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13. November 2020
Rede anläßlich der Amtsübergabe am 13. November 2020

Antrittsrede von Carola Lentz.

Wer durch den Kaneshie-Markt in der ghanaischen Hauptstadt Accra schlendert, ist beeindruckt von den meterhohen Stapeln mit farbenfrohen Stoffen, die dort angeboten werden. „Come in“, rufen einem die Händlerinnen nach, „I have real wax for you“, die echten, das heißt durchgefärbten Batikstoffe. „Darin wirst du wie eine richtige Ghanaerin aussehen“, fügen sie hinzu, wenn eine Europäerin stehen bleibt. Manche Muster der von ihnen angepriesenen sogenannten Waxprints sind neue Kreationen. Andere gibt es schon seit vielen Jahren, und sie tragen Namen wie „Rücken der Schildkröte“ oder „Wenn du heiraten willst, frage mich“. Jede Frau in Ghana — und anderen afrikanischen Ländern — ist stolz darauf, viele unterschiedliche Stoffe und daraus geschneiderte Outfits für die verschiedensten Anlässe zu besitzen. Wer es sich leisten kann, trägt „real Dutch wax“. Eine preiswertere Alternative sind die bedruckten, nicht gebatikten „fancy prints“.

Waxprints gelten in Ghana als „traditionell ghanaisch“. In Zentral- und Südafrika werden sie als „westafrikanisch“, in Europa oder den Vereinigten Staaten als „typisch afrikanisch“ etikettiert. Sie sind aber eigentlich ursprünglich asiatisch und Teil einer langen, wechselvollen Geschichte von globalen Verflechtungen. Wirtschaftliche Profitinteressen und politische Machtverhältnisse sind in sie ebenso eingewoben wie eigensinnige Konsum-Entscheidungen und kreative Aneignungen.

Seit dem 16. Jahrhundert handelten zuerst die Portugiesen, dann die Niederländische Ostindien-Kompanie mit kunstvollen, handwerklich gefertigten Stoffen aus Nord-Indien und Java. Asiatische Batikstoffe und Kalikos wurden in Europa immer beliebter. Sie spielten aber auch eine wichtige Rolle als Währung im Sklavenhandel. Nicht nur Europäerinnen, auch vermögende Westafrikanerinnen wollten diese farbenprächtigen Stoffe tragen. Verschiedene britische und niederländische Firmen versuchten sich darum an industriell gefertigten Imitaten. Die fielen aber zunächst durch. Erst nach gründlicher Erforschung afrikanischer Vorlieben und mit verbesserten Produktionstechniken gelang es Textilfabrikanten in Manchester, ein in Westafrika akzeptables Produkt herzustellen.

Im Lauf des 19. Jahrhunderts boomte die afrikanische Nachfrage, und Batikstoffe javanischen Stils wurden immer begehrter. Um 1900 schließlich gelang es der niederländischen Firma Vlisco, die indische und javanische Batikkunst mit industriellen Verfahren überzeugend zu imitieren. Der „real Dutch wax“ wurde zum großen kommerziellen Erfolg — ein Erfolg, der auf der engen Zusammenarbeit europäischer Produzenten mit afrikanischen Konsumentinnen basierte.

Nach der Unabhängigkeit Ghanas entstanden lokale Textilfabriken, die „real wax“ und „fancy prints“ produzieren. Seit den 2000er Jahren drängen aber zunehmend Stoffe aus chinesischer Produktion auf die afrikanischen Märkte. Doch die Kundinnen bleiben eigensinnig und unterscheiden sehr genau zwischen unterschiedlichen Stoffqualitäten. Auch chinesische Produzenten haben nur Erfolg, wenn sie eng mit afrikanischen Designern, Importeuren und Kundinnen zusammenarbeiten, wie auch schon zuvor Vlisco und die Firmen aus Manchester.
Waxprints sind also Teil einer verflochtenen Geschichte mit unterschiedlichen Akteuren in der ganzen Welt — einer Geschichte der Asymmetrie und Gewalt, der wirtschaftlichen Ausbeutung und Konkurrenz, aber auch der selbstbewussten kulturellen Aneignungen und ästhetischen Werturteile. Kleidung setzt Zeichen im öffentlichen Raum und markiert soziale Zugehörigkeiten. Die javanisch-niederländisch-ghanaisch-chinesischen Waxprints können aber unterschiedliche Bedeutungen evozieren. Der nigerianisch-britische Künstler Yinka Shonibare etwa arbeitet in seinen Installationen mit Kleidung im europäisch-viktorianischen Stil, aber aus afrikanischen Stoffen, um den Kolonialismus anzuprangern; so stellen in „Scramble for Africa“ sechzehn kopflose Figuren in Waxprints die Berliner Kongokonferenz von 1884/85 nach. Ein ganz anderes Beispiel: zwei Kamerunerinnen in München entwerfen aus Waxprints gefertigte bayerische „Dirndl à l’Africaine“ — „ein kreativer, spannender Austausch der Weltkulturen“, wie die Designerinnen auf ihrer Webseite schreiben.

