (mit‑)geteilt und auf zahllose Andere verwiesen begreift.    

Befreiung von der Kolonisatorensprache

Jean‑Paul Sartres Postulat, in die humanistische Gesinnung die gesamte Menschheit zu inkludieren, wird in seiner Begegnung mit anderskulturellen Autor*innen erschüttert. In seinem Vorwort zu Léopold Sédar Senghors Gedichtband  Anthologie de la poésie nègre et malgache de langue francaise (1947) bekennt er, dass die Erfahrung, von Schwarzen Autor*innen adressiert zu werden, nicht nur eine Veränderung seiner selbst, sondern eine vollkommene Verwandlung der Welt bedeutet. Der Blick der Schwarzen Personen würde das farblose Selbstverständnis des europäischen Menschen zerstören, der Schwarze Blick führe auf Anhieb die Begrenztheit der weißen Welt vor Augen.

Und doch müssten sich die Poet*innen des globalen Südens zunächst von der Kolonisator*innensprache befreien, ihr die „Weißheit“ austreiben, sie zerbrechen und umschaffen – wie es im antillanischen Kreol denn auch geschieht. Sartre hofft freilich noch, dass trotz der poetischen Karikatur des europäischen Erbes ein neuer Humanismus auferstehen und noch einmal eine menschliche Universalität – unter Schwarzer Majorität nunmehr – herbeiführen wird, welche die weiße Minderheit miteinbegreift.

Frantz Fanon fordert in seiner Schrift Peau noire masques blancs (Schwarze Haut, weiße Masken, 1952) bereits einen neuen Humanismus, nämlich jenen „unserer farbigen Brüder“. Denn das Wesen der Schwarzen Person sei nicht dasselbe wie das Wesen des Menschen allgemein, vielmehr sein Gegenteil: ein Gefühl der Nichtexistenz. Den Schwarzen Personen werde von vornherein ihr Existenzrecht bestritten; daher müssten sie zunächst von ihrem Bestreben, sich zu weißen, befreit werden.

Ausgrenzung durch Humanismus

Nach der Erfahrung des algerischen Unabhängigkeitskriegs wird Fanons Ton in dem 1961 veröffentlichtem Buch Les damnés de la terre (Die Verdammten dieser Erde) dann unerbittlich: Von der Entkolonisierung erhofft er sich nun die „Ersetzung einer menschlichen Art durch eine andere“ – eine absolute Substitution. Denn das humanistische Ideal habe sich in der den Kolonisierten zugefügten Gewalt definitiv selbst widerlegt. Die europäische Kultur habe vergessen, dass sie sich enthumanisiert und sich dabei selbst beschädigt.

Auch Sartre erkennt in seinem Vorwort zu dieser Schrift, dass „die gelben und schwarzen Stimmen“ nun die Doppelmoral des Zivilisationsprozesses vorführen, der den Humanismus für universal erklärt und in seiner rassistischen Praxis die Afrikaner*innen partikularisiert. Den Status eines Menschen gleichzeitig zu- und abgesprochen bekommen, ihn anzustreben und zugleich zu hassen: Dieser Widerspruch sei explosiv.

Der nigerianische Philosoph Olúfémi Táíwò erinnert daran, dass für das postkoloniale Selbstverständnis in Afrika die Zuschreibung menschlicher Natur, die den Afrikaner*innen in kolonialen Zeiten abgesprochen wurde, von vorrangiger Bedeutung sei.

Unumgänglich sei daher, so Fanon, das Verlernen des antrainierten Individualismus und der Idee einer Gesellschaft, in der sich jede*r in seine oder ihre „Subjektivität einschließt“. Europa habe gezeigt, dass es keines glaubwürdigen Humanismus mehr fähig sei und laufe daher auf sein eigenes Verderben zu: Die koloniale Aggression werde sich gegen Europa kehren. Da sich Fanon aber noch weitergehend den Striptease jedes essentialisierenden Humanismus wünscht, kritisiert er sogar Senghors Négritude‑Konzeption und ihre Aufwertung der Schwarzen Person.