Warum erzähle ich Ihnen diese Stoff-Geschichten? Weil sie zeigen, dass sich kulturelle Traditionen aus vielen Quellen speisen und immer wieder neu angeeignet und umgedeutet werden. Kultur ist ein Gewebe aus Elementen unterschiedlicher Herkunft, mit vielfältigen Mustern und Farben. Viele Produzentinnen haben daran mitgewirkt. Unter bestimmten geschichtlichen Bedingungen blenden aber manche Gemeinschaften diesen vielschichtigen Produktionsprozess aus. Sie reklamieren sein Resultat als ihre ureigenste Tradition, die sich deutlich von der ihrer nahen und fernen Nachbarn unterscheidet. Dann wird etwa von ghanaischer Identität, deutscher Lebensart, britischer Mentalität oder französischem Habitus gesprochen, oder die europäische Zivilisation wird der islamischen Welt gegenübergestellt. Gerade heute scheinen wir in einer Zeit der Vereinfachungen und Zuspitzungen zu leben. Die Grenzen zwischen Nationen und Religionen werden fester gezogen und als unverhandelbar markiert. Auch viele soziale Bewegungen reklamieren die Differenz, um die herum sie sich organisieren — sei es Gender, Hautfarbe, regionale Herkunft, Religion oder politische Ideologie — als ihre zentrale Identität. Gruppeninterne Vielfalt wird dann heruntergespielt oder sogar geleugnet.

Doch wir haben alle multiple Identitäten. Wir gehören immer unterschiedlichen Kollektiven gleichzeitig an. Nie teilen wir mit anderen Menschen alle denkbaren sozialen Merkmale. Nie unterscheiden wir uns in jeder Hinsicht radikal von anderen Menschen. Welche Zugehörigkeit, welche Ähnlichkeit und welche Differenz gerade im Vordergrund stehen, hängt vom Handlungsfeld ab. In der Schule etwa wird nach Alter sortiert, im Berufsleben nach Leistung, in der Liebe nach Attraktivität, im Heimatverein nach regionaler Herkunft, in den sozialen Medien nach politischer Orientierung. Außerdem variiert die Wichtigkeit unterschiedlicher Zugehörigkeiten in verschiedenen Phasen unserer Biografie. Und schließlich betonen wir in verschiedenen Situationen und gegenüber verschiedenen Publika jeweils andere Zugehörigkeiten. Wer eben noch in einer Fernseh-Talkshow den teamfähigen Unternehmer gab, wird zu Hause vielleicht zum autoritären Patriarchen und in der Kneipe zum sentimentalen Karaoke-Singer. Typisch sind also Multiplizität und Ambivalenz. Hier eindeutig abgegrenzte Mitgliedschaften und eindimensionale Identitäten inklusive dazugehöriger Feindbilder herzustellen, ist enorm aufwändig. Das zeigt sich etwa in der Energie, mit der religiöse Sekten oder dogmatische soziale Bewegungen ihre Mitglieder von „verunreinigenden“ Kontakten fernzuhalten versuchen.

Hier sehe ich eine der großen Aufgaben, zu denen das Goethe-Institut durch seine weltweite Arbeit beitragen kann. Es gilt, die Kontingenz der Zugehörigkeiten offenzulegen und die Pluralität der Identifikationen zu verteidigen. Gerade angesichts der prinzipiellen Offenheit und Ungewissheit menschlicher Lebenserfahrung brauchen wir bereichernde grenzüberschreitende Begegnungen und kulturellen Austausch. Mehrsprachigkeit, wie sie das Goethe-Institut fördert, erweitert die Perspektiven auf die Welt. Künstlerische Produktionen öffnen spielerisch Möglichkeitsräume. Sie erlauben, sich die Welt auch anders vorzustellen und — im besten Fall — die gemeinsame Humanität zu entdecken.

Diese Vision von Kultur bedeutet nicht, die bedrückende Realität von Gewalt und Machtgefällen in unserer Welt zu leugnen. Immer wieder ziehen autoritäre Regierungen, intolerante Religionsführer oder skrupellose Kriegsherren rigide Grenzen, schließen Fremde aus und erzwingen unbedingte Loyalität. Die eindeutige Zuschreibung von Identitäten kann tödliche Folgen haben — man denke etwa an Racial Profiling, wie es die Black Lives Matter Bewegung brandmarkt, an antisemitische Überfälle rechtsradikaler Akteure oder die islamistisch motivierten Morde an Christen. Um in solchen Kontexten effektiv politisch zu agieren, setzen viele soziale Bewegungen und diskriminierte Gruppen temporär auf einen „strategischen Essentialismus“, um ein Konzept der Literaturwissenschaftlerin Gayatri Spivak aufzugreifen. Im Interesse der politischen Handlungsfähigkeit werden dann die interne Heterogenität heruntergespielt und die gemeinsame Identität betont. Doch Spivak sieht dies als strategisch-taktische Option auf Zeit, nicht als langfristiges Ziel.

Um eine lebenswerte und friedliche Welt zu bauen, brauchen wir — davon bin ich überzeugt — eine offene Vision von Kultur. Wir sollten uns Kultur als farbenfrohes, vielfädiges Gewebe wie die Waxprints aus Ghana vorstellen, als vielstimmiges Gebilde, veränderbar, zukunftsoffen und vor allem: die Menschen verbindend, nicht trennend. Ich freue mich darauf, das Goethe-Institut als Präsidentin künftig dabei zu unterstützen, solche Vielstimmigkeit zu fördern, Begegnungen zu ermöglichen und so an der Gestaltung einer demokratischen, gewaltfreien, toleranten Welt mitzuwirken. Das bedeutet, um mit Goethe zu sprechen, „das Unmögliche behandeln, als wenn es möglich wäre“.

Dabei geht es mir erstens um ein gemeinsames Überdenken der Rolle Deutschlands in einer postkolonialen Ära. Wir müssen lernen genau zuzuhören. Was haben uns Menschen in den ehemaligen Kolonien und generell im Globalen Süden zu sagen? Was können wir von unseren europäischen Nachbarn lernen? Wie können wir mit unseren Partnerinnen in aller Welt gemeinsam Sprach- und Kulturarbeit angehen? Wichtig sind dabei transparente Kommunikation und offene Auseinandersetzung mit den Asymmetrien, dem Machtgefälle, in dem solche transkulturellen und transnationalen Begegnungen stattfinden.

Am Herzen liegt mir zweitens der Rücktransfer der Erfahrungen, der Expertise und der kulturellen Produktionen aus den zahlreichen Standorten des Goethe-Instituts. Diese Schätze aus der ganzen Welt gilt es zu heben und hier, in Deutschland, bekannt und fruchtbar zu machen. In meiner Vorbereitung auf das neue Amt konnte ich schon einige der vielen außerordentlich interessanten Projekte des Instituts kennenlernen. Sie geben mir die Gewissheit, dass wir in den nächsten Jahren auf diesem Weg gemeinsam ein Stück vorankommen können.

Lieber Herr Lehmann und liebe Mitglieder des Präsidiums, ich bin dankbar, dass Sie mir ein so gut aufgestelltes Institut als neuer Präsidentin anvertrauen möchten. Ihre Nachfolge anzutreten, lieber Herr Lehmann, ist zugleich leicht und schwer. Es ist leicht, weil Sie wichtige Weichen umsichtig gestellt haben, gerade auch in der Corona-Pandemie, und weil Sie mir mit gutem Rat und vielen Instruktionen den Einstieg erleichtern. Es ist schwer, weil Sie die Messlatte sehr hoch gelegt haben.
Lieber Herr Ebert, lieber Herr Pollack, ich bin zuversichtlich, dass Sie mich tatkräftig dabei unterstützen werden, die in mich gesetzten Erwartungen zu erfüllen. Gemeinsam werden wir die vielen Herausforderungen meistern, die die Corona-Pandemie, aber auch das veränderte weltpolitische Umfeld für die Arbeit des Goethe-Instituts bedeuten.

Das geht aber nicht nur im Dreierteam! Ich freue mich darum auch auf die Zusammenarbeit mit den vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Instituts, auf regen Ideenaustausch und gemeinsames Lernen.

Und last but not least freue ich mich auf die Begegnungen und Kooperation mit den Kollegen und Kolleginnen des Auswärtigen Amts; mit den Abgeordneten des Bundestags, die die Arbeit des Goethe-Instituts schon so oft unterstützt haben; und mit den kultur- und bildungspolitischen Partnerorganisationen im In- und Ausland, mit denen das Institut zusammenarbeitet. Gemeinsam können wir einen farbenfrohen, vielfädigen „Stoff“ produzieren, der schützt und schmückt — wie ein Waxprint aus Ghana.

Es gilt das gesprochene Wort!
 

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