Ein antihumanistisches Programm bestimmt daher die darauffolgende französische Philosophie. Den Humanismus als Rechtfertigung der Plünderung zu denunzieren wird Beweggrund der Theorien von Michel Foucault, Gilles Deleuze und Félix Guattari. In Begriffen wie „Ahuman“- und „Asubjektiv‑Werden“ artikuliert sich ein affirmierter Abbau des humanistischen Individualismus. An seine Stelle solle das Konzept eines „Anders‑Werdens“ und des „Dividuellen“ treten, welches auf die prozessuale Verflechtung von Personen und Kulturen mit zahllosen, auch nicht‑menschlichen Anderen und auf Arten gattungs- und kulturübergreifender Affizierungen verweist.

Von individuell zu dividuell

Deleuzes Konzept des Dividuellen, zunächst am Beispiel des nichtindividuellen Ausdrucks zeitbasierter Künste wie des Films oder der musikalischen Komposition erläutert, wird heute von Anthropolog*innen wie dem Argentinier Eduardo Viveiros de Castro, der Britin Marilyn Strathern und dem Inder Arjun Appadurai zur Bestimmung der unscharfen Grenze von Person und sozialem Kollektiv insbesondere in indigenen Kulturen, vom späten Deleuze auch zur Kritik an der digitalen Vereinnahmung jeder Person und ihrer Zuteilung an Datenbanken in Einsatz gebracht.

Gleichwohl sind immer wieder afrikanische Stimmen wie jene des Südafrikaners Leoard Praeg zu hören, die fordern, zu einem „critical humanism“ zurückzukehren und über Fragen einer „shared humanity“ zu reflektieren. Der nigerianische Philosoph Olúfémi Táíwò erinnert daran, dass für das postkoloniale Selbstverständnis in Afrika die Zuschreibung menschlicher Natur, die den Afrikaner*innen in kolonialen Zeiten abgesprochen wurde, von vorrangiger Bedeutung sei. Aus diesem Grund gelte es, menschliche Akteur*innen überhaupt zu erfinden beziehungsweise darüber zu befinden, welcher menschliche Typus politisch wünschenswert sei.

Der kamerunische Philosoph Fabien Eboussi Boulaga beklagt seinerseits die Preisgabe des Begriffs des Humanen in den zeitgenössischen französischen Theorien und die Tatsache, dass das Philosophieren als Nachdenken über das menschliche Leben verabschiedet worden ist. Damit bringe man nur mehr spezifizierte Andere als erneut klassifizierbare und unterworfene Subjekte hervor. Mit der Preisgabe des Imperativs einer gemeinsamen Welt würden die Völker der Erde auf anthropologische Spezimen reduziert, deren letzte Begegnungsform der Krieg geworden sei.

Ein Programm kulturübergreifender Entkolonisierung trägt heute der kamerunische Theoretiker Achille Mbembe vor, wenn er unter einer Schwarzen Vernunft (2013) alle von den globalisierten Wertschöpfungsketten Ausgeschlossenen, nicht nur Schwarze Personen, vereinigt sehen will. Er erhofft sich eine neue „Universalität im Werden“, die nun auch der ökonomischen Ungleichverteilung verstärkt Rechnung trägt.

Um der spezifischen Situiertheit der je besonderen Humanen heute gerecht zu werden, sollten meiner Ansicht nach Sichtweisen und Konzepte gestärkt werden, in denen sich die Person als (nicht‑in-)dividuelle Teilhaber*in an kulturübergreifenden politischen, auch nicht‑menschliche Agent*innen umfassenden Ensembles und Kollektiven, wie von Fanon gefordert, erkennen kann. Denn nur unter dem Gesichtspunkt der biosozialen wie ökologisch‑ökonomischen Verwiesenheit der Personen und Gesellschaften aufeinander lassen sich Entscheidungen auf lokalen und globalen Niveaus treffen, die dem notwendigen planetaren Bewusstsein entsprechen und das Überleben des Globus sichern helfen.

 

